Mittwoch, 30. November 2016

Ich habe den russischen Botschafter getroffen



Ich sitze bei Norbert am Stubentisch.
„Na, haste mal wieder eine neue Geschichte?“
„Ja, aber du glaubst mir meine Geschichten ja nicht mehr.“
„Na ja, ich weiß manchmal wirklich nicht mehr. Also die mit Merkel die hast du dir doch ausgedacht?!“
Ich zucke mit der Schulter.
„Na und, gibt es eine  Geschichte?“
„Ja. Ich habe den russischen Botschafter getroffen.“
„Ne, hier in Freiburg, oder. Da hast du aber schon bessere Geschichten gehabt.“
„Du bist ja schon genau so, wie Hans-Werner Hellwege.“
„Wie ist der denn?“
„Na eben, wie du. Glaubt mir auch nicht. Dabei ist die Geschichte mit dem Botschafter total wahr.“
Seine, also Hans-Werners Frau erinnert sich, dass ich tatsächlich in der letzten Woche zwei Tage allein verreist war.
„Das ist doch kein Beweis. Los erzähl!“
Und dann habe ich ihm erst einmal von Hans-Werner erzählt.

Also, ich treffe Hans-Werner Hellwege vor dem EDEKA. Wir haben uns schon länger nicht gesehen und tauschen die üblichen Floskeln aus.
„Na, Hans-Werner, wie geht´s denn so?“
„Muscha. Und selber?“
„Ooch, immer viel um die Ohren.“
„Speicher, oder?“
„Ja, Speicher.“
„Du liest da am Sonntag ja Geschichten vor. Vielleicht kommen wir.“
„Ja, kommt mal.“
„Und sonst?“
„Ich fahre morgen zum russischen Botschafter.“
„Hm. –
Wohin fährst du?“
„Zum russischen Botschafter.“
„Schade, können wir nicht zusammen fahren. Ich fahre morgen zum Papst.“
Hans-Werner freut sich über seinen Gag, lacht,  wünscht gute Reise und geht weiter in Richtung Sparkasse.

Ja so ist Hans-Werner. Man muss ihm allerdings zugutehalten, dass er mir gegenüber schon einige Male zu leichtgläubig war. Nachdem ich ihn das letzte Mal verladen hatte, hat er mir geschworen, dass er mir nie, nie wieder glauben würde.  Ja, so ist das eben, wenn man seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt hat.

Ich sitze im Zug von Berlin nach Hamburg und rufe zu Hause an, um mitzuteilen, dass alles nach Plan läuft. Ulla sagt mir, dass noch 4 Anmeldungen für meine Lesung von Hans-Werner Hellwege und seinen Nachbarn reingekommen sind.
„Hans-Werner  wollte dich sprechen.“
Hans-Werner gehört noch zu den Männern, die ihre Angelegenheiten grundsätzlich lieber mit einem Geschlechtsgenossen regeln.
„Jörg ist nicht da.“
„Wann kommt er denn wieder?“
„Morgen, der ist beim russischen Botschafter.“
Dann, sagte sie,  wurde es still auf der anderen Seite.
„Beim russischen Botschafter ?“
„Ja beim russischen Botschafter irgendwo bei Dresden.“
Pause
„Ne, beim russischen Botschafter. Ne nich!
 Ich wollte noch 4 Personen für Sonntag anmelden.“
Und dann hat er „Tschüß“ gesagt. Das mit dem russischen Botschafter hat ihn irgendwie umgehauen. Mir ist das auch einfach so rausgerutscht, weil ich in den letzten Tagen so oft erklären musste, wo du bist.
„Ist schon gut, ich erzähl dir zu Hause mehr. Der russische Botschafter, Hans-Werner Hellwege und ich haben seit vorgestern eine eigene, gemeinsame  Geschichte.“

Botschafter Wladimir Grinin



Sonntag.
Der russische Botschafter und über 1200 Kilometer Bahnfahrt sind seit gestern schon wieder  Geschichte. Ich sitze am Eingang zur Gaststube im Speicher und kassiere für die Lesung. Hans-Werner kommt mit seiner Frau und seinen neuen Nachbarn, die vor vier Monaten aus Iserlohn zugezogen sind.
„4 Mal. Hatte ich bei deiner Frau angemeldet. „
„Moin Hans-Werner, habe ich hier auf der Liste.“
Seine Leute sind schon ein paar Schritte weiter gegangen.
„Hier, 40 Euro, stimmt doch oder.“
„Ja, ist genau richtig.“
„Und wie war´s?“
„Was?“
„Na, mit dem Botschafter da, dem russischen.“
„Gut, das war sehr gut. Und was hat der Papst so gesagt?“
„War ich doch gar nicht. Aber deine Frau hat mir gesagt, dass du beim russischen Botschafter warst.“
„Hab´ ich dir doch auch schon gesagt.“
„Hab ich aber nicht geglaubt.“
„Glaubst du es denn jetzt?“
„Wenn du deine Frau nicht angeschmiert hast. Ihr glaube ich das schon, aber bei dir weiß ich das immer noch nicht so richtig.“
„Mensch Hans-Werner, wenn es stimmt, was sie dir gesagt hat, dann muss das auch stimmen, was ich dir gesagt habe.“
„Ja, irgendwie schon. Und du warst da? Ich meine bei diesem Botschafter?“
„Ja, sag ich doch die ganze Zeit.“
„Hans-Werner, wo bleibst du?“
„Komme schon! Und, was hast du da gemacht?“
„Kann ich dir nicht so schnell erzählen. Vielleicht nachher. Nun trink erst einmal Kaffee und dann gibt es ein paar Geschichten.  Vielleicht haben wir ja nachher noch ein wenig Zeit.“

Die Zeit hatten wir dann aber nicht. Eine gute Woche später, beim Treffen der Vereine im Speicher kommt Hans-Werner an meinen Tisch.

