In Dröbermoor leben drei Generationen
noch unter einem Dach ohne dass es sich um ein mit EU Geldern gefördertes
Wohnprojekt handelt. Einfach so, wie es immer war.
So auch bei den Tietjes. Hermann und
Heike Tietje leben mit Sohn Hinrich in der einen Wohnung und Oma Else Tietje
hat die kleine Einliegerwohnung nach hinten raus zum Gemüsegarten, den es
übrigens ohne sie schon lange nicht mehr geben würde. Hermann und Heike fahren
nämlich an fünf Tagen in der Woche nach Stade zur Arbeit. Da bleibt keine Zeit
für das Gemüse. Heike und Hermanns
Lebensplan sah auch nach Hinrichs Geburt keine langen Pausen vor. Tilgungsraten
für den Hausumbau, die zwei Autos und die Urlaubsreisen sogar bis in die
Karibik nehmen keine Rücksicht auf Kinder. So passte es nur zu gut, dass Oma
Else mit im Haus lebte.
Neider, ganz besonders die, die keine
Omas und Opas in ihre Kinderaufzucht integrieren können, sprechen immer schnell
von Seniorenausbeutung.
Ist aber nicht so!
Na ja, nicht immer.
Bei den Tietjes in Dröbermoor
zumindest nicht. Hier haben wir eine klassische „Win Win“ Situation. Heike und
Hermann können Geld ranschaffen, abends ausgehen oder eine Woche ohne Kind mit
dem Kegelverein nach Gran Canaria fliegen. Außerdem konnten sie zwei Jahre KiTa
Gebühren sparen und brauchten sich bis heute nie um die Hausaufgaben von
Hinrich kümmern.
Oma Else hatte nach dem Tod von Opa
Erwin neben dem Gemüsegarten und der Wäsche für die ganze Familie nun auch noch
den kleinen Hinrich, ihren „lütt Schietbüdel“ oder „Sünnschien“.
Oma und Hini verbrachten die meisten
Stunden des Tages gemeinsam. Oma Else hat der Jung es auch zu verdanken, dass er zweisprachig
aufgewachsen ist. Else hat vom ersten Tag
Platt mit ihm gesprochen. Nur wenn Mama und Papa zu Hause waren, wurde
Hochdeutsch gesprochen. Else hat all ihr Wissen und ihre Ansichten bewusst oder
unbewusst an den Jungen weitergegeben. So konnte er schon mit acht Jahren
Rührteig machen, alleine Eier aus dem Stall holen oder beim Bohnen legen und
Erbsenbusch stecken helfen. Das Gemüse in seinem kleinen Kindergarten wuchs
nicht schlechter als das von Oma Else. Seinen Opa Erwin kannte er so gut, als wäre
er nicht schon vor seiner Geburt gestorben. Wie oft begannen Omas Geschichten
mit den Worten „Als Opa Erwin noch lebte,…“.
Hini und seine Oma lachten und
weinten zusammen.
Damals, als Grete von nebenan über
den Zaun rief: „Else kanns mool in Grooben bi Wienbarch kieken. Dor
licht´n swatte Katt. Süht ut as dien
Mohrle.
Süht verdammt no´n Unfall mit´n Auto ut.“
Oma Else und Hini sind dann gleich
hin, mit der Schubkarre. Es war Omas Mohrle, die Mohrle, die immer so wunderbar
auf Hinis Schoß schnurrte, wenn er auf Omas Sofa saß und fernsah. Als Oma ihre Mohrle eindeutig Identifiziert
hatte und auf die Karre legte, war es mit Hinis Fassung vorbei. Er begann
bitterlich zu weinen.
„Oma, is de Mohrle nu för alle Tieden
dood?“
„Jo, mien Jung. De schall nu woll in
Kattenheeben ween. Viellicht dröpt se dor jo Opa Erwin.“
„Oober Opa is doch keen Katt, Oma.“
„Nee hest jo recht, oober ick glöv,
dat dat ohnhin nur een Heeben gift för de Dierten as wi för de Minschen. Un,
wenn dat so is, dann find sick Opa un Mohrle viellicht doch.“
Oma Else wischte sich Tränen aus den
Augen.
