Samstag, 10. Dezember 2016

Riga - und wovon wir nichts gewusst haben



Der Fall des Eisernen Vorhangs hat es möglich gemacht. Erst Litauen und die Kurische Nehrung, dann Estland mit seiner wunderschönen Hauptstadt Tallin und nun war Lettland dran. Stück für Stück, Jahr für Jahr erschlossen wir uns die Schönheit der Baltischen Staaten.
Lettland, Oktober 2006. Nicht gerade die schönste Zeit zum Reisen, nicht nach Osten dem Winter entgegen. Es war regnerisch, stürmisch, die letzten Blätter warteten darauf auf den Boden zu fallen und nur selten bahnten sich Sonnenstrahlen durch den grauen Himmel.
Wir wohnten draußen in der Vorstadt, das  wirklich schöne Hotel lag mitten in einem hässlichen Gewerbegebiet. Der Weg von der Straßenbahnstation war dunkel und nie wusste man, ob der Fußweg nur unter einer dünnen Wasserschicht lag oder ob sich unter der Wasserfläche ein tiefes Loch befand.
Schon von Deutschland hatten wir uns Leihfahrräder organisiert, weil wir in anderen Städten erlebt haben, wie schön es ist sich die Stadt mit dem Fahrrad zu erschließen. So sollte es auch in Riga sein. Aber hier war alles anders.
In der ganzen Stadt gab es nur zwei Fahrradverleihe. Das hat einen guten Grund: Riga ist damals absolut keine Fahrradstadt gewesen. Keine Radwege, hohe Bordsteine, Schlaglöcher unter Pfützen, Spritzwasser von vorbeifahrenden Autos und die ständige, uns vom Verleiher implantierte Angst vor Fahrraddieben.


Sehenswürdigkeiten in Riga

Trotz aller Erschwernisse haben uns die Fahrräder ganz gut geholfen die Sehenswürdigkeiten der Stadt schnell zu erreichen. Wir haben alles gesehen, was uns der Reiseführer empfahl. Die großen Kirchen, Museen, Parks, ganze Viertel mit herrlichen Jugendstilfassaden und enge Altstadtgassen.

Für unseren letzten Tag hatten  wir uns vorgenommen, ein Freilichtmuseum am östlichen Rand Rigas zu besuchen. Häuser und Höfe aus ganz Lettland sollten hier in äußerst reizvolle Landschaft zwischen mehreren Seen wieder aufgebaut und zu besichtigen sein. Das Museum lag vielleicht 7 oder 8 Kilometer von unserem Quartier entfernt. Das Wetter novembergrau im Oktober aber es blieb trocken. 
Also Fahrrad!
Wir radelten mit unseren Mountain Bikes auf Rigas Ausfallstraßen in Richtung Osten. In einer scharfen Linkskurve hielt ich zum Kartenstudium an. Links Plattenbauten und im Hintergrund die Türme der Kirchen in der Altstadt. Rechts von mir Wald. Nach meinem Übersichtsplan schien es kein Risiko zu sein, durch den Wald abzukürzen. Selbst, wenn wir die Richtung etwas verfehlt hätten, hätten wir irgendwann an ein Seeufer kommen müssen, dessen Ufer wir dann nur in nördliche Richtung hätten folgen brauchen. Wir nahmen die Abkürzung und bald umgab uns die Stille eines Waldes mit dem Geruch nassen Laubes in feuchtnebliger Herbstluft. Kein Verkehrslärm, keine Menschen! Stille und das Gefühl,  allein auf der Welt zu sein. Es wurde etwas hügeliger. Von hinten nähern sich plötzlich zwei junge Männer auf  geländegängigen Fahrrädern. Sie fahren den Hügel schneller aufwärts, als wir ihn bergab fahren würden.



                                      
 






 Stele mit Davidstern



                                    





Eines der mit Bordsteinen eingefassten Massengräber

                               
Ich nehme Anlauf um die nächste Hügelkuppe  etwas leichter zu bezwingen. Der Abstand zwischen uns vergrößert sich. Oben angekommen halte ich um zu warten. Ein Fuß steht auf einer Steinkante. Während ich auf Ulla warte fällt mein Blick auf eine Granit Stele mit einem Davidstern. Noch über den Sinn nachdenkend folgt mein Blick der Steinkante, auf der mein rechter Fuß ruhte. Die Kante knickte etwa nach fünf Metern im rechten Winkel am Ende des kleinen Hügels, den sie einfasste, nach rechts ab. Weiter links sehe ich einen weiteren Hügel mit Einfassung und Stele. Wir fahren einige hundert Meter weiter. Überall kleine Hügel und wir treffen die Mountainbiker wieder, die uns überholt hatten. Sie hatten hier ihre Crossstrecke über Steilhänge. Die kleinen, eingefassten Hügel dienten teilweise als Sprungschanze.

Ulla hielt neben mir und fragte, ob etwas mit mir sei.
„Kannst du mal antworten?!“
Ich konnte nicht - erst einmal nicht.
Mir war ganz plötzlich klar geworden, dass wir inmitten des Stadtwaldes von Riga waren, in dem für Tausende Juden, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer nach Transport-  und  Lagertortur das Leben endete. Ermordet von deutscher Polizei und deutschen Wehrmachtsangehörigen. Lettische SS Einheiten dienten als Helfer bei diesem Morden, vielleicht gezwungen vielleicht  aus Sadismus, Antisemitismus oder auch Opportunismus den Besatzern gegenüber. 
Was für ein tausendfaches,  grausames Verbrechen hatte hier auf dem Boden, auf dem wir nun standen, in den Jahren 1941-1944 stattgefunden!
Während wir noch brauchten um zu begreifen rasten die Mountainbiker durch und über die Massengräber.