„Du, das mit dem Botschafter stimmt ja.“
„Habe ich dir doch schon am Sonntag gesagt. Wieso bist du dir nun so sicher, dass es stimmt?“
„Guschi Tecklenborg hat mich gefragt, ob ich schon weiß, dass du beim russischen Botschafter warst.“
„Ja, wenn der dir das erzählt hat, dann muss es ja stimmen.“
Es stimmte ja tatsächlich. Was Hans-Werner allerdings nicht wusste: Guschi hatte die Info von mir bekommen, als er mich am Donnerstag fragte, warum ich heute vom Putzbüdel komme wo ich doch sonst immer am Sonnabend gehe.
Weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel, habe ich ihm gesagt, dass ich morgen zum russischen Botschafter will.

Ja, Guschi ist da ganz anders als Hans-Werner.
 „Ach so!“ hat er nur gesagt und ist weitergegangen.

Norbert lacht.
„Coole Geschichte. Ich kenne die Typen ja nicht, aber die haben dir die Geschichte mit dem Botschafter abgenommen.“
„Ja und, die stimmt ja auch.“
„Früher hätte ich sie dir auch geglaubt.“

Ich setze mein ernsthaftestes Gesicht auf und erzähle von der Einladung vom Ost West Forum, den Biografiegesprächen. Bis ins letzte Detail beschreibe ich, wie das Treffen mit dem russischen Botschafter aussehen sollte, welche Ziele das OWF mit dessen Vortrag erreichen will.

 Ich habe Norbert wieder eingefangen.  Er glaubt mir und erklärt mir und seiner Frau, welche Indizien ihn bewegen plötzlich das zu glauben, was er soeben noch ins Reich der Märchen und Fabeln verbannen wollte.
 Das ging mir eigentlich ein wenig zu einfach und ich setzte noch einen drauf.
„Muss dir noch erzählen, wie ich Mama Tenga im Speisewagen zwischen Berlin und Leipzig getroffen habe. Mama Tenga kommt aus Burkina Faso.“
„Woher?“
„Burkina Faso. Westafrika, Sahel. Weißt ja. Sie setzt sich zu mir an den Tisch. Wir unterhalten uns über die Speisekarte. Das ging ganz gut, sie spricht echt gut Deutsch. Und dann der Hammer. Sie fragt mich auf Platt:
„Wat wüllt se denn eeten?“
„Weet ick noch nich“, antworte ich und denke im nächsten Moment, wieso schnackt een platt, de vun Burkina Faso wech is?
Sie und ihre Begleitung, eine jüngere Frau, wählen Folienkartoffeln und ich entscheide mich für drei Nürnberger Bratwürstchen. War dann nicht so gut, die Entscheidung. Ich bestelle bei der Bedienung die drei Bratwürste, die auf der Speisekarte abgebildet sind.“
„Ham wir nich. Ham nur sechs.“
Ich zeige mit dem Finger auf das Bild in der Karte.
„Dreie nur als Frühstücksbeilage. Mittags mit Sauerkraut nur sechse!“
„Na dann eben nur sechse statt nur dreie.“
Mama Tenga und die Frau aus Plön lachen.
Norberts Blick verrät, dass Mama Tenga aus Burkina Faso ihm alle soeben noch gewonnene Sicherheit genommen hat.
„Das stimmt jetzt aber nicht mit dieser Mama Temba oder, wie sie heißt. Die da aus Afrika. Die reden kein platt, wenn sie aus Afrika sind. Ich glaube dir nix mehr! Ich weiß gar nicht, was ich glauben soll. Russischer Botschafter und nun Mama Dingsda aus Westafrika und redet platt!.“
Ach Norbert! Du tust mir schon ein wenig leid.
„Das ist ja noch nicht alles.“
„Was? Womit?“
„Mit Mama Tenga. Meine Würstchen waren leider nicht so, wie ich sie mir in meiner Phantasie vorgestellt hatte. Genau nach 2 2/3 Würsten verebbte jeglicher Appetit. Die drei, die es nur zum Frühstück gibt, hätten ausgereicht.“
„Und, was hat das mit dem Botschafter und Mama Tenja zu tun?“
„Warte ab, lass mich doch zuende erzählen.“
Und nun versetzte ich meiner mühsam zurückeroberten Glaubwürdigkeit den Todesstoß.

„Also ich schiebe meine Würstchen in die Tischmitte, um etwas mehr Tischauflage für die Arme zu bekommen. Mama Tenga aus Burkina Faso hat soeben die Folienkartoffel mit doppelter Portion Lachs abgearbeitet. Unsere Blicke kreuzen sich und sie fragt:
„Darf ich?“
Ohne meine Antwort ganz abzuwarten kommt sie mit ihrer Gabel diagonal über den Tisch und angelt sich eine der drei unversehrten Nürnberger Bratwürstel. Während sie genüsslich kaut, teilt sie mir mit leicht verschwörerischer Stimme mit, dass sie so etwas ja in Burkina Faso nicht bekomme.“
Eine Minute später musste die Bedienung überzeugt gewesen sein, dass die Würstchen voll meinen Geschmack getroffen hätten. Andernfalls wäre mein Teller ja nicht leer gewesen.