„Nütz allns nix, Jung. Hört wi op mit
dat Geblarr. Wi möt Mohrle ´n scheunen
Platz in Goorn söken. Een Oort, wo wi er
begroben künnt un wo se ewigen Freden fin.“
Sie einigten sich auf ein Grab unter
dem alten Quittenbaum.
Mohrles Tod sorgte immer wieder für
ernste Gespräche zwischen Oma Else und ihrem Enkel. Gespräche über die
Endlichkeit des Lebens und das, was wohl nach dem Tode kommt.
„Oma, ick bin trurich.“
„Worüm, wegen Mohrle?“
„Jo, ook. Oober…“
„Oober wat? Schnack wieter, Jung.“
„Du büst all soo oll, Oma.“
„Joo, dat stimmt. Oober dat is all lang keen Grund taun trurich
ween.“
„Oole Minschen bleevt doot, Oma.
Stimmt doch?“
„Joo Hini.“
„Dann mötst du ook starven. Un dat
mookt mi trurich, Oma.“
„Ach wat, Hini Jung, nu wees man nich
trurich. So fix wull ick eegentlich nich noo Opa hen. Geiht jo ook gor nich.“
„Worüm geiht dat nich?“
„Wieldes dann keen dor is, de di dien
Büxen wascht un flickt oder dien Schoolopgooben kontrolleert.“
„Oober irgendwann is dat doch bi di
ook mool so wiet? Un dat mookt mi truurich!“
„Joo, so is dat. Irgendwann röpt de
leewe Gott uus all tau sick in Heeben. Un, wenn dat dann mool so wiet is, mötst
du nich trurich ween. Ick sitt dann dor booben op´n Wolk un kiek rünner op de
Eer. Un, wenn ick seh, dat du Unrecht´s doost oder slecht öber dien Oma denkst.
Dann spei ick di op´n Döz!“
Sie lachten bei der Vorstellung, dass
Oma Else von einer Wolke herab auf ihren Enkel spucken würde.
Ein anderes Mal bemerkte Hini, wie
seine Oma beim Lesen der Todesanzeigen mit sich sprach.
„Walli Hinck ook all doot bleeben.
Twee Johr jünger as ick un secht keen Piep un keen Papp mehr!“
Oder:
„Süh an, Käthe Bloohm is dree Johr
öller worn, as ick nu bün. Dann heb ick
jo noch dree Johr. Wat har de veele Kinner un Enkelkinner hat. Un een
Traueranzeich vun Gesangvereen Kolbingerhooben un een vun de Schützen.
Viellicht schall ick ook noch in Scheetvereen inpedden. Mookt sick doch nich
slecht in`e Zeitung.“
„Oma, hest du eegentlich Angst. Ick
meen ob du bang büst vun wegen doot bleeben?“
Oma Else nimmt sich ein wenig Zeit
bevor sie antwortet.
„Nöö, so richtich bang bün ick nich.
Nöö, de Herrgott ward dat all schon ergendwie fügen, Hini.“
„Oober soon lütt büschen bang bist du
doch, woll?“
„Nee ick bün nich bang wegen Dood as
solken. Ne dat nich.“
„Oma, wat is dat denn?“
„Hini, mien Jung, kannst du swiegen?“
„Na kloor, Oma.“
„Weetst du, Hini, wo ick för bang
bün? Nich för´t starven. Nee. Bang bün ick, dat ick viellicht nich richtich
doot bün. Dat de Doktor mi doot schriewt. Scheintod secht se dortoo. Dat se mi
in Sarch packt un inbuddeltt un ick dann 180 cm ünner de Eer opwaken dee un kum
nich rut ut de Kist. Versteihst?“
„Jo Oma. Un so wat givt dat in
Leewen?“
„Jo, allns schon passeert.“
Hini macht ein nachdenkliches
Gesicht. Plötzlich entspannt es sich.
„Oma, möötst nich länger bang ween.
Ick hebb dor soo´n Idee. Mit
Alarmanlooch oder soo. Loot mi mool moken. Ick hebb dor all wat in mien
Breegenkassen.“
„Ach Hini, mien Schietbüdel, wonehm
hest du bloots all de spinnerten Gedanken?“
Die eben noch verzweifelte Oma
lächelt ihren Enkel an.
Ein paar Tage später.
Oma Else und Hini sitzen auf der
Küchenbank. Hini rechnet die letzte Aufgabe, als er plötzlich die Arbeit
einstellt.
