Henning
sieht mir über die Schulter, um zu erkennen, womit ich mich beschäftige.
„Ist ja
cool. Hast du das Bild gemacht?“
„Ja.“
„Wie geht
das denn? Ist der Baum da durchgewachsen? Gibt es ´ne Geschichte zu dem Bild?“
„Ja.
Natürlich gibt es eine Geschichte dazu und ich versuche sie gerade
aufzuschreiben. Fällt mir nicht so leicht. War ja 2006 als ich das Foto machte.
Ich beschäftige mich gerade mit meinem Reisetagebuch und den Fotos von damals.“
„Ja, und der
Stuhl? Wie geht denn so´was?“
„Hast du ein
paar Minuten? Ich müsste schon ein wenig ausholen, damit ich dir die Geschichte
im Groben skizzieren kann.“
Henning
liebt Geschichten, auch meine.
Meistens
jedenfalls.
Manchmal
hasst er sie auch, immer dann nämlich, wenn ihm Zweifel am Wahrheitsgehalt kommen.
Das wiederum reizt mich, gerade ihm Geschichten zu erzählen, die von
Ereignissen handeln, die so oder so ähnlich geschehen sind, jedoch so phantastisch
klingen, dass sie ebenso in das Reich der Märchen passen würden.
„Du lässt
mich aber bitte erzählen, auch wenn es dir schwerfällt? Nicht unterbrechen,
bitte, ich muss mich nämlich ganz schön konzentrieren. Ist ja schon einige Zeit
her.“
„Ja klar,
kennst mich doch!“
„Ja, ja,
deshalb ja meine Bitte. Also 2006 waren wir mit dem Fahrrad für einige Tage im
Lahema Nationalpark ca. 80 km nordöstlich von Tallin. Wir hatte Quartier im
Parkhotel auf dem wunderschön restaurierten Gutshof Palmse mitten im Nationalpark.
Bis das Gut mit der Unabhängigkeit Estlands 1918 enteignet wurde, gehörte es
der baltischen Adelsfamilie von der Pahlen. Glaube ich jedenfalls. Auf unserem
ersten Rundgang durch die gepflegte Hofanlage mit Herrenhaus,
landwirtschaftlichen Wirtschaftsgebäuden, Orangerie und Park begegneten wir einem
netten Herrn. Kann sein, dass er 75 war oder auch schon 10 Jahre älter. Wir
kamen ins Gespräch, auf Deutsch. Herman Kaljurand, vielleicht auch Kaljuwand,
so stellte er sich uns vor. Sein Deutsch erinnerte mich an Elisabeth
Lissautzky, einer Baltendeutschen, die in den 60er Jahren eine Zeit in meinem
Elternhaus zur Miete wohnte.
Auf die
Frage, woher er so gut Deutsch könne, gab er zur Antwort, dass er zu einem
Viertel oder vielleicht auch zur Hälfte deutscher Abstammung sei. Mutter und
Großmutter hätten viel auf Deutsch mit ihm gesprochen. Nach 1944 dann nur noch,
wenn sie alleine - unter sich sozusagen – waren. Und dann wurden sie
Sowjetbürger mit estnischer Nationalität. Deutsch habe er erst wieder in der
Öffentlichkeit angefangen zu sprechen, als Estland 1991 zum zweiten Mal
unabhängig wurde und die ersten deutschen Touristen sich nach Palmse verirrten.
Heute würde
er sich gerne ein bisschen zur bescheidenen Rente hinzuverdienen als
Fremdenführer in Palmse. Es gäbe ja
schließlich niemanden sonst noch, der hier geboren wurde und so gut über das
Gut und seine Geschichte Bescheid wisse.
Herman
Kaljurand machte einen so netten Eindruck und wir taten, was er sich von der
ersten Minute unserer Begegnung erhofft hatte: Wir engagierten ihn! Und bereuten die 10 Euro, die ich ihm zu geben
beschlossen hatte, nicht einen Moment. Selten habe ich eine derart
unterhaltsame und informative Führung erlebt.“
„Und der
Stuhl? Was…“
„Du wolltest
mich doch nicht unterbrechen. Zum Stuhl kommen wir noch.
Ja
eigentlich kann ich gleich vom Stuhl erzählen.
Am Ende der
Führung durch den Gutskomplex schaute Herman, so sollten wir ihn inzwischen
nennen, auf die Uhr und meinte, dass noch Zeit für einen kleinen Abendspaziergang
durch den Park sei. Das kam uns gelegen, und während Herman noch von der
Fischwirtschaft früherer Jahrhunderte in den zahlreichen Teichen rund ums
Herrenhaus sprach, entdeckte ich diesen Stuhl etwas abseits des Weges. Während
ich noch dachte, dass ein Stuhl hier im Park vom Gebüsch leicht verdeckt etwas
ungewöhnlich sei, erfasste ich, dass dort, wo einst einmal eine Sitzfläche
eingezogen war, ein Baum gewachsen war. Herman bemerkte, dass ich abgelenkt
war, sah den Stuhl und führte uns dorthin. Tatsächlich war ein Baum mit
beträchtlichem Umfang durch den Stuhl hindurchgewachsen. Während ich noch
grübelte, was hier geschehen sein könnte, begann Herman Kaljuward die
Geschichte von dem Stuhl zu erzählen. Ich versuche sie wiederzugeben.“
„Ich, ich ganz persönlich habe diesen Stuhl
im Sommer 1944 hier abgestellt. Die Rote Armee hat Palmse kampflos besetzt,
nachdem die Deutschen sich fluchtartig in Richtung Reval oder Tallin zurückgezogen hatten. Bevor es zu sinnloser
Zerstörung und Plünderung durch die Rotarmisten kommen konnte machte Oberst
Jewgenni Kimowitsch Gasparow das Herrenhaus zu seinem vorübergehenden
Hauptquartier. Was für ein Segen für mich und die Menschen, die hier lebten.