Norbert lacht.
„Dass ich immer wieder auf dich reinfalle! Fast hätte ich dir die Geschichte schon abgekauft. Aber das mit den Würstchen hättest du nicht erzählen dürfen. Damit hast du alles kaputt gemacht, was du vorher aufgebaut hast.“

Ach Norbert. Wie kann ich dir beweisen, dass alles ungelogen ist? Google mal  Mama Tenga und du wirst eine Menge erfahren über eine sehr interessante Frau! Und die habe ich getroffen und sie hat meine Würstchen gegessen, hat mich, ja mich, charmant genannt.
Und das mit dem Botschafter, Norbert, das stimmt natürlich auch. Was sollte ich denn sonst im Zug nach Leipzig, in dem ich Mama Tenga getroffen habe.

Dienstag, 29. November 2016

Wildganssymposium Allwördener Außendeich Oktober 2016



Die Vision von einem konfliktfreien Miteinander zwischen Menschen, Gänsen und Menschen in Kehdingen


Freiburg
Auf Einladung der beiden Graugans Brutkolonien Süderelbmündung Wischhafen und Fähranleger Glückstadt hatten sich zeitgleich mit den Kehdinger Wildganstagen 2016 über 300 Delegierte unterschiedlichster Wildgansarten im Allwördener Außendeich zum ersten artenübergreifenden Erfahrungsaustausch über elementare, alle Arten betreffende Probleme eingefunden. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Einschätzung der Rolle, die der Mensch im Leben der Gänse spielt.
Etwas zum Leidwesen der gastgebenden Graugänse erschienen die Nonnengänse mit fast doppelt so starker Delegation als ihnen nach Population zugestanden hätte. Anders als  bei der Nahrungsaufnahme, wo sich durchaus auch einmal mehrere Arten mischen, setzten sich die einzelnen Arten streng getrennt mit Blick auf das Rednerpult in das zu dieser Zeit noch satte Außendeichsgras. Nun sollte es sich als Vorteil herausstellen, dass die Nonnengänse so zahlreich erschienen waren. Umschichtig konnten immer einige von ihnen die Sicherung gegen potentielle Feinde übernehmen.
Keine leichte Aufgabe!
Gleich zu Beginn entschuldigte sich die Versammlungsleiterin bei allen TeilnehmerInnen über den ungepflegten Zustand des Veranstaltungsortes.
„Es tut mir leid, dass die Menschen es wieder einmal nicht geschafft haben, die Disteln und Brennnesseln  zeitig zur Rast- und Zugzeit zu beseitigen. Dabei waren ihnen ja durchaus unsere Forderungen und Bedürfnisse schon länger bekannt. Witziger Weise haben sie ihre Flächen, auf denen sie uns nicht haben wollen, in einem ausgezeichneten Zustand. Wen wundert’s dann noch, dass wir uns auch gerne mal im Getreide und  Raps aufhalten. Dazu aber später mehr. Dank an die Nonnengänse, die heute die Sicherung der Veranstaltung übernommen haben.“
Zwei Zwerggänse aus Schweden konnten die Glückstädterin kaum verstehen und mussten manches Mal von einer benachbarten Nonnengans übersetzen lassen. Eine sehr nützliche Eigenschaft der Nonnengänse besteht in ihrer Vielsprachigkeit bedingt durch ihren weiten Zugweg durch die unterschiedlichsten Sprachregionen. Kaum eine der schwarzweißen Gänse spricht weniger als Russisch, Deutsch und Englisch. Neben der geringen Population ist die fehlende Vielsprachigkeit der Hauptgrund für das den seltenen Zwerggänsen fehlende Selbstbewusstsein.
Die mächtigsten Vögel waren die Kanadagänse.  Lange hatte man im Organisationsteam überlegt, ob man sie, ebenso wie die Nilgänse, überhaupt zu diesem internationalen Treff zulassen sollte. Schließlich gehören sie ja eigentlich gar nicht in diese Erdregion. Letztlich setzten sich aber die liberaleren Kräfte mit dem Argument durch, dass die Gänse ja nichts dafür könnten, dass sie von den Menschen hierher gebracht worden seien. Und, dass sie sich aus der Gefangenschaft befreit und dann in Freiheit kräftig vermehrt  hätten, dürfe man ihnen nicht zum Vorwurf machen.
Drei Brandgänse unterhalten sich unangemessen laut über die für sie etwas unglücklich gelaufene Brutsaison. Ein Ordnungsruf liegt förmlich in der Luft.
Etwas abseits landet gerade die verspätete Delegation Saatgänse. Irgendwie hatten sie die Windverhältnisse von Otterndorf gegen den starken Ostwind verkehrt eingeschätzt.


Auf dem Podium ist ein mächtiger Nonnengans Ganter im besten Alter eingetroffen. Er soll gleich das Eröffnungsreferat „Braucht die Gans den Menschen?“ halten.
Die Gruppe Nilgänse steht abseits und lästert über den Referenten ab. Zwei von ihnen hatten einmal eine Begegnung mit ihm, die sie, obwohl bestimmt nicht so gemeint, in unguter Erinnerung haben.
„Wahrscheinlich sind wir hier ohnehin überflüssig. Wenn ich den schon sehe, weiß ich, dass es doch nur wieder um die Interessen der fetten Nonnis geht.“ 
„Nonni“ für Nonnengans hatte sich bei den Nilgänsen eingebürgert, allerdings nur, wenn sie unter sich waren.
Als Minderheit unter den Gänsen wollten und konnten sie sich keinen Streit mit den Nonnengänsen erlauben. Das erklärt auch das Schweigen der Gruppe immer dann, wenn wieder einmal ein Trupp der schwarzweißen Nonnengänse vorbeizog um sich an die für sie ausgewiesenen Plätze zu begeben.