„Oma ick hebb´n Lösung för dien Problem mit den Sarch. Wi
brukt ´n Barch Göld un Tied. Joo Tied
brukt wie, jede Menge Tied.“
„Na, denn loot de Katt man ut´n
Sack.“
„Oma, du mötst nu´n beeten Geduld
hem, dröffs mi nich jümmer ünnerbreeken. Geiht dat klor?“
„Jo, man tau!“
„Also de Idee keem mi hüüt in´e
Geschichtstünn. Herr Peters hett uus vertellt vun´t Grav vun Tut Anch Amun mit
all de kostboren Grav Biloogen.“
„Un wat hebb ick mit denn ollen
Ägypter tau doon?“
„Ooooma, wat hebb ick di secht?
Eenfach mool stillswiegen.“
„Jo, ick will mi bemöhn.“
„Oma du kriss ok´n Gravbiloog. Nich vun Guld un so. Is man
bloots een Samsung. Soon Handy as wi dat, dat mine Öllern mi tau Wiehnachten
schenkt hebt. Givt dat för 82 Euro in Internet. Oohnst wat, Oma? Begriepst du,
wat ick denk?“
„Wat het dat Handy mit Tut Anch Amun
tau doon?“
„Oh Oma, manchmool büs du ganz scheun
swoor vun Kapee! Wenn du in dien Grav opwooken deist, langst du na dat Handy un
röpst mi an oder denn Notruf. Ne, beeter mi. De glövt di bestimmt nich in de
Leitstell in Stood, wenn du jem vertellst, dat du den Notruf ut´n Grav op´n
Karkhoff vun Kolbingerhooben afsett hest. Nee, Oma, du röpst mi an. Kapiert?“
„Jo ick kapier wohl oober ick kann
keen Handy. Bün man froh, dat ick dat mit dat swatte Telefon mit de Dreihschiew
bi mi in de Stuv kinkreegen hebb.“
„Keen Probleem. Vun morn an trainiert
wie en Stünn an Dach Handy. Ick bün dien Trainer. Hüt künnt wie noch dat Galaxy
vun Samsung bestillen in Internet. Ick mook dat allns, brukst an Enn nur dien
Kopp hinhoolen.“
„Op dat nu richtich is weet ick nich.
Hebb sülbst oober ook keen beetere Idee.“
Zwei Tage später brachte Hein Tessloff
das Päckchen mit Omas neuem Handy. Sie konnte sich noch gerade beherrschen bis
Hini aus der Schule kam. Dann öffneten sie das Päckchen. Nix hatte sich am
Samsung seit Weihnachten verändert.
„Oma, ick richt di dat nu eersmool in
un dann fangt wi an mit Training.“
Oma nickte und ergab sich in alles,
was ihr 11jähriger Enkel von ihr verlangte.
Das war nicht ihre Welt.
Noch nicht!
Schon nach der ersten
Trainingseinheit traute Oma Else sich, ihren „Schietbüdel“ anzurufen statt ihn
durch das offene Küchenfenster zum Abendbrot zu rufen. Schnell lernte sie die
Vorzüge des Telefonbuches kennen. Hini hatte dort alle ihre wichtigen Nummern
eingegeben. Viele waren das nicht. Zu den meisten Menschen, mit denen sie sich
etwas zu sagen hatte, konnte sie ja mal eben hingehen. Schwieriger wurde es,
als das Kapitel SMS und Sprachnachrichten dran war. Dank Hinis unerbittlichen
Bemühungen nahm sie aber auch diese Hürde. Irgendwann, bald schon, wechselten
fast täglich Kurznachrichten zwischen ihr in Dröbermoor und ihrer 14jährigen
Enkelin Nadine in Hamburg Lokstedt.
„Kiek mool Hini, Nadine het mi eben´n
SMS schickt mit Bild. Kann ick datt ok?“
„Jo Oma, dat künnt wie hüüt mool
öben. Un dann kann ick di noch Wottsepp rünnerlooden. Denn kans nämlich Biller
un Norichten verschicken ohne tau betoolen.“
„Wat allns gift, Hini!“
Jeden Tag lernte Oma Else wieder
etwas Neues. In Verbindung mit Fotos verschicken hatte Hini ihr den Umgang mit
der Handykamera beigebracht. Schnell füllte sich ihre Handygalerie mit
unzähligen Hühnerfotos und Stilleben von frischgeernteten Salatköpfen und
Mohrrüben. Als sie Grete Schlobohm am Bäckerwagen ihren ersten Dokumentarfilm
von neun Legehennen und einem Hahn im Auslauf zeigte, verstummte die erst
einmal fassungslos.
