Lange Zeit brauchte ich kein Handy. Heute habe ich eins,
ertappe mich aber immer wieder, wenn die monatliche Rechnung eintrifft, bei dem
Gedanken, ob der Nutzen des Telefons in einem angemessenen Verhältnis zu den
monatlichen Kosten steht.
Ich habe das Handy noch und werde es auch behalten – heute
mehr denn je!
Nach einem
Besuch bei meiner Tochter in Berlin sitze ich in der S-Bahn von Treptower Park
in Richtung Südkreuz. Um mich herum sind alle (und noch einmal in Ziffern:
1111) mit ihren Smartphones beschäftigt. Zwei junge Frauen tauschen sich über
ihre Nachrichten aus.
„Spinnt doch
die Omi! Ich soll mir ein Unterhemd anziehen, weil es doch kälter ist, als es
aussieht!“
Beide Frauen
brechen in schallendes Gelächter aus.
Oma kann
zwar schon SMS schreiben. Wie junge Mädchen von heute sich aber auf gar keinen
Fall anziehen, weiß sie nicht.
Was ist bloß
in den letzten 10, 20 Jahren passiert?
Das mache
ich nicht mit, die sklavische Abhängigkeit vom Handy. Erster Halt: Sonnenallee.
Die neu zugestiegenen Fahrgäste verteilen sich über die freien Plätze und, was
machen sie?
Natürlich,
mit einer Ausnahme, einem alten Mütterchen mit Kopftuch, setzen sie alle ihr
Handy in Betrieb.
Wahnsinn!
40-50 Menschen um mich herum und nur das Mütterchen und ich ohne Handy. Ich
streiche über meinen Kopf.
Was war das
denn? Ich habe kein Kopftuch. Was uns verbindet, ist die mediale
Abgeschnittenheit vom Rest der Welt – nicht das Kopftuch!
Ich könnte
Lena eine SMS schreiben, dass ich den Zug erreicht habe.
Wo ist das
Handy? Nicht in der Brusttasche meines Hemdes.
In der
Jacke? Zwei Male habe ich alle Taschen durchwühlt. Nichts!
Ja, und?
Entweder ist es im Koffer oder es liegt in Lenas Wohnung.
Ich bin
extrem nervös.
Wenn es mir
aber jemand aus der Tasche gezogen hat, oder ich es aus der Tasche verloren
habe?
Wäre sehr
ärgerlich. Allein schon wegen der vielen abgespeicherten Kontakte.
Wie
kommuniziere ich eigentlich gleich in Hamburg? Ich kann dort keine Verbindung
zu Drea bekommen, ich habe ihre Handynummer natürlich nicht im Kopf und auch
nirgendwo anders gespeichert.
Ulla will
mich vom Bahnhof in Hemmoor abholen. Sie weiß noch nicht, wann mein Zug
ankommt. Finde ich noch eine Telefonzelle? Wie mache ich es, wenn ich über
Glückstadt mit der Fähre fahre? Ich kann erst von der Fähre anrufen und sagen,
wann ich auf der anderen Seite sein werde. Gibt es dort ein öffentliches
Telefon und wenn ja, hängt da noch ein Hörer dran?
Diese Fragen
jagen in Sekundenschnelle durch meinen Kopf.
Ich brauche
Gewissheit, ich muss wissen, ob das Handy irgendwo im Koffer liegt.
Die Plätze
gegenüber werden frei. Vorsichtig lege ich den Koffer auf die Sitzbank und
öffne den Reißverschluss. Das Hemd liegt im Deckelfach, traditionsgemäß das
Behältnis für die Schmutzwäsche. Ein Strumpf rutscht mir entgegen, eine
Unterhose bereitet sich als nächstes vor, das Koffergefängnis zu verlassen. Ich
kann die Lawine zum Stoppen bringen und entdecke das Hemd, das gestern noch den
ganzen Tag mein Handy beherbergte.
Die
Tastprobe ergibt, dass ich am falschen Ort suche.
Schnell das peinliche Fach schließen, bevor ich die Kontrolle über die Lawine
verliere.
Es folgt die
Blindsuche im Hauptfach des Koffers.
Die
Erlösung: Ich ertaste das „Commander Etui“ meines Handys und ziehe es heraus
zwischen Handtuch, Kulturtasche und der ungebrauchten Ersatzjeans.
Gott sei
Dank!
Ich schließe
die Reißverschlüsse gerade rechtzeitig bevor der Zug am Südkreuz hält.
8 Minuten
später sitze ich im ICE nach Hamburg.
Ich fühle
mein Handy in der Brusttasche.
Es ist Zeit
für eine SMS an Lena. Ich schreibe, dass alles geklappt habe und sie sich keine
Sorgen machen müsse. Dann eine SMS an Drea mit meinen Reisedaten. Gert kann ich
eben noch schreiben, dass ich ab Montag wieder zur Verfügung stehe. Ulla kann
ich schreiben, wenn ich weiß, wann ich wo abgeholt werden kann. Axel, mit dem
ich gerade zwei Tage in Warschau war, fragt über SMS, ob ich schon wieder zu
Hause sei und ihm schnell einmal zwei Texte schicken könne.
Ich blicke um
mich. Meine Mitreisenden sind alle mit ihren Handys und Laptops beschäftigt.
Den Sitznachbarn auf der anderen Seite muss ich zweimal fragen, wie er es
geschafft habe, seinen Tisch so weit auszuklappen. Er schreibt auf dem Laptop
und hört über Ohrstöpsel Musik vom Handy.
Was habe ich
gelernt in der letzten halben Stunde?
Von wegen,
dass ich auf Handy verzichten kann. Die wenigen soeben verstrichenen Minuten
haben mich eines Besseren belehrt: Ich bin vielleicht nicht handysüchtig. Ohne
Handy geht es aber anscheinend auch bei mir nicht.
Ob die alte Frau
in der S-Bahn, die mit dem Kopftuch, ob die vielleicht doch ein Handy hat?