Eine aufgeregte Blessgans watschelt mit dem für sie typischen Gang durch die versammelten Gänse und ruft immer wieder: „Gibt es hier denn keine Geschäftsordnung? Wir haben keine Geschäftsordnung.“
„Was will die blöde „Nonni“ mit einer Geschäftsordnung?“ fragt eine Nilgans halblaut.
Selbst ist sie so blöd, die Blessgans mit einer „Nonni“ zu verwechseln, und setzt  dann noch einen drauf: „Kann doch nicht mal lesen, die dumme Gans.“
Zustimmendes Gänsegackern.

Am Rand der Versammlung entsteht ein kleiner Tumult. Ein Trupp gelbschnäbliger Singschwäne hatte beim Überflug von Sibirien nach Holland die Versammlung gesehen und wollte sich nun einmal etwas genauer umsehen.  Da weder Singschwäne noch irgendeine andere Schwanenart  auf der Gästeliste standen, verwehrte der Ordnungsdienst – natürlich Nonnengänse – ihnen lautstark den Zutritt zum Kongressgelände. Da nützt es auch nichts, dass die Menschen die Schwäne den Entenvögeln und innerhalb dieser Gruppe der Untergruppe der Gänse zuordnen.


Ein immer stärker werdendes Rauschen lässt schlagartig alle Gespräche verstummen. Der Blick der Gänse geht zum Himmel,  dem Rauschen entgegen. 100 Nonnengänse nähern sich dem Allwördener Außendeich von der Elbe her. Eben noch in klassischer Keilform wechseln die Gänse in fünf parallel fliegenden Keilen zu jeweils 20 Gänsen. Kurz vor der Tagungsstätte geschieht etwas Unfassbares. Nach kurzem Durcheinander kommt wieder Ordnung in das Chaos und die erstaunten KongressteilnehmerInnen können genau über ihren Köpfen für kurze Zeit den Schriftzug „WGT 2016“ lesen.
„Wildganstreffen 2016“, liest eine der Nilgänse mehr gehaucht als gesprochen und bringt damit deutlich ihre Anerkennung für die gelungene Formation zum Ausdruck.
Die Formation löst sich auf und der Gänsetrupp trennt sich in zwei Keile, die nach weiter Rechts- bzw.  Linkskurve Kollisionskurs fliegen. Die Keile verwandeln sich in Harpunen und kurz bevor sich die beiden Trupps über den Köpfen der begeisterten Zuschauer wieder begegnen wurden zwei Pfeile aus den fliegenden Gänseleibern, deren Spitzen sich innerhalb der nächsten Sekunden treffen müssen. Ja, sie müssen!  Anders kann es gar nicht sein!
Kaum eine Gans am Boden, der nicht der Atem stockt. Und dann eine noch nie gesehene Sensation:  Kurz vor dem unvermeidbar scheinenden Crash ziehen die Gänse steil nach oben, fliegen einen Looping leicht geschraubt, um sich dann zur Schlussformation zusammenzufinden.
Die meisten Gänse unten auf der Marschenweide hatten ihre Köpfe in Anbetracht des zu erwartenden Unglücks blitzschnell unter ihre Flügel geklemmt und trauten sich erst wieder hervor, nachdem sie das begeisterte Schwingenklatschen ihrer weniger ängstlichen Schwestern und Brüder vernahmen.
„Sie kommen zurück, sie kommen noch einmal“, ruft eine junge Graugans mit aufgeregter Stimme. „Sie fliegen eine Pyramide!“
Das kam aus dem Kreis der Nilgänse. Diese Figur war ihnen durch generationenlange Überlieferung über die Besonderheiten ihrer ursprünglichen Heimat Ägypten vertrauter als allen anderen hier versammelten Gänsen.
Eine Kanadagans regte später an, dass diese tollkühne Fliegertruppe im nächsten Jahr vielleicht einmal ein Ahornblatt wie in der kanadischen Flagge fliegen könnte.

Das hat es hier an der Unterelbe und auch sonst wo auf der Erde noch nie gegeben: 100 Nonnengänse fliegen in geringer Höhe eine Pyramide! Als wenn das noch nicht ausgereicht hätte, ließ die Nonnengansstaffel gerade in dem Moment, als das staunende Publikum über seinem Kopf genau in den Innenraum der Pyramide blickte, massenweise Gänseblümchen, Logo des ersten internationalen Gänsesymposiums, auf die KongressteilnehmerInnen herabregnen.
Was für ein Auftakt!
Riesenbeifall für die schwarzweißen „Teufelsflieger“ nach ihrer Landung.

