Ich weiß noch genau, wie Alex zu uns auf den Hof kam. Damals war ich fünf oder vielleicht sechs Jahre und, obwohl Alex nur zwei Tage Mitglied unserer kleinen Hofgemeinschaft war, kann ich mich heute noch an viele Einzelheiten erinnern.
Es muss
Herbst gewesen sein. Ich kann es nicht genau sagen, aber im Herbst wurden
die Rüben geerntet. Ziemlich spät sogar im Herbst, ich habe ein Bild vor Augen
von langen Reihen gezogener Rüben, deren Blätter von Raureif überzogen waren.
Ja, und Alex kam mitten in der Rübenernte zu uns. Ich war allein auf dem Hof, kam
vielleicht gerade von Heinzi, meinem Spielkameraden von gegenüber. Das goldbraune Lindenlaub mit den Füßen vor
mich her schiebend vernahm ich von der Dorfstraße das Geräusch eines Autos
begleitet von dem Hufgeklapper eines trabenden Pferdes.
Ein Auto in
unserem Dorf?
Damals, 1954 oder 1955 gab es nur zwei Autos,
die gelegentlich durchs Dorf fuhren. Tamme Metjes, der Viehhändler und
Schlachter aus Neumünster und unser alter, weißhaariger Hausarzt Dr. Cornils,
auch aus Neumünster. Sofort wandte ich
meine Aufmerksamkeit von den Laubhaufen in der Lindenallee ab und blickte in
Richtung Dorfstraße.
Eine Seltenheit in jenen Tagen. Ein Mercedes wie ihn Tamme
Metjes, unser Viehhändler, fuhr.
Das Geräusch
von Motor und Hufen wurde lauter und dann fuhr der schwarze Mercedes von Tamme
Metjes nicht nur in mein Blickfeld: Er
bog sogar in die Lindenallee ein, die unseren Hof mit der Dorfstraße
verband. Der Mercedes auf unserem Hof allein
war schon sensationell. Das Hufgeklapper kam von einem aus meinem damaligen
Empfinden riesigen braunen Pferd, das Tamme Metjes einhändig lenkend mit der
linken Hand bei ausgestrecktem Arm durch das geöffnete Seitenfenster neben dem fahrenden Auto in
leichtem Trab mit sich führte. Genau neben mir blieb das ungewöhnliche Gespann
stehen. Gerade an der Brust des Braunen vorbei konnte ich Tamme Metjes sehen.
Ich kannte ihn und sein Auto von früheren Besuchen. Das Pferd war neu für mich
und rief trotz allen Respektes wegen seiner Größe Neugier hervor. Vielleicht
hatten Bauernsöhne in jener Zeit das gleiche Kribbeln im Bauch, das heute Bauernsöhne
verspüren, wenn sie neben den riesigen Hinterrädern eines Fendt 700 Vario mit 240 PS stehen.
„Is dien
Vadder tau Huus, Jung?“
„Weiß nich,
vielleicht im Stall.“
„Machs mool
kieken? Sech em mool, dat Tamme Metjes mit dat neege Peer dor is.“
Ich fand ihn
im Kuhstall beim Ausmisten.
„Kanns mal
kommen. Tamme Metjes is da und ich soll dir sagen, dass das neue Pferd da ist.“
„Jung, was
hast du da bloß verstanden. Neues Pferd? Wir kriegen kein neues Pferd.“
Während er
sprach stellte er die Schaufel neben die Mistgabel, die bereits an der
Stallwand lehnte. Langsam humpelte er
mit seinem steifen Bein den Mistgang runter raus auf den Hof und ich
hinterher.
Es interessierte mich schon, warum er nichts
von unserem neuen Pferd wusste.
Tamme Metjes
war inzwischen ausgestiegen und lehnte, das Pferd am Halfter haltend, an seinem
immer noch laufenden Mercedes.
„Dach Kueert
(Kurt), ick heb di dien neeget Peer mitbröcht.“
„Dach Tamme.
Ick har keen Peer köfft un ick will ook keen Peer köpen. Ick heb all dree Arbeidspeer un de olle Else.
Dat langt.“
Else, unsere
alte Holsteiner Stute, konnte höchstens noch den einachsigen Milchhänger
ziehen, und auch das war ihr manchmal schon zu schwer. Sie war aber das erste
Pferd meiner Eltern, als sie den Hof übernahmen, und nun erhielt sie für
jahrlange treue Dienste ihr Gnadenbrot auf dem Hermannshof.
