Der Fall des
Eisernen Vorhangs hat es möglich gemacht. Erst Litauen und die Kurische
Nehrung, dann Estland mit seiner wunderschönen Hauptstadt Tallin und nun war
Lettland dran. Stück für Stück, Jahr für Jahr erschlossen wir uns die Schönheit
der Baltischen Staaten.
Lettland,
Oktober 2006. Nicht gerade die schönste Zeit zum Reisen, nicht nach Osten dem
Winter entgegen. Es war regnerisch, stürmisch, die letzten Blätter warteten
darauf auf den Boden zu fallen und nur selten bahnten sich Sonnenstrahlen durch
den grauen Himmel.
Wir wohnten
draußen in der Vorstadt, das wirklich
schöne Hotel lag mitten in einem hässlichen Gewerbegebiet. Der Weg von der
Straßenbahnstation war dunkel und nie wusste man, ob der Fußweg nur unter einer
dünnen Wasserschicht lag oder ob sich unter der Wasserfläche ein tiefes Loch
befand.
Schon von
Deutschland hatten wir uns Leihfahrräder organisiert, weil wir in anderen
Städten erlebt haben, wie schön es ist sich die Stadt mit dem Fahrrad zu
erschließen. So sollte es auch in Riga sein. Aber hier war alles anders.
In der ganzen Stadt gab es nur zwei Fahrradverleihe. Das hat
einen guten Grund: Riga ist damals absolut keine Fahrradstadt gewesen. Keine
Radwege, hohe Bordsteine, Schlaglöcher unter Pfützen, Spritzwasser von
vorbeifahrenden Autos und die ständige, uns vom Verleiher implantierte Angst
vor Fahrraddieben.
Sehenswürdigkeiten in Riga
Trotz aller
Erschwernisse haben uns die Fahrräder ganz gut geholfen die Sehenswürdigkeiten
der Stadt schnell zu erreichen. Wir haben alles gesehen, was uns der
Reiseführer empfahl. Die großen Kirchen, Museen, Parks, ganze Viertel mit
herrlichen Jugendstilfassaden und enge Altstadtgassen.
Für unseren
letzten Tag hatten wir uns vorgenommen,
ein Freilichtmuseum am östlichen Rand Rigas zu besuchen. Häuser und Höfe aus
ganz Lettland sollten hier in äußerst reizvolle Landschaft zwischen mehreren
Seen wieder aufgebaut und zu besichtigen sein. Das Museum lag vielleicht 7 oder
8 Kilometer von unserem Quartier entfernt. Das Wetter novembergrau im Oktober
aber es blieb trocken.
Also
Fahrrad!
Wir radelten
mit unseren Mountain Bikes auf Rigas Ausfallstraßen in Richtung Osten. In einer
scharfen Linkskurve hielt ich zum Kartenstudium an. Links Plattenbauten und im
Hintergrund die Türme der Kirchen in der Altstadt. Rechts von mir Wald. Nach
meinem Übersichtsplan schien es kein Risiko zu sein, durch den Wald abzukürzen.
Selbst, wenn wir die Richtung etwas verfehlt hätten, hätten wir irgendwann an
ein Seeufer kommen müssen, dessen Ufer wir dann nur in nördliche Richtung
hätten folgen brauchen. Wir nahmen die Abkürzung und bald umgab uns die Stille
eines Waldes mit dem Geruch nassen Laubes in feuchtnebliger Herbstluft. Kein
Verkehrslärm, keine Menschen! Stille und das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Es wurde etwas
hügeliger. Von hinten nähern sich plötzlich zwei junge Männer auf geländegängigen Fahrrädern. Sie fahren den
Hügel schneller aufwärts, als wir ihn bergab fahren würden.
Stele
mit Davidstern
Eines der mit Bordsteinen eingefassten Massengräber
Ich nehme
Anlauf um die nächste Hügelkuppe etwas
leichter zu bezwingen. Der Abstand zwischen uns vergrößert sich. Oben
angekommen halte ich um zu warten. Ein Fuß steht auf einer Steinkante. Während
ich auf Ulla warte fällt mein Blick auf eine Granit Stele mit einem Davidstern.
Noch über den Sinn nachdenkend folgt mein Blick der Steinkante, auf der mein
rechter Fuß ruhte. Die Kante knickte etwa nach fünf Metern im rechten Winkel am
Ende des kleinen Hügels, den sie einfasste, nach rechts ab. Weiter links sehe
ich einen weiteren Hügel mit Einfassung und Stele. Wir fahren einige hundert
Meter weiter. Überall kleine Hügel und wir treffen die Mountainbiker wieder,
die uns überholt hatten. Sie hatten hier ihre Crossstrecke über Steilhänge. Die
kleinen, eingefassten Hügel dienten teilweise als Sprungschanze.
Ulla hielt
neben mir und fragte, ob etwas mit mir sei.
„Kannst du
mal antworten?!“
Ich konnte
nicht - erst einmal nicht.
Mir war ganz
plötzlich klar geworden, dass wir inmitten des Stadtwaldes von Riga waren, in
dem für Tausende Juden, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer nach Transport- und
Lagertortur das Leben endete. Ermordet von deutscher Polizei und deutschen
Wehrmachtsangehörigen. Lettische SS Einheiten dienten als Helfer bei diesem
Morden, vielleicht gezwungen vielleicht aus Sadismus, Antisemitismus oder auch
Opportunismus den Besatzern gegenüber.
Was für ein
tausendfaches, grausames Verbrechen
hatte hier auf dem Boden, auf dem wir nun standen, in den Jahren 1941-1944
stattgefunden!