Und nicht nur alle hier versammelten Gänsearten, die das westliche Europa kennt, waren zutiefst beeindruckt. Nur knapp 1500 Meter entfernt vom geschehen steht Johann von der Fecht mit dem Feldstecher auf dem Deich und will seine Rinder zählen. Plötzlich erweckt ein Trupp von mindestens 100 Nonnengänsen seine Aufmerksamkeit durch ein völlig unkonventionelles Flugverhalten. Was er durch sein Fernglas sieht, erinnert ihn sofort an exakt geflogene Formationen britischer Kampfjets. Aber, was er bislang nur aus dem Fernsehen kannte, kann er hier aus nächster Nähe betrachten und die Kampfjets hier über dem Allwördener Außendeich sind Nonnengänse.
Kaum dass das Spektakel vorüber ist, wischt von der Fecht sich über die Augen.
Hat er das wirklich eben gesehen?
Nonnengänse fliegen wie nach einer Choreografie Figuren?
Wie soll er das Gesehene seinen Freunden mitteilen?
Weder seinen Kegelbrüdern noch den Mitgliedern des Arbeitskreises Fraß Schäden auf Grün- und Ackerflächen ist das hier zu vermitteln, ohne dass er, bestimmt kein Gänsefreund, sich der Lächerlichkeit preisgeben würde.
Aber geschehen ist es eben gerade - vor seinen Augen.
Eine Pyramide aus Gänseleibern geformt und über die Außendeichsweiden fliegend.
Selbst Hintze, Ladewig und all die anderen bezahlten Gänsefreunde  würden derartige Schilderungen als eine weitere Provokation von ihm, dem hitzköpfigen Landwirt aus Freiburg, betrachten. Sein ernsthaft geführter Kampf um Anerkennung der Fraß Schäden  und Ausgleichszahlungen könnte Schaden nehmen.
Von der Fecht beobachtet, dass sich bei ihm trotz seiner Abneigung gegen die ihm sonst so verhassten Gänse ein gewisses Maß an Hochachtung  einstellt.


Nur drei Kilometer Luftlinie entfernt feiert der Tourismusverein Kehdingen seine Gänsetage bei Gänsekeule und Torte. Wem das nicht genügt, der besucht einen der Fachvorträge, in denen Experten so ziemlich alles aus dem Leben der Gänse berichten. Zumindest alles, was ihnen bekannt ist, und das ist schon  ganz schön viel.
Nur eines wissen sie zu dem Zeitpunkt noch nicht: Im Allwördener Außendeich tagt zeitgleich das erste internationale Gänsesympositum  und außer einigen hundert Gänsen unterschiedlicher Arten ist nur der Freiburger Landwirt Johann von der Fecht Zeuge, wie 100 Nonnengänse in einer Welturaufführung komplizierte Formationen fliegen. Ja, kompliziert, denn eine mehrdimensionale  Pyramide fliegen heißt schon erheblich mehr als eben nur den Standardkeil zu fliegen.
Schade für von der Fecht, dass er sich niemandem mitteilen kann. Nicht einmal seiner Frau, die ihn auch ohne Erzählungen vom Gänseformationsflug schon häufiger mal für etwas „spinnert“ erklärt.