Dieser Oberst war ein guter Mann. Er ließ den Leuten das wenige Vieh, das sie
besaßen und sorgte dafür, dass die Kinder nicht hungern mussten. Der Krieg
schien ihn und seine Einheit hier in Mitten des Waldes vergessen zu haben. Ich
war 13 Jahre und freute mich, dass ich keine Schule hatte und der Oberst mich
zu seinem persönlichen Adjutanten erklärte. Er sprach Deutsch und las oft in
den Büchern, die die deutschen Offiziere bei ihrem plötzlichen Rückzug
hinterlassen hatten. An einem schönen Spätsommertag bat er mich, einen der
schweren Eichenstühle mit der geflochtenen Sitzfläche in den Park zu schaffen.
Dort hat er dann sehr oft gesessen, gelesen, geraucht oder einfach nur in die
Gegend geschaut.
Irgendwann hat man sich dann wohl in der
Armeeführung daran erinnert, dass da irgendwo im Lahema noch der Oberst mit
seiner Einheit liege. Die Spitze der Roten Armee stand an der Deutschen
Reichsgrenze und Deutschland sollte nicht ohne den bewährten Jewgenni
Kimowitsch Gasparow bezwungen werden.
Es war ein traurig herzlicher Abschied. Alle
hier hatte den Oberst ins Herz geschlossen. Als er sah, dass mir die Tränen
übers Gesicht liefen, meinte er, ich solle auf alles gut aufpassen. Der Stuhl
könne im Park stehenbleiben und wenn Berlin gefallen sei, würde er zurückkommen
und weiterlesen.
Ich habe aufgepasst.
Auch auf den Stuhl. Monat für Monat.
Berlin fiel und ich erwartete im Sommer 1945
täglich die Ankunft des Obersten.
Er kam nicht.
Das Sitzgeflecht rottete durch und fiel auf
den Waldboden. Niemand interessierte sich für den Stuhl. Der Park verwilderte
mehr und mehr. Irgendwann bemerkte ich den jungen Kiefertrieb, dessen Spitze
schon über die Rückenlehne ragte. Die Kiefer wuchs durch den Sitzrahmen des
Stuhles.
An die Rückkehr des Obersten glaubte selbst
ich dann irgendwann nicht mehr.
Er ist wohl tatsächlich nie wieder hier
gewesen.
2002 beaufsichtigte ich die Arbeiter, die
den Auftrag hatten, die überwucherten Wege im Park freizumachen. Als einer der
Arbeiter den Stuhl entdeckte, kamen wir alle hier zusammen. Als Raivo sich anschickte den Stuhl kaputt zu treten,
hielt ich ihn zurück und erzählte, dass das der Stuhl des `guten Obersten von
Palmse´ sei. Von dem Obersten, dem ich im Herbst 44 versprochen hatte, auf
alles acht zu geben, bis er wieder zurück sei. Niemand traute sich nach meinen
Worten dieses zarte Stuhlgerippe zu zerstören. Irgendwie genießt der Stuhl hier
Denkmalstatus. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihn immer schön
freizuschneiden und, wenn es gewünscht wird,
von ihm zu erzählen. Die Geschichte, wie der
Baum in den Stuhl oder der Stuhl um den Baum gekommen ist.
Wie jetzt eben.
Wenn euch die Geschichte gefallen hat,
erzählt sie gerne weiter.
Es gibt ja nicht viele gute Geschichten vom
Krieg.“
„Ja, schön,
dass wir mit Herman zusammengetroffen sind. Wobei es wohl nicht so ganz
zufällig war. Herman war nicht unerfahren. Er konnte erkennen, wer aus
Deutschland kommt und hatte wohl auch schnell gelernt, was wir Deutschen gerne
hören.“
Henning sieht
mich nachdenklich an.
„Hm, die
Geschichte hättet ihr sonst nie erfahren.“
„Stimmt. Und
du dann auch nicht.“
„Hast recht.
Eine schöne Geschichte. Wenn du sie mir erzählt hättest und nicht Hermann, ..“
„Was dann?“
„Ich hätte
sie vielleicht nicht geglaubt.“
„Kannst mal
sehen.
Henning…?“
„Ja.“
„Seit wann gibt es wohl IKEA in Estland?“
„Weiß nicht.
Wieso?“
„Siehst du
die Schraube da oben an der Rückenlehne des Stuhles?“