„Weet ick
doch woll, Kueert, oober passen de hei
good tau diene annern dree Brunen.“
„Mach woll
ween. Oober schasst se man ook all satt kreegen.“
„An
Goorlanner Wech weern diene Lüe an Rööbenföhrn. Hebb doch sehn, as wie dat eene
Peer sick afmaddelt het mit den swoorn Kastenwogen. De kann woll gau
noch´n Kollech bruken. Dann kanns du mit
twee Woogen tweespännich föhrn. Ankieken kanns em jo. Köst jo noch nix.“
Kurt Petersen
wäre kein echter Bauer gewesen, wenn er sich das Pferd nicht aus nächster Nähe
angesehen hätte. Er nahm Tamme den Strick aus der Hand und führte den Wallach
im weiten Kreis auf dem Hof herum. Irgendwie hatte der Pferdehändler schon
Recht. Der Braune war stark gebaut und machte eine gute Figur. Würde wirklich
gut zu den drei anderen passen. Und das Argument, dass die Ernte bei zwei zweispännigen Fuhrwerken schneller
drin wäre überzeugte ebenso wie der Gedanke an die Feldbestellung. Wie er
später häufiger erzählte, hatte er sich heimlich schon vorgenommen, in den
Handel einzusteigen. Gerade wieder zurück bei Tamme Metjes wollte er sich den Braunen, der vom
Pferdehändler „Alex“ genannt wurde, noch einmal von der anderen Seite ansehen. Tamme
übernahm seinen Alex wieder.
Über das
längere Bein humpelnd umkreiste mein Vater
Alex. Mit seinem einen Auge - das andere
hatte er irgendwo vor El Alamein in der libyschen Wüste verloren - inspizierte er Muskeln und Rückenlinie des
Pferdes als er abrupt stehen blieb. Er sah zum ersten Mal Alex Kopf von dieser
Seite.
„Ne, Tamme,
denn kann ick nich bruken.“
„Worüm
nich?“
„De het jo
nur een Oog. Ne ´n Eenoog will ick nich hem!“
„Wat is denn
so slecht an Eenoog? Kueert du hest doch ook bloots een Oog.“
Vater tat
so, als hätte er es nicht gehört.
„Ne, Tamme ,
`n Eenoog kann ick nich bruken. Nimm
em weller mit no Huus.“
„Wat hest du
gegen Eenoog? Du spannst em mit dat eene Oog no de Strootensiet in. Op de anner
Siet, de Siet, wo keen Oog is, door is ook nix tau kieken. Dor löpt sien
Kollech, den hei bald in- un utwennich
kennt. Denn brukt hei nich antaukieken.“
„Hest jo recht, Tamme, oober hei is man´n
Eenoog.“
„Nu vertell
ick di wat, Kueert, wat hei op´n Hinwech nich süht, dat süht hei op´n Trüchwech!“
Und dann, nach
kurzer Pause, fuhr er fort:
„Du behölls Alex hier un probeers em ut. Wenn
dat nich geiht mit jau, kummt hei furts weller trüch no mi.“
Das war ein faires Angebot. Über Geld war noch
kein Wort gefallen und, weil der Vorschlag für meinen Vater völlig ohne Risiko
war, nahm er das Angebot von Tamme Metjes an. Der Viehhändler wuchtete seinen
mächtigen graubekittelten Körper hinter
das Lenkrad, drehte eine Runde um sein Pferd, tippte im Vorbeifahren an die
breite Krempe seines grauen Filzhutes und verschwand auf die Dorfstraße.
Mehrere Dorfkinder, angelockt durch das Auto, beobachteten aus sicherer Distanz
vom Milchbock aus, was sich auf dem Hermannshof tat. Mit Sicherheit wusste halb
Groß Kummerfeld bereits zum Abendessen, dass Kurt Petersen ein neues Pferd hat.
Alex´ zwei
Tage in der Hofgemeinschaft des Hermannshofes begannen völlig unspektakulär und
problemlos.
Alex,
ein schöner Brauner, wie dieser. Das fehlende Auge, wenn eines fehlt, muss auf
der anderen Seite sein.
Am nächsten
Tag wurde Alex eingespannt. An seiner
Seite ein bewährtes und zuverlässiges älteres Pferd. Mein Vater übernahm
das zweite Gespann mit dem „Neuen“. Er hatte den Rat des Viehhändlers befolgt
und das Pferd mit dem einen Auge zur Straßenmitte eingespannt. Nachbarn, die
zufällig mitbekamen wie die zwei Ackerwagen
zweispännig über das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße rumpelten, glaubten nun
endgültig, dass da ein neues Pferd auf dem Hermannshof ist. Am Gadelander Weg lag der Rübenacker. In den
Tagen zuvor hatten Männer und Frauen bereits die Steckrüben aus der sandigen
Geesterde gezogen, in gerader Reihe mit dem Rübenblatt in eine Richtung
abgelegt, um dann im nächsten Arbeitsschritt mit geschärften Spaten das Kraut
von der Frucht zu trennen. Heute nun
fuhr das erste Gespann durch die Reihen.
Von zwei Seiten stakten die Erntehelfer die Rübenblätter auf den Wagen. Sie
sollten in den nächsten Tagen eine hochwertige Ergänzung des Futters für die
Milchkühe bilden. Der zweite Wagen, mit meinem Vater auf dem Bock, wurde mit
den geköpften Rüben beladen.
