Ja, warum eigentlich nicht? Ich bin
auf einem Hof mit zeitweilig sechs Pferden aufgewachsen. Ich mochte diese
gutmütigen, riesigen Tiere und es störte mich nicht, wenn sie ihre Köpfe mit manchmal leicht verschnotterten
Nasen bis fast in mein Gesicht herabneigten. So weit, dass ich den warmen,
leicht nach Futter riechenden Atem auf meiner Haut spürte. Ich mochte den
Geruch vom Schweiß im Ledergeschirr und ich wäre niemals auf die Idee gekommen,
die Ausdünstungen aus dem Mist in den
Pferdeboxen als Gestank zu bezeichnen. Heute noch empfinde ich heimliche
Entrüstung, wenn ich jemanden sehe, der bei Pferdegeruch mit einer Miene leichten Ekels die Nase
rümpft.
Hühner, Rindviecher und Schweine
können grässlich stinken.
Nicht aber Pferde! Nein, das ist kein
Gestank. Nein, wirklich nicht. Eher ein ganz speziell kreierter Duft.
Das können aber wohl nur wirkliche
Pferdefreunde verstehen.
Gelegentlich durfte ich kurz vor der
Mittagspause eines unserer Pferde zum Brunnen
an die Tränke führen. So, wie ich mich damals fühlte, fühlt sich heute wohl ein
Kind, das erstmalig alleine auf dem Aufsitzmäher fahren darf. Vom jährlichen
Ringreiten wusste ich, dass Pferde nicht nur zum Arbeiten da waren. Dann
nämlich, und nur dann, kamen die Zug- und
Ackerpferde unter den Sattel - wenn es
denn einen gab. Dann mussten sie Bauern
und Knechte aufsitzen lassen. Ringreiten war eines der wenigen dörflichen
Großereignisse, dem man sich nur durch Krankheit oder Altersgebrechen entziehen
durfte. Für uns Kinder war am spannendsten zu sehen, wie die ungeübten Reiter
es mehr oder weniger gut schafften, sich auf dem Pferderücken zu halten. Schadenfrohes
Gejohle brach aus , wenn ein Reiter ins Gras vor dem Gasthof zur Linde fiel.
Es gab eigentlich nur eine Person im
ganzen Dorf, die wirklich reiten konnte. Unsere Nachbarin, eine hochgewachsene
stolze Frau, musste jahrelang warten, bis sie zum Ringreiten zugelassen wurde.
Die Teilnahme war für Frauen nicht explizit verboten aber es stand auch
nirgendwo ausdrücklich, dass es erlaubt sei.
Als Lisa dann zum ersten Mal
mitreiten durfte, lieferte sie auch gleich eine Erklärung für die langjährige,
hartnäckige Weigerung der männlichen Dorfbevölkerung bis eben hin zu diesem
Ringreiten. Sie sammelte mit Abstand die meisten Ringe und auf der Ehrentafel
stand: „Der König 1956: Lisa Hollstein“.
Ja, König stand auf der Ehrentafel. Eine Königin war nicht vorgesehen
und so kam es, dass Schleswig Holstein den ersten weiblichen König seiner
jahrhundertealten Geschichte hatte.
Zu der Zeit schlüpften wir Kinder
beim Fußballspielen in die Rollen von unseren Weltmeistern Heckenrath und Rahn.
Bei allen Pferdespielen wollte ein jeder
Fritz Tiedemann oder Hans Günther Winkler sein. Lieber noch Thiedemann mit Meteor.
Als Holsteiner aus dem nahegelegenen Elmshorn stand er uns einfach näher als
Winkler aus dem fernen Warendorf, obwohl der Name seiner Stute Halla irgendwie
leichter über die Zunge rutschte als Meteor.
Else mit ihrem letzten Fohlen
Irgendwann im Frühsommer 1956, ich
war gerade sechs Jahre alt, erreichte ich den Höhepunkt meiner reiterlichen
Karriere. Meine ein Jahr jüngere Schwester und ich stromerten über den Hof und
durch die Stallungen. Im Kälberlaufstall war Leben, obwohl die Kälber
eigentlich draußen auf der hofnahen Kälberweide waren. Im Stall fanden wir Else
vor, die Holsteiner Stute, die nach Einzug des 27 PS Ritscher Treckers auf
unserem Hof das einzig verbliebene Pferd war. Neugierig kam sie zu uns Kindern.