„Nee Else, wat du allns kanns?!“
„Jo“, antwortet Else mit Stolz, „un
wenn du di ook soon Handy köffst, schick ick di mool ´n Wottsepp mit Text un
Bild.“
„Dor kummt woll nix na, dat lern ick nie
nich mehr.“
„Wes man nich so bang, ick bün dree
Johr öller as du un har dat ook noch leert.“
Aus dem Brotbeutel erklingt die
„Blaue Elise“.
„Oh, mien Handy bimmelt. Is Hini. He
hett´n SMS schickt un froogt, wann ick mit de Rundstück komen dee. De Schoolbus
föhrt in fiefuntwintich Minuten. Nu ward oober Tiet. Tchüß ook Grete.“
Grete bleibt noch einige Sekunden wie
versteinert stehen, bevor sie sich auf den Weg ins Haus macht.
„Mööt dat denn allns ween hüüt tau
Doochs“, denkt sie, während sie mit ihrer alten Einkaufstasche über den Patt zu
ihrer Haustür watschelt.
Ein paar Tage später sitzen Oma Else
und Hini am Mittagstisch.
„Du Oma.“
„Jo min Jung.“
„Mi döcht, dat du nu woll fit büst
mit din Handy. Wart tiet, dat wi nu´n Ploon förn Ernstfall mookt.“
„Wat meenst mit Ernstfall?“
„Oooma, worüm hebt wi dat allns mookt
mit dat Handy? All vergeeten? Scheintod un so!“
„Ach jo, har ick schon gor nich mehr
an denkt. Jo, un wat förn Ploon? Also woför bruuk wi dat noch?“
„Oma Gravbiloogen kennt wi hier nich.
Ick har noch keen Dunst nich, as wie ick dat Handy in Sarch kreegen schall.
Oober dor fallt mi noch wat in. Wi mookt eerst mool ´n Öbung. Lech di mool op
dat Sofa mit dien Krüz op dat Polster jüst so as in Sarch un diene Hann de
packst du öber Krüz op diene Boss.“
Ganz geheuer war Oma Else diese Ernstfallübung nicht, aber
sie tat, was ihr Enkel verlangte. Als alles zur Zufriedenheit von Hini
arrangiert war, holte er Omas Pillentasche und schüttete den Inhalt auf den
Stubentisch.
„Jung, hör op, wat schall dat?“
„Ick bruk´n Platz för dat Handy, een
Platz denn du ook in Dustern weller erkennen kannst. Un ick harr dor son Idee.“
Er zwängte das Handy in die Tasche,
einen zweiten Akku und die Pillen noch dazu. Der Reißverschluss ließ sich man
so gerade eben noch schließen.
„So Oma, nu fangt Deel twee vun uuse
Öbung an. De Tasch mit dat Handy liggt an diene rechte Siet. Loot diene rechte
Han foolen un du hest de Tasch.
Probeer mool.
Un nu kanns de Tasch mit´n beeten
Hölp vun de linke Han open mooken. Jo so is goot!“
Oma macht alles, wie Hini angeordnet
hat.
„Oh nee, harr ick mi doch furts
dacht. Taueerst rüscht mi all mine Pillen wech!“
„Nich so slimm, de bruukst du in denn
Momang nich. Du wull doch rut ut de Kist, oder?“
„Jo, wenn du dat so seggst. Un dat
hier, wat is dat?“
„Reserveakku Oma, dat öövt wi noch.
Nu nimm mool dat Handy un röp mi an.“
„Wieso, du büst doch hier. Wie künnt
doch schnacken.“
Hini verdreht die Augen.
„Oma, du liggst in Saarch, hest du
dat forgeeten?“
„Ach jo, un nu schall ick di anropen?
Mööt dat ween?“
„Jo Oma, wi öövt dat allns so as in
Ernstfall. So ist dat nu mool bi een echte Ööbung.“
Hinis Handy klingelt.