Zur
Kaffeepause ließen sich alle Arbeiternnen und Arbeiter auf den mitgebrachten
Strohklappen nieder und verzehrten ihre Butterbrote aus den damals üblichen
nierenförmigen Aluminium Brotdosen.
Ackerwagen zweispännig bei der Rübenernte
Nach der
Pause ging die Arbeit weiter. Der Rübenwagen war halbgefüllt. Geduldig warteten
die Pferde die Frühstückspause ab. Sie dachten nicht im Traum daran, die
schweren Wagen ohne Kommando zu ziehen. Alex schien für sich einen
folgenschweren Entschluss gefasst zu haben. Als mein Vater den schon recht
schweren Ackerwagen um eine Wagenlänge vorfahren wollte, geschah das für alle
Unfassbare. Alex legt sich in vollem Geschirr hin, reißt seinen Macker fast
noch mit zu Boden. Durch nichts ließ er sich zum Aufstehen bewegen. Selbst der
alte Dobbertien, im Weltkrieg I schon bei der Kavallerie gedient und vor dem
Weltkrieg II auf fürstlichen Gestüten gearbeitet, konnte Alex umstimmen.
Dobbertien, der einzige, der mit dem Fahrrad zum Feld gekommen war, wurde zu Frau
Munck in unsere Poststelle geschickt. Dort gab es seinerzeit das einzige
Telefon im Dorf. Tamme Metjes wollte nicht glauben, was er hörte, und versprach
sofort zu kommen. Dobbertien war noch nicht lange zurück, als der schwarze
Mercedes in die Feldzufahrt einbog. Der korpulente Pferdehändler stolperte
durch die Rübenreihen zum Gespann. Alex lag immer noch so, wie er sich nach der
Frühstückspause hingelegt hatte. Auch Tamme Metjes konnte seinen Alex nicht auf
die Beine bringen. Weder Peitschenhiebe noch grobes Gezerre am Halfter waren
erfolgreich.
„Wenn du dat
nich anners willst, is dat eben so“, sagte Tamme zum Pferd und den umstehenden
Männern rief er zu: „Utspannen!“
Alex wähnte
sich am Ziel seiner Wünsche. Die Menschen hatten allem Anschein begriffen, dass
mit ihm diese Schinderei auf dem Rübenacker nicht zu machen sei. Kaum aus dem
Geschirr stand er auf, schüttelte sich und guckte die herumstehenden Männer mit
seinem einen Auge an, als wollte er sagen: „Seht nur, so geht es! Man darf sich
eben nicht alles gefallen lassen!“
„Und nu?“
fragt mein Vater.
„Wat woll,
warst schon wies, wat nu passeert.“
Wortlos nahm
er Alex mit zum Auto und, was nun geschah, kannte ich schon. Tamme Metjes
entschwand mit Alex in Richtung Gadeland so, wie er tags zuvor auf den Hof
gefahren kam: Eine Hand am Steuer, die andere führte das Pferd.
Aufmerksame
Dorfbewohner, die die Hermannshof Gespanne noch nicht auf dem Hinweg gesehen
hatten, glaubten den Gerüchten, dass Kurt Petersen nun zweimal zweispännig
fährt, nicht mehr. Schließlich hatten sie ja mit eigenen Augen gesehen, dass
ein Wagen mit zwei Pferden und ein Wagen mit einem Pferd zum Hof zurückfuhren.
„Und“,
fragte ich meinen Vater auf der Rückfahrt, „was passiert jetzt mit Alex?“
„Weiß ich
nicht und ist mir eigentlich auch scheißegal!“
Er war nicht
allzu gut gelaunt. Ich habe es an seiner Sprache gemerkt. So sprach er sonst
nie mit mir.
Am nächsten
Tag, ich studierte gerade eine Zirkusnummer auf einem Rohrsegment des
Heugebläses ein und hatte mich schon einige Meter auf dem rollenden Rohrstück
fortbewegt, als der Mercedes von Tamme Metjes auf den Hof fuhr. Ich runter vom
Rohr. Hoffentlich sagt er meinem Vater nicht, dass ich mit dem Rohr über den
Hof gerollt bin.
Tamme hält
neben mir und kurbelt die Scheibe runter.
„Dach mien
Jung. Is dien Vadder dor?“
„Nee!“
Hätte er
doch eigentlich wissen müssen. Sonst wäre ich doch niemals mit dem kurzen Rohrende auf dem Hof unterwegs gewesen.
Dann reichte
er mir ein rosafarbenes Paket durch das Fenster.
„Bring dat
man rin un, wenn dien Öllern froogt, wat das is, dann sechst du: Dat is´n Gruß vun Alex.“
Das Auto
rollt vom Hof und ich stehe fast genau an der Stelle, wo ich vor zwei Tagen
„dat Eenoog“ Alex zum ersten Mal gesehen habe. Ich blicke auf das rosa Paket,
den Gruß von Alex, und auf einen Schlag weiß ich, dass Alex mit dem einen Auge
nie wieder einen schweren Wagen ziehen muss.
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