Auf dem Kongressgelände haben die gastgebenden Graugänse soeben die Eröffnung mit einem kleinen Einleitungsreferat über die Tagungsinhalte und mögliche Ziele abgeschlossen.
Der Gastredner tritt an das Pult und bedankt sich mit seiner tiefen, sicheren Stimme und leicht osteuropäischem  Akzent für die Ehre, hier den Gastvortrag halten zu dürfen.
„Liebe Gänse aller Arten des westlichen Europas. Wir sind hier zusammengekommen dank der Initiative der beiden hiesigen Grauganskolonien. Dank an euch Schwestern und Brüder. Ich will mit meinem Vortrag, mit den Ergebnissen meiner Beobachtung der Menschen, der Natur und, liebe Zuhörerschaft, das soll hier nicht unter den Tisch fallen, auch einer sehr kritischen Selbstbetrachtung von uns, der großen Familie der Gänse, dazu beitragen, dass auch künftige Generationen mit der Gewissheit auf sichere Zugwege und sichere Brut- und Rastplätze leben können.  Lasst mich eine elementare Erkenntnis aus meinen Beobachtungen gleich an den Beginn meiner Ausführungen stellen: Ohne den Menschen keine Zukunft für die Gans!“
Mit Blick auf die gar nicht so kleine Gruppe junger und sehr erregter Nonnengänse fährt der Gänserich fort.
„Ich sehe euer Transparent, auch ich bin in jungen Jahren unter dem Slogan „Nur eine Erde ohne Menschen kann eine gute Erde sein!“ jährlich zwischen Irland und dem Eismeer hin und her geflogen. Aber glaubt mir liebe Freunde, glaubt einem erfahrenen Ganter, der sich viel Zeit zum Nachdenken genommen hat, das Leben einer Gans besteht aus mehr als den Farben Schwarz und Weiß. Da gibt es noch die vielen Grautöne und vergessen wir nicht die ganze Palette mit all den schönen bunten Farben, wie wir sie aus der Natur kennen. Hüten wir uns vor schnellen, oftmals zu wenig reflektierten Schlüssen.
Ja, ich kenne die Menschen, kaum einer von uns hat sich mehr mit ihnen befasst als ich. Und ich sage auch, dass es nicht wenige Schweine unter ihnen gibt (Beifall von den organisierten Junggänsen), die uns Gänse und andere Kreaturen ohne erkennbaren Sinn töten.
Menschen brechen Grünland um, das uns über Jahrhunderte die Nahrung geboten hat, die wir benötigen um unsere vom Flug geschwächten Körper wieder aufzupäppeln, Menschen verscheuchen uns von unseren Rastplätzen, was zu ständigem und völlig unnötigem Verlust von Fettreserven führt. Ich habe schon von Gänsen gehört, die sich unter diesen Umständen nicht mehr den Strapazen des Vogelzuges aussetzen wollen.
Ja, es gibt inzwischen schon Gänse, die hier nicht nur überwintern sondern auch ihre Jungen aufziehen. Und, liebe Nonnengänse, es sind schon lange nicht mehr nur die Graugänse, die sich ganzjährig in unseren klassischen Überwinterungsgebieten aufhalten.
Ich schweife ab.
Lasst mich von den unterschiedlichen Menschen berichten, mit denen wir es zu tun haben. Sie lassen sich ganz leicht in drei Gruppen klassifizieren. Da sind die, die uns mögen. Mit Abstand die größte Gruppe. Gefolgt sind sie von der Gruppe derer, denen wir völlig egal sind. Und dann ist da noch die relativ kleine Gruppe der Menschen, die uns überhaupt nicht mögen, uns vielleicht sogar hassen.“
Zustimmendes Geschnatter.
„Unsere größte Aufmerksamkeit sollten wir  der letztgenannten Gruppe widmen ohne dabei den Bezug zu den uns wohlgesonnenen Menschen aus dem Blick zu verlieren. Man möchte jetzt meinen, dass wir die Gruppe Menschen, der wir völlig egal sind, nicht weiter beachten müssen. Ja, sie sollen heute nicht im Focus der Betrachtung stehen. Nichts desto trotz müssen wir auch diese Gruppe sehr im Auge behalten. Schlagen sie sich nämlich auf die Seite einer der beiden anderen Gruppen, wird es, so oder so, gewaltige Konsequenzen für die Zukunft unserer Völker haben.
Einfache Gemüter mögen jetzt meinen, dass es ausreiche, sich nur mit unseren Feinden auseinanderzusetzen. Das ist zu kurz gedacht, wie ich gleich weiter ausführen werde.
Wir müssen unsere Freunde pflegen und, aufgepasst liebe Gänse, unsere Feinde auch!“
In der Zuhörerschaft macht sich Unruhe breit. Zwei Saatgänse überlegen allen Ernstes, ob sie sich derart irrige Thesen weiter zumuten oder lieber gleich auf das binnendeichs gelegene Weizenfeld fliegen sollen. Letztlich sind sie zu feige, alle Blicke auf sich zu ziehen und die Versammlung schon so kurz nach ihrem Beginn zu verlassen.
„Beruhigt euch wieder! Ich habe erwartet, dass ihr mit Unverständnis auf meine Worte reagieren würdet. Vielleicht gelingt es mir ja in meinem weiteren Vortrag, die Fragezeichen aus euren Blicken verschwinden zu lassen.“
„Reden kann er ja“, meinte die Nilgans, die noch vor nicht allzu langer Zeit dem Redner jegliche Kompetenz absprechen wollte.
„Wir müssen unsere Feinde dazu bringen, uns nicht mehr als ihre Feinde zu sehen. Das allein ist die Lösung, liebe Gänse!“
„Und wie, bitte schön, soll das gehen!?“ ruft eine der „Jungnonnis“ aufgeregt über die Köpfe aller anderen Gänse hinweg und erntet zustimmendes Geraune und Gezische aus der versammelten Gänseschaar.
„Die Frage habe ich natürlich erwartet und ich glaube, dass ich auch eine Antwort habe. Zurzeit haben die Gänsefreunde unter den Menschen die Mehrheit und das Sagen. Sie machen die Gesetze, die uns derzeit ein sorgenfreies Leben ermöglichen, wie es nicht einmal die letzten 10 oder sogar 20 Gänsegenerationen vor uns gekannt haben.
Damit das auch in der Zukunft noch so ist, müssen wir an zwei beteiligten Gruppen ansetzen: Bei den „guten“ Menschen und, nun haltet euch fest, bei uns, den Gänsen!“
Große Unruhe und Geschnatter unter den KongressteilnehmerInnen. So verwegene Theorien hat die Gansheit wohl noch nie vernommen.
Der wortgewandte,  erfahrene Ganter hat genau diese Situation kommen sehen. Er lässt seinem Auditorium noch etwas Zeit und nimmt einige Schlucke Grüppenwasser zu sich, bevor er sich wieder an das Publikum wendet.
„Beruhigt euch! Diskutieren können wir, wenn ich es euch erklärt habe.“
Eine wohlgeplante Pause gibt der aufgeregten Zuhörerschaft Gelegenheit wieder zur Ruhe zu kommen.
„Ich sage nur Vertragsnaturschutz. Die wenigsten von euch werden wissen, was das heißt. Ihr kennt aber alle die Flächen in Elbnähe: Hohes Gras, Brennesselnester und Diesteln ohne Ende.“
Zustimmendes Kopfnicken.
„Diese wunderschönen  „Gänseweiden“ sind von den „guten“ Menschen aufgekauft worden und dürfen irgendwann im Jahr von den anderen mit Vieh beschickt werden. Das geschieht angeblich zum Schutze der Wiesenbrüter. Erst wenn deren Brutzeit vorüber ist, darf dort gemäht werden. Bis zu dem Zeitpunkt stehen oft schon Brennesseln und Diesteln so hoch, dass  kein Vogel dort mehr brüten mag und auch wir uns dort aus Sicherheitsgründen nicht mehr wohl fühlen.
Was machen wir?
Wir weichen aus auf die Getreideflächen oder intensiv bewirtschafteten Grünländer der Bauern in Elbnähe!
Nun frage ich euch, wie würdet ihr reagieren, wenn ihr hier nach dem langen Flug aus arktischen Gebieten eintrefft und die Menschen hätten alles Gras totgespritzt oder umgepflügt?
Weit und breit nichts zu essen für uns.
Geht gar nicht würdet ihr sagen, wovon sollen wir denn leben?“

Aufgeregtes Geschnatter in der Gänseschaar.