Während wir
noch brauchten um zu begreifen rasten die Mountainbiker durch und über die
Massengräber.
Mountainbiker nutzten das durch die Massengräber hügelige Gelände
Profil als Crossstrecke.
Das Museum
lag sehr schön entlang des Seeufers. Man musste bis hierher die Schüsse der
Erschießungskommandos gehört haben. Die Gräber lagen nicht weiter als zwei oder
drei Kilometer entfernt.
Wir waren
wohl die einzigen Gäste im Museum und wurden vom Personal herzlich aufgenommen
und in einem der Häuser mit heißem Tee bewirtet. Mindestens zwei unserer
Gastgeberinnen waren so alt, dass sie die Besatzungszeit als Kinder oder
Jugendliche miterlebt haben.
Ich dachte an die Gräber.
Wir fuhren
zurück in die Stadt. Diesmal nicht durch den Wald. Die Straße führte über eine
Brücke, die viele Geleise überspannte. Sie führten zum Hauptbahnhof in die
Stadt.
Sind die,
deren Gräber wir gefunden hatten, über diese Geleise dem Tod entgegengerollt?
Ich sah die
Viehwaggons vor mir, vollgestopft mit Menschen, die eine qualvolle mehrtägige
Reise durch ganz Europa hinter sich hatten.
Im Hotel
legte ich mich aufs Bett und blätterte durch den Reiseführer auf der Suche nach
Hinweisen auf die Gräber im Wald. Ich fand nichts. Auch in den Stadtplänen war
die Stätte des Grauens nicht ausgewiesen.
Am Folgetag
flogen wir zurück nach Berlin. In Zehlendorf hatten wir bei Ullas Schwester
unser Auto abgestellt. Von Berlin Schönefeld ging es mit S und U-Bahn bis zur
Station Onkel Toms Hütte. Wir zogen unsere Rollkoffer durch das Herbstlaub über
die Riemeisterstraße in Richtung Sophie-Charlotte Straße. Ich ging hinter den
beiden Schwestern. Der Koffer mit seinen kleinen Rollen schob das Laub zusammen
bis es so viel wurde, dass es seitlich weggedrückt wurde. Ich guckte mir das
Spiel, das der Koffer mit dem Laub trieb, an bis plötzlich ein kleines metallenes
Dreieck unter dem Laub zu sehen war. Ich schob das Laub mit dem Fuß beiseite
und erkannte zwei Stolpersteine aus Messing eingelassen im Bürgersteig vor der
Hausnummer 78 in der Riemeisterstraße.
Ich erkannte die Stolpersteine sofort, sie waren mir schon anderorts begegnet.
In der Oberfläche las ich die Inschriften:
Hier wohnte Gertrud
Prager geb, Friedländer, JG 1882, deportiert nach Riga, ermordet 1942.
Hier wohnte Eugen
Prager, JG 1876, deportiert nach Riga, ermordet 1942.
Stolpersteine,
die in der Riemeisterstraße vor dem Haus Nr.78 im Bürgersteig eingelassen sind.
Sie sollen an das Schicksal des Ehepaares Prager, das vor der Deportation hier
lebte, erinnern.
War es Zufall oder Schicksal?
Merkwürdig war es zumindest.
Tags zuvor befanden wir uns am
Ort des Grauens und einen Tag später, aber einige hundert Kilometer weiter
westlich stehe ich vor dem Haus des Ehepaares Prager, das dort im Wald von Biķernieki, am
Stadtrand von Riga 1942 ermordet wurde.
Rechercheergebnisse nach der Reise:
Wir waren durch Zufall in den Wald von Biķernieki geraten. Hier hatten in der Zeit von 1941-1944 die
Erschießungen von 35.000 – 46.500 Menschen stattgefunden. Unter ihnen
nachweislich ca. 20.000 Juden aus Lettland, Deutschland, Österreich und
Tschechien sowie ca. 10.000 Kriegsgefangene und 5.000 Widerstandskämpfer. Die
Erschießungskommandos wurden zu einem großen Teil aus der lettischen SS
zusammengestellt. Das mag eine Erklärung dafür sein, dass der junge lettische
Staat diese Dunkelseite seiner Geschichte am liebsten ausgeblendet hat. Das
erklärt, warum es keine Hinweisschilder, keine Einträge in Stadtplänen und
keine Erwähnung in unserem Reiseführer gab. Wir sind nur knapp 200 Meter an der
2001 mit Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der
finanziellen Hilfe einiger großer deutscher Wirtschaftsunternehmen errichteten
Gedenkstätte vorbeigeradelt. Wir hätten die Gedenkstätte gerne besucht, hätten
wir von ihrer Existenz gewusst. 2006 war die lettische Gesellschaft noch nicht
so weit, angemessen und offen mit den
schrecklichen Ereignissen im Wald von Biķernieki umzugehen.
Vielleicht wussten die jungen Biker nicht einmal, dass sie ihre hügelige
Rennstrecke nicht nur der kieferbestandenen Binnendünen Landschaft zu verdanken
hatten. Wäre es anders, könnte ich es nicht verstehen, dass man Gertrud und
Eugen Prager und all den vielen anderen Tausenden Toten hier im Wald von Biķernieki nicht den nötigen Respekt erweist.
Zu meiner Freude konnte ich nun 10 Jahre nach meinem
Rigabesuch feststellen, dass das heutige Lettland das tausendfache Sterben in
und um Riga nicht mehr aus der eigenen Geschichte ausblendet.
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