„Hini Tietje hier un keen is door?“
„Nu bölk doch nich so. Hier is dien
Oma in Saarch op´n Karkhoff. Goot so?“
„Jo ganz goot. För´n Anfang tauminst.
Hest du Licht in dien Saarch, Oma?“
„Nee, wo givt denn so wat?“
„Sühst du! Nu ward in Dustern
traineert. Ick bind di de Oogen dicht. So, kann doch dine ollen wullen Strümp
mit de Lökers vun Neihdisch nehmen?“
Und schon liegt Oma mit verbundenen
Augen und gefalteten Händen auf dem Sofa, das Handy griffbereit neben sich in
der kleinen bestickten Pillentasche. Zwei Mal hat es jetzt schon ganz gut
geklappt. Das letzte Mal hat Hini nicht mehr abgenommen. Das fand Oma Else
nicht gut, weil sie inzwischen gelernt hat, dass bei einer Ernstfallübung alles
ganz echt sein muss.
Und dann passiert, womit keiner
gerechnet hat. Grete Schlobohm will Else besuchen. Und wie sie es immer macht,
wenn sie rüberkommt, legt sie beide Hände an den Kopf, drückt ihr Gesicht gegen
die Stubenscheibe, um zu gucken, ob Else wohl irgendetwas Neues in der Stube
hat.
Was sie heute sieht, schlägt ein wie
ein Blitz. Da liegt ihre Nachbarin aufgebahrt auf dem Sofa mit gefalteten
Händen und verbundenen Augen. Der Jung sitzt neben seiner Oma und guckt auf
sein Handy, als wüsste er nicht, was zu tun sei. Schnell humpelt sie zur Tür, zwei
Schritte weiter und sie steht in der Stubentür.
„Hini mien Jung, wat is? Is dien Oma
doot bleeben?“
„Nee Tante Grete, noch nich richtich.
Oober lang wart nich mehr duern…“
Die Erklärung hörte Grete nicht mehr.
Sie war schon auf dem Weg zur Tankstelle schräg gegenüber, um zu erzählen, dass
Else im Sterben liegt und ihr Enkel mit dem Handy neben ihr sitzt, um seine
Eltern zu benachrichtigen.
„Wi mööt uuse Noobers hölpen“, sagt
Seniorchef und eilt rüber zu Else Tietjes Haus. In seinem Gefolge der Lehrling,
eine Kundin aus der weiteren Nachbarschaft und, mit etwas Abstand, Grete
Schlobohm. Gerade, als sie im Flur standen hörten sie Elses kräftige Stimme aus
der Wohnstube:
„Hier is dien Oma ut´n Saarch
op´n Karkhoff. Hol mi hier furts rut.
Dat is hier duster und kolt is dat ok.“
„Jo Oma, biet de Tähn tohoop, schluck
een vun diene Kreislaufpillen un kiek so lang de Billers op dien Handy an. Ick
kümmer mi üm allns. Ciao Oma!“
Leise schleichen sich die Nachbarn
wieder aus dem Haus. Willem Steenbarg von der Tankstelle spricht aus, was alle
denken:
„Nu is so wiet. Keen har dat denkt,
dat dat so fix geiht. Güstern weer se noch ganz kloor in Kopp. Wi mööt mit
Heike un Hermann schnacken. Wenn Else so mall in Kopp is, kanns se doch nich
denn ganzen Dach mit denn Jung alleen in´t Huus looten.“
Sonntag nach dem Mittagessen fragt
Heike Tietje Hini und ihre Schwiegermutter, ob ihnen etwas an Willem Steenbarg
aufgefallen wäre.
„Nö“, kam es wie aus einem Munde.
„Der hat mir gestern so wirres Zeug
erzählt. Oma hat aus dem Sarg vom Friedhof angerufen und ich sollte mich mal um
sie kümmern. Hermann, wir sollten vielleicht mal mit Gerda und Heinz reden.
Willem wird langsam etwas wunderlich. Sie sollten ihm besser die Tankstelle
nicht allein anvertrauen, wenn sonst keiner aus der Familie da ist.“
„Ja, Donnerstag fahren wir ja
zusammen zum Kegeln. Da sprechen wir das mal vorsichtig an.“
Kaum, dass Oma und Hini allein waren,
rätselten sie, wie Willem Steenbarg an Informationen über ihren Geheimplan
gekommen sein mag.