„So, und nun stellt euch vor, wie es den Bauern hier geht, wenn sie morgens auf ihr Feld kommen und ihr Getreide oder manchmal auch Raps ist bis auf den Boden runter abgefressen.
Das, wovon sie leben wollen und müssen, wurde von uns vernichtet.
Können die noch mit freundschaftlichen Gefühlen an uns Gänse denken?
Sie können es nicht!
Es wundert mich nicht, wenn sie uns am liebsten mit der Flinte vom Himmel holen würden.“

„ Wir müssen doch auf die neuen Saaten, wenn das elbnahe Grünland aus sicherheitsrelevanten Gründen für uns nicht mehr in Frage kommt. Abgesehen vom Sicherheitsaspekt reichen die letzten geeigneten Flächen nicht hinten und vorne, um uns alle satt zu machen“, ruft eine reifere Nonnengans aus der Mitte des Publikums und erntet zustimmenden Beifall. „Und außerdem sollen die Bauern doch jetzt irgendwelche Ausgleichszahlungen für Fraßschäden bekommen. Sollen sich doch nicht so anstellen.“

Der Referent kennt die Gans, die da soeben gesprochen hat. Seit einigen Jahren gelingt es ihr mit ihren populistischen Äußerungen eine immer größer werdende Schaar von Gänsen um sich zu scharen.
„Deine Sprüche helfen uns nicht weiter. Es ist doch alles viel komplexer, als du es siehst. Ich weiß zufällig aus gewöhnlich außerordentlich gut informierten Kreisen der guten Menschen, dass die Fraßschaden Regulierung völlig unzureichend ist und zudem  durch Ungleichbehandlung betroffener Landwirte für Unfrieden sorgt.
Meine Lösung sieht anders aus. Wir müssen von unserer Seite ein Zeichen setzen.“
„Und wie soll das Zeichen aussehen“?  fragt eine Blessgans aus dem nördlichen Schweden mit leicht skandinavischem Akzent.
„Ich sage nur Selbstbeschränkung! Selbstbeschränkung in mehrfacher Hinsicht. Wir müssen von den Äckern fernbleiben.“
„Dann verhungern wir!“
„Nun lasst mich doch bitte einmal ausreden. Parallel  zu unserem selbstauferlegten „Ernteverbot“ müssen wir auf die für uns guten Menschen einwirken, dass sie die Flächen, die sie heute als Vertragsnaturschutzflächen  für fast alle Wiesenvögel und besonders auch für uns Gänse wieder in einen Zustand versetzen, der es den Wiesenvögeln erlaubt, dort sicher ihre Brut aufzuziehen. Ohne Disteln und Brennnesseln könnten auch wir Gänse dort angstfrei satt werden, ohne dass wir auf die Äcker müssen.
Ich höre schon, dass ihr befürchtet, dass wir von den Flächen allein nicht satt werden können. Die Befürchtung teile ich mit euch. Deshalb zu einer weiteren Selbstbeschränkung, die ich für unverzichtbar halte:
Geburtenkontrolle bei uns! Nicht mehr als ein bis zwei Eier pro Saison ausbrüten oder freiwillig jedes zweite Jahr  komplett auf Nachwuchs verzichten. Eier legen ja, brüten nein!“
Geschickt lässt er die Worte auf seine stumme Zuhörerschaft wirken um dann seine Gedanken weiter auszubreiten.





„Wir müssen Verhältnisse schaffen, mit denen alle leben können. Den Bauern hier müssen wir ihr Feindbild nehmen, unseren Freunden unter den Menschen müssen wir das Gefühl lassen, dass sie ihren wertvollen Beitrag zum Wohle der Natur leisten und wir, wir …“
„Wir sind die Looser in diesem Spiel! Wir müssen auf unser Recht uneingeschränkter Fortpflanzung verzichten“, schreit eine wütende Junggans (Nonnengans natürlich) vom linken Flügel.
Wohl durchdacht entgegnet der Referent dem Hitzkopf:
„Nun höre mir einmal gut zu, mein junger Freund. Wir wären nach meinem Vorschlag nicht die Looser, wie du es sagst, wir wären die Winner! Mit ein bisschen Familienplanung nur sorgen wir für gute Stimmung unter den Menschen und, das ist mir das Wichtigste, gute Stimmung zwischen den Menschen und uns. Wenn es uns gelingt, unseren Bestand auf die Hälfte zu reduzieren, hat das überhaupt keine Auswirkungen auf die Arterhaltung. Und, was hindert uns daran, die „Brutquote“ sofort heraufzusetzen, wenn sich bei uns eine Bestandsgefährdung abzeichnet? Nichts!“
Absolute Stille im Auditorium. Wäre jetzt eine Gänsedaune zu Boden geschwebt, man hätte ihren Aufprall auf dem Boden gehört – glaubt man zumindest in dieser Stille. Dann durchbricht die erste Gans, eine von den großen Kanadagänsen, die Stille.
„Genial, einfach genial! Das könnte das Modell  Zukunft sein, der Friedenspakt mit den Menschen für Generationen! Was für ein diplomatischer Schachzug!“