Lass uns Olympia spielen.
Und wie geht das?
Wir sind Deutschlands beste Reiter.
Ich bin Fritz Thiedemann.
Und ich?, fragte meine Schwester.
Du bist Hans Günther Winkler.
Das ist doch ein Mann.
Macht nix, ist doch nur ein Spiel.
Und welche Pferde?
Das war eine gute Frage. Im Stall war
nur dieses eine Pferd.
Wir können auf den Stallbesen reiten!
Spinnst du? Thiedemann und Winkler
auf einem Stallbesen? Und das bei Olympia? Das geht gar nicht. Wir nehmen Else.
Fritz Thiedemann Hans Günther Winkler
(Jörg Petersen) (Franziska
Petersen)
Und wie kommen wir auf sie rauf?
Das war nun ein echtes Problem, das
hier und jetzt von Deutschlands Reiterelite gelöst werden musste. Es gab nur
eine Möglichkeit. Else musste parallel
zum Fachwerk mit den Kuhketten gelotst werden. Dorthin, wo früher noch
Rinder angebunden waren. Wir kletterten also oben auf den waagerechten
Balken und hatten eine Höhe, von der aus
ein Überstieg auf den Pferderücken machbar schien. Else spielte mit. Kaum, dass
sie richtig stand gab ich Kommando.
Jetzt, Winkler, los rüber!
Durch Elses dicken Bauch war der
Rücken ganz schön weit weg vom Balken und beinahe wäre Winkler wieder vom Pferderücken abgerutscht, verschwunden
zwischen Pferdebauch und Gebälk wie ein Alpinist in einer Gletscherspalte.
Die Mähne, Winkler, du musst an der
Mähne ziehen!
Das hat dann auch geklappt.
Else hatte allerdings den Ruck an
ihrer Mähne fehlgedeutet und startete ins alles entscheidende Turnier, bevor
Thiedemann auch nur eine leise Chance hatte, auf ihren Rücken zu kommen. So
hatte sich meine Schwester das Spiel nicht gedacht. Als Else dann vom Schritt
in leichten Trab verfiel, war es um Hans Günther Winklers Fassung endgültig
geschehen. Sie schrie, dass sie runter wolle und keine Lust mehr hatte zu
diesem Spiel. Fritz Thiedemann arbeitet fieberhaft an einem Rettungsplan für
seinen Sportskameraden. Mit einer Hand Hafer aus der Futterkiste gelang es ihm,
Else zurück an den Balken zu holen. Bevor sie sich wieder weiter bewegte schwang
Fritz Thiedemann sich mit so viel Schwung vom Balken auf den Pferderücken, dass
er um Haaresbreite auf der anderen Seite der Stute im Mist gelandet wäre.
Aber eben nur um Haaresbreite.
Winkler hatte, eng umschlungen von
seinem Mannschaftskameraden Thiedemann wieder zu der von ihm bekannten Ruhe
zurückgefunden. Für Thiedemann stand einem erfolgreichen Olympiaritt jedenfalls
nichts mehr im Wege.
Und nun? Fragt Winkler.
Nun geht es los.
Aus Mangel an weiteren Darstellern
schlüpfte Thiedemann in seine zweite Rolle als Radioreporter.
Begrüßen Sie bitte Fritz Thiedemann
und Hans Günther Winkler auf Meteor.
Wieso nicht auf Halla?
Weil die beiden nur ein Pferd haben.
Ja und, dann heißt es Halla.
Wenn wir uns jetzt nicht
konzentrieren, wird nichts aus der Goldmedaille.
Obwohl Winkler das verstand, gefiel
ihm nicht auf Meteor zu starten. Winkler wurde ebenfalls zum Sportredakteur.
Meine Damen und Herren, was ist denn
das? Hans Günther Winkler und Fritz Thiedemann reiten erstmalig nicht auf
Meteor und Halla. Ein völlig neues Pferd, das die beiden da vorführen. Soeben bekomme
ich eine Nachricht. Die Stute heißt Else und kommt aus Groß Kramerfeld bei
Neumünster und Segeberg.
Else lässt sich nicht anmerken, dass
einige tausend Menschen ihrem Ritt zuschauen. Fehlerfrei überwindet sie im
Schritt die ersten Hindernisse.
Und, wie wird dieses Pferd den
Wassergraben meistern?, kam vom ersten Radioreporter.