„Dor mööt wolle een luschert hebbn.
Anners kann ick mi dat nich verkloorn“, spricht Oma vor sich hin. „Grete
viellicht?“
„Is hüüt noch mool Training, Hini?“
„Jo Oma. Noch´n ganz wichtige Ööbung.
Akkuwesseln in Dustern!“
„Akkuwesseln?“
„Jo, Akkuwesseln un Pin code butenkopps
leern. Ganz wichtig!“
„Worüm?“
„Dat kann ween, dat du eerst twee
oder dree Dooch na de Beerdigung opwooken deist. Un nu stell di vör, du wullst
mi anropen un dann, jüst dann, mookt dien Akku schlapp!? Un na´n Akkuwessel
brukst du din Pin Code. So is dat nu mool.“
Auch diese Übung saß nach einigen
Tagen perfekt. Hinis Kommandos hörten sich an, als würde auf dem Kasernenhof
Rekruten drillen.
„Licht ut! Handy ut de Tasch! Deckel
rünner! Akku rut! Neegen Akku rin! Pin ingeben! Hinis Nummer anropen!“
Oma war fit im Handy. Besser als
manch einer von Hinis Klassenkameraden.
Oma Else hatte keine Angst mehr vor
dem Sterben. Der Ernstfall konnte kommen.
Hini hatte schon seinen 12.
Geburtstag gefeiert. Oma Tietje beherrschte ihr Handy meisterhaft.
Ernstfallübungen führten Oma und Enkel nur noch in unregelmäßigen Abständen
durch. Inzwischen vergisst Oma auch nicht mehr ihr Calzium Präparat zu
schlucken. Immer am Donnerstagnachmittag pünktlich um 15.30 Uhr klingelt der
Handywecker mit der „Blauen Elise“. Hat Hini ihr eingestellt, weil sie die
Melodie so gern hat. Also, wenn die „Blaue Elise“ Donnerstagnachmittag ertönt,
geht Oma Tietje zum Küchenschapp, murmelt etwas wie: „Is all weller so wiet? De
Tiet de rast as ´n D-zug.“
Ja, seit Oma Else den Handywecker
entdeckt hatte, vergaß sie die Pillen nicht mehr.
Und dann? Dann ist es passiert mitten
in einer Sendung über den neuen Präsidenten von Amerika. Oma Else mochte ihn
partout nicht. Immer wenn er in den Nachrichten zu sehen war, regte sie sich
fürchterlich auf.
„Nee, so een Keerl ohne Manieren, und
denn noch de Frisuuuer. Süht doch ut as har he een Toupet ut dat Fell vun
Eekkoter. Het jo nur Flusen in un op´n Kopp. Grapscht de Fruunslüe an´e Boss un
an Moors. Nee, Präsident hin, Präsident her, dat Swienigel kümmt mi nich in´t
Huus.
Wi sünd froh, dat de Muer in Berlin
wech is un hei wull nu een poor dusend Kilometer lange Muer eenmool quer dör´n
Kontinent buun. Givt denn so wat! Hini mark di de Visasch. Wenn de bi uus an de
Huusdöör bimmelt, sechst du `Mien Oma is nich tau Huus un sleis de Döör dicht!“
Als Hini in die Stube kam, glaubte
er, dass Oma vor dem laufenden Fernseher eingeschlafen sei. Donald Trump warf
gerade verzweifelten Puertoricanern, die von ihrem Präsidenten nach dem
schweren Hurrican Wasser, Nahrung und Geld erhofft hatten, Päckchen mit
Haushaltspapier Rollen zu.
Ob es das nun war, was Oma den Tod
gebracht hatte, lässt sich nicht eindeutig sagen. Als der Doktor kam, um den
Tod festzustellen, saß die Oma immer noch auf dem Sofa mit der rechten Hand auf
der linken Brust.
„Herzversagen“, sagte der Doktor aus
Friedeberg und stellte den Schein aus.