Damit endete das Schweigen im Außendeich. Kaum eine Gans kann noch an sich halten. Alle sind am Schnattern und diskutieren „Für“ und „Wider“ des Planes bis die Versammlungsleiterin um Ruhe bittet.
„Ruhe! Ruhe bitte. Es wurde mir soeben ein Antrag zur Abstimmung vorgelegt.“
Nachdem endlich Ruhe auf der Versammlungsstätte eingetreten war formuliert die Versammlungsleiterin den aus drei Teilen bestehenden Antrag.
·         Hinwirkung auf Änderung der Bewirtschaftungsauflagen für Vertragsnaturschutzflächen
·         ab sofort keine Äsung auf intensiv genutzten Acker- und Weideflächen
·         freiwillige Brutkontrolle
Mit stolzer Genugtuung nimmt der Gastreferent das soeben von der Wahlkommission vorgelegte Resultat zur Kenntnis. 72% der anwesenden Gänse haben seinen mit tiefster Überzeugung vorgetragenen Argumenten zugestimmt.  18% haben dagegen gestimmt – unter ihnen viele der jungen Delegierten. 10% haben sich der Stimmen enthalten oder hatten, wie 4 der Ringelgänse,  schlicht vergessen im richtigen Moment den Flügel zu erheben.
So endet das erste internationale  Wildganssympositum im Allwördener Außendeich mit einem kühnen, bis dahin nie für möglich gehaltenen Ergebnis.

Oktober 2021
Im Freiburger Kornspeicher richtet der Tourismusverein Kehdingen nun schon zum 2. Mal gemeinsam mit der Kehdinger Landwirtschaft die Wildganstage aus. Nachdem seit 2017 keine nennenswerten Fraßschäden von den Kehdinger Äckern gemeldet wurden, gelang es endlich, Gänsefreunde und ehemalige Gänsefeinde an einen Tisch zu bekommen.
Keiner wusste mehr so genau, wie es zu den flexiblen Bewirtschaftungsauflagen auf den Vertragsnaturschutzflächen gekommen war. Fakt ist jedenfalls, dass, seitdem früher gemäht und  früher mit dem Viehauftrieb begonnen wurde, die Gänse von den Äckern fort blieben. Mit der Rückkehr der Gänse auf die früher verschmähten Flächen beobachteten die Gänsefreunde unter den Menschen auch die Rückkehr der Wiesenbrüter auf die kurzgrasigen Weiden im ehemaligen Außendeich und im Deichvorland.
Sie stellten auch fest, dass die Gänsepopulation 2017 erschreckend abgenommen hatte um sich dann aber in den folgenden Jahren ungefähr auf der Hälfte des 2016 gezählten Bestandes einzupendeln.
Wildganstage 2021 gemeinsam mit den hiesigen Landwirten, wer hätte das vor einigen Jahren geglaubt?
Johann von der Fecht und zwei seiner Kollegen aus Balje sitzen mit Hintze und dem Landrat am Tisch bei Gänsekeule und Bier. Dass sie einmal sehr schwierige Zeiten miteinander hatten mag man heute nicht mehr glauben.

Am 2. November 2021 begegnet Johann von der Fecht Ladewig und Hintze auf dem Allwördener Deich nur wenige hundert Meter neben dem Vogelbeobachtungsturm. Ladewig hält einen Vogelring aus PVC in der Hand.
„Nonnengans, männlich, beringt 2012 auf Kamtschatka.“
Dann zeigt er auf die Überreste einer Nonnengans wenige Meter von ihnen entfernt.
„So ist es in der Natur. Wir haben ihn noch gesehen, den Seeadler, als er aufflog. Ungefähr eine Gans am Tag braucht er. Ganz schön alt geworden, der Ganter.“

Was sie nicht wussten: Der Ganter, der diesen Ring zu seinen Lebzeiten trug, war exakt der, der seinerzeit 2016 auf dem ersten internationalen Wildganssymposium im Allwördener Außendeich den spektakulären Vortrag mit dem Titel „Braucht die Gans den Menschen?“ gehalten hat.  Es war der, der damals in den langwierigen und harten Verhandlungen in Lüneburg und Hannover für einen Richtungswechsel im Umgang mit den Vertragsnaturschutzflächen in Kehdingen gesorgt hatte. In Gänsekreisen hat er sich mit seinem Auftritt auf dem ersten Wildganssympositum einen Namen für alle Zeiten geschaffen. Kaum eine Gans zwischen dem Eismeer und der Grünen Insel noch jenseits Großbritanniens, die nicht die Geschichte vom ersten internationalen Gänsesymposiums kannte. Es waren nicht wenige Gänse, die ihren Nachkommen voller Stolz berichten konnten, mit  diesem Ausnahme Ganter einmal ein Stück geflogen zu sein oder einen Rastplatz geteilt zu haben.
Nun, im hohen Alter, hat ihn während  seiner morgendlichen Dehnübungen am Fuße des Allwördener Deiches für wenige aber folgenschwere Sekunden der Instinkt, der ihn all die Jahre immer rechtzeitig vor Gefahren gewarnt hatte, verlassen.  Er hatte noch das Rauschen der Adlerschwingen gehört, als sich im nächsten Moment die messerscharfen Krallen des Greifvogels in seinen Rücken gruben.

So endete das Leben einer Nonnengans, die so viel Gutes für die gesamte Gansheit  bewirkt hat und für ein friedliches Auskommen mit der Menschheit gesorgt hat nur wenige hundert Meter entfernt von der Stätte, wo sie 2016 Geschichte schrieb.