Als Fritz Thiedemann und zunehmend
auch als Jörg Petersen vom Hermannshof machte er sich Gedanken darüber, wie
sich der echte Thiedemann und der echte Winkler auf diesem breiten Pferderücken
mit waagerecht abstehenden Beinen überhaupt halten können.
Zeitgleich spürte Else, dass bei
diesem Ritt alles auf dem Spiel stand. Gold für Deutschland. Sie legte noch
einmal Tempo zu und verfiel in leichten Trab.
Die Kinderkörper hüpften bei jedem
Schritt des Pferdes. Fritz Thiedemann wollte noch einmal die bevorstehende
Goldmedaille als Radioreporter ankündigen. Er brach seine Moderation ab, weil die
Ansage aus seinem Mund nur in zerhackten Brocken herauskam. Normalerweise
hätten sich Bruder und Schwester über
diese witzige Lautfolge köstlich amüsiert. Aber es war nicht mehr die Zeit zu
lachen. Es wurde für Thiedemann und Winkler immer schwieriger sich auf dem
Pferderücke zu halten. Der Spaß eskalierte zu einem Höllenritt, der für die
beiden Weltklassereiter in allernächster Zeit mit einem Sturz enden musste.
Hans Günther Winkler wimmerte schon
und bat Fritz Thiedemann, den Ritt sofort abzubrechen. Der hätte das auch
liebend gern getan. Mit Meteor, so hat er später erzählt, wäre es ihm auch
gelungen. Nicht aber mit Else.
Und dann geschah ein kleines Wunder.
Else ging im Schritt um dann ihre weitere Mitarbeit gänzlich einzustellen. Weit
weg von der Aufstiegshilfe, weit entfernt von irgendwelchen Medaillenrängen
verabschiedete sie sich aus dem olympischen Turnier, blieb einfach stehen.
Und nun, fragt Winkler.
War nix mit Gold. Wir müssen hier
runter.
Wie? Das ist so hoch.
Thiedemann wusste auch nicht, was er
tun sollte. Seine Beine schmerzten vom unfreiwilligen Spagat auf dem
Pferderücken. Obwohl ein gutes Jahr älter als Winkler, traute auch er sich
nicht vom Pferd zu rutschen. Hans Günther Winkler gingen die Nerven durch. Er
begann wie in tiefster Todesangst zu schreien.
Mamaaaa! Hiiiilfeeee! Hilfeee!
Das war zu viel für Else. So hatte
sie es ja auch nicht gemeint und glaubte, dass sie wieder weiter laufen sollte.
Weil das aber auch nicht im Sinne des
großen Champions aus Elmshorn war, fiel der jetzt auch noch in das
Hilfegeschrei von Winkler ein.
Else hat das wiederum als Aufforderung
genommen, einen Zahn zuzulegen.
Deutschlands Goldjungen waren
endgültig am Ende. Warum hörte bloß niemand, dass es hier inzwischen schon um
viel mehr als Gold für Deutschland ging.
Hier ging es ums nackte Überleben.
Den Eindruck hatte auch die Mutter
von Thiedemann und Winkler. Sie kam gerade mit zwei schweren Einkaufstaschen
die Hofauffahrt hoch. Als sie das Geschrei vernahm, rauschten die Einkäufe aufs
Hofpflaster und sie rannte entsetzt dem Geschrei nach.
Gott sei Dank!
Im Laufstall angekommen sah sie ihre
Kinder wohlbehalten aber völlig aufgelöst auf der alten Else sitzen. Die war in
Anbetracht des neuen Gastes im Stall stehen geblieben. Mutter Petersen
schlüpfte durch das Balkenfachwerk und nacheinander rutschten Thiedemann und
Winkler in die Arme der Mutter.
Das war Elses einzige und letzte
Olympiateilnahme.
Meine übrigens auch.
Reiten war nichts für mich,
jedenfalls nicht mit so kurzen Beinen.
Ziemlich geschafft von unserem
Alptraumritt lagen wir abends unter unseren Bettdecken. Ich wollte gerade
einschlafen, als ich vom Nachbarbett zurück in die Welt der Wachen geholt
wurde.
Thiedemann?
Ja.
Mit Halla wäre das nicht passiert.
Mit Meteor auch nicht, Gute Nacht
Winkler, schlaf gut!
Gute Nacht Thiedemann.
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