Noch vor Mitternacht kam der alte
Grabowsky mit dem nur wenige Jahre jüngeren Altgesellen Henry Schmidt von der
Tischlerei Grabowsky und Sohn. Tischlerei und Beerdigungsunternehmen liegen
hier noch häufig in einer Hand, obwohl die Särge inzwischen fast alle aus
polnischen Fabriken kommen. Grabowsky sagt immer: „För dat Göld kann ick keen
Geselln an´e Maschin stelln.“
Hini verfolgte aufmerksam die
Vorbereitungen und den Abtransport der Oma. Grabowsky ging noch einmal mit
seinem traurigsten Gesicht von einem zum anderen und wünschte herzliches
Beileid. Schmidt saß schon im Leichenwagen, der so alt war, dass er auch mit
dem steuerbegünstigten Oldtimerkennzeichen hätte fahren dürfen.
Zum Schluss drückte Grabowsky Hini
die Hand.
„Doot mi Leed mien Jung. Bileed!“
Hini folgte ihm zum Auto.
„Herr Grabowsky.“
„Jo.“
„Künnt Se dat Päckchen in Sarch vun
miene Oma packen?“
Der beugt sich zu dem Jungen runter
und flüstert fast.
„Nee mien Jung, geiht nich. Is in
Dütschland nich erlaubt. Dat dröff ick nich.“
„Doch, dat mööt Se mooken. Eenmool
´n Uutnoohm. Ick har dat mien Oma
versproken, dat ick ehr ehre Pillen mit
op de Reis geev. Dat wür se beruhigen för de eersten Dooch. Looter kricht se
woll wat in Heeben. Ick geev mien Ehrenwör un se weer beruhigt. Wenn ick nich
dorvör sorgen dee, dat se eehre Pilln ha, kann ick mien ganzet Leeven nich mehr
glücklich ween.“
„Na denn, giv man her. Oober keen Wör
tau nüms nich! Is dat kloor?“
„Klor!“
Ohne dass jemand aus der Familie es
gewahr wurde, wechselte Oma Elses Pillentasche in die Hand von Hannes
Grabowsky.
Die nächsten Tage musste im Hause
Tietje viel organisiert werden. Herman Tietje fragte immer mal wieder, ob
irgendjemand Omas Handy gesehen hätte.
„Ruf sie doch mal an“, meinte Heike.
Als sie Hermanns vorwurfsvollen Blick
sah, wusste sie schon, was sie da soeben gesagt hatte.
„Na ja, ich meine natürlich ihr
Handy.“
Hermann ruft Omas Nummer auf seinem
Handy auf, Heike geht lauschend durch Omas Wohnung.
„Gibt es denn ein Zeichen?“
„Ja, ihre Mailbox geht an.“
Hermann wiederholt Elses Worte.
„Moin, moin. Ick bün jüst nich bi
mien Handy viellicht bün ick in Goorn, bien Bäckerwoogen oder de Heuhner
füttern. Oder ick bün viellicht noch ganz wo anners. Wull du mie wat vertelln,
kanns dat no denn Piep mooken oder du kummst eben mool rööber.“
Piep!
„Modder, ick wull nur mool eben
weeten, wo du dien Handy hest.“
Hini und Heike konnten sich kaum
einkriegen vor Lachen. Hermann brauchte ein wenig bis er begriff hatte, dass er
von seiner Mutter keine Antwort bekommen würde.
Donnerstag wurde Else Tietje zu Grabe
getragen. Fast ganz Dröbermoor folgte dem Sarg von der Kirche zum Friedhof.
Einige ältere Herren trugen einen Zylinder wie es ganz früher noch üblich war.
Die Kirchturmuhr schlug einmal, es war halb vier.
Um 16 Uhr saßen die Sargträger bei
Harry am Tresen und tranken ihr Freibier, das sie sich nach jeder Beerdigung
mit Firma Grabowsky und Sohn hier abholen durften. Otto Zimbalsky, der noch
einigermaßen gut hören konnte, fragte in die Runde:
„Hebt ji de „Blaue Elise“ hört, as de Karkenklock
halvich veer bimmelt het?“
Nein. Von den alten Männern hatte es
niemand gehört und überhaupt was ist das für eine komische Frage?
„Prost!“
Aber jemand anders hatte die „Blaue
Elise“ gehört.
„Danke Herr Grabowsky“, flüsterte
Hini als der Bestatter ihm am offenen Grab seiner Oma ein erneutes Mal sein
Beileid aussprach. Grabowskky zwinkerte ganz kurz mit einem Auge und antwortete
mit einem kurzen Händedruck.