Mountainbiker nutzten das durch die Massengräber hügelige Gelände Profil als Crossstrecke.

Das Museum lag sehr schön entlang des Seeufers. Man musste bis hierher die Schüsse der Erschießungskommandos gehört haben. Die Gräber lagen nicht weiter als zwei oder drei Kilometer entfernt.
Wir waren wohl die einzigen Gäste im Museum und wurden vom Personal herzlich aufgenommen und in einem der Häuser mit heißem Tee bewirtet. Mindestens zwei unserer Gastgeberinnen waren so alt, dass sie die Besatzungszeit als Kinder oder Jugendliche miterlebt haben.
 Ich dachte an die Gräber.

Wir fuhren zurück in die Stadt. Diesmal nicht durch den Wald. Die Straße führte über eine Brücke, die viele Geleise überspannte. Sie führten zum Hauptbahnhof in die Stadt.
Sind die, deren Gräber wir gefunden hatten, über diese Geleise dem Tod entgegengerollt?
Ich sah die Viehwaggons vor mir, vollgestopft mit Menschen, die eine qualvolle mehrtägige Reise durch ganz Europa hinter sich hatten.

Im Hotel legte ich mich aufs Bett und blätterte durch den Reiseführer auf der Suche nach Hinweisen auf die Gräber im Wald. Ich fand nichts. Auch in den Stadtplänen war die Stätte des Grauens nicht ausgewiesen.

Am Folgetag flogen wir zurück nach Berlin. In Zehlendorf hatten wir bei Ullas Schwester unser Auto abgestellt. Von Berlin Schönefeld ging es mit S und U-Bahn bis zur Station Onkel Toms Hütte. Wir zogen unsere Rollkoffer durch das Herbstlaub über die Riemeisterstraße in Richtung Sophie-Charlotte Straße. Ich ging hinter den beiden Schwestern. Der Koffer mit seinen kleinen Rollen schob das Laub zusammen bis es so viel wurde, dass es seitlich weggedrückt wurde. Ich guckte mir das Spiel, das der Koffer mit dem Laub trieb, an bis plötzlich ein kleines metallenes Dreieck unter dem Laub zu sehen war. Ich schob das Laub mit dem Fuß beiseite und erkannte zwei Stolpersteine aus Messing eingelassen im Bürgersteig vor der Hausnummer  78 in der Riemeisterstraße. Ich erkannte die Stolpersteine sofort, sie waren mir schon anderorts begegnet. In der Oberfläche las ich die Inschriften:

Hier wohnte Gertrud Prager geb, Friedländer, JG 1882, deportiert nach Riga, ermordet 1942.
Hier wohnte Eugen Prager, JG 1876, deportiert nach Riga, ermordet 1942.

                          

Stolpersteine, die in der Riemeisterstraße vor dem Haus Nr.78 im Bürgersteig eingelassen sind. Sie sollen an das Schicksal des Ehepaares Prager, das vor der Deportation hier lebte, erinnern.

War es Zufall oder Schicksal? Merkwürdig war es zumindest.
Tags zuvor befanden wir uns am Ort des Grauens und einen Tag später, aber einige hundert Kilometer weiter westlich stehe ich vor dem Haus des Ehepaares Prager, das dort im Wald von Biķernieki, am Stadtrand von Riga 1942 ermordet wurde.

Rechercheergebnisse nach der Reise:
Wir waren durch Zufall in den Wald von Biķernieki geraten. Hier hatten in der Zeit von 1941-1944 die Erschießungen von 35.000 – 46.500 Menschen stattgefunden. Unter ihnen nachweislich ca. 20.000 Juden aus Lettland, Deutschland, Österreich und Tschechien sowie ca. 10.000 Kriegsgefangene und 5.000 Widerstandskämpfer. Die Erschießungskommandos wurden zu einem großen Teil aus der lettischen SS zusammengestellt. Das mag eine Erklärung dafür sein, dass der junge lettische Staat diese Dunkelseite seiner Geschichte am liebsten ausgeblendet hat. Das erklärt, warum es keine Hinweisschilder, keine Einträge in Stadtplänen und keine Erwähnung in unserem Reiseführer gab. Wir sind nur knapp 200 Meter an der 2001 mit Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der finanziellen Hilfe einiger großer deutscher Wirtschaftsunternehmen errichteten Gedenkstätte vorbeigeradelt. Wir hätten die Gedenkstätte gerne besucht, hätten wir von ihrer Existenz gewusst. 2006 war die lettische Gesellschaft noch nicht so weit,  angemessen und offen mit den schrecklichen Ereignissen im Wald von Biķernieki umzugehen. Vielleicht wussten die jungen Biker nicht einmal, dass sie ihre hügelige Rennstrecke nicht nur der kieferbestandenen Binnendünen Landschaft zu verdanken hatten. Wäre es anders, könnte ich es nicht verstehen, dass man Gertrud und Eugen Prager und all den vielen anderen Tausenden Toten hier im Wald von Biķernieki nicht den nötigen Respekt erweist.
Zu meiner Freude konnte ich nun 10 Jahre nach meinem Rigabesuch feststellen, dass das heutige Lettland das tausendfache Sterben in und um Riga nicht mehr aus der eigenen Geschichte ausblendet.







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