Die Vision von einem konfliktfreien
Miteinander zwischen Menschen, Gänsen und Menschen in Kehdingen
Freiburg
Auf
Einladung der beiden Graugans Brutkolonien Süderelbmündung Wischhafen und
Fähranleger Glückstadt hatten sich zeitgleich mit den Kehdinger Wildganstagen 2016
über 300 Delegierte unterschiedlichster Wildgansarten im Allwördener Außendeich
zum ersten artenübergreifenden Erfahrungsaustausch über elementare, alle Arten
betreffende Probleme eingefunden. Eine zentrale Rolle spielte dabei die
Einschätzung der Rolle, die der Mensch im Leben der Gänse spielt.
Etwas zum
Leidwesen der gastgebenden Graugänse erschienen die Nonnengänse mit fast
doppelt so starker Delegation als ihnen nach Population zugestanden hätte.
Anders als bei der Nahrungsaufnahme, wo
sich durchaus auch einmal mehrere Arten mischen, setzten sich die einzelnen
Arten streng getrennt mit Blick auf das Rednerpult in das zu dieser Zeit noch
satte Außendeichsgras. Nun sollte es sich als Vorteil herausstellen, dass die
Nonnengänse so zahlreich erschienen waren. Umschichtig konnten immer einige von
ihnen die Sicherung gegen potentielle Feinde übernehmen.
Keine
leichte Aufgabe!
Gleich zu
Beginn entschuldigte sich die Versammlungsleiterin bei allen TeilnehmerInnen
über den ungepflegten Zustand des Veranstaltungsortes.
„Es tut mir
leid, dass die Menschen es wieder einmal nicht geschafft haben, die Disteln und
Brennnesseln zeitig zur Rast- und
Zugzeit zu beseitigen. Dabei waren ihnen ja durchaus unsere Forderungen und
Bedürfnisse schon länger bekannt. Witziger Weise haben sie ihre Flächen, auf
denen sie uns nicht haben wollen, in einem ausgezeichneten Zustand. Wen wundert’s
dann noch, dass wir uns auch gerne mal im Getreide und Raps aufhalten. Dazu aber später mehr. Dank
an die Nonnengänse, die heute die Sicherung der Veranstaltung übernommen
haben.“
Zwei
Zwerggänse aus Schweden konnten die Glückstädterin kaum verstehen und mussten
manches Mal von einer benachbarten Nonnengans übersetzen lassen. Eine sehr
nützliche Eigenschaft der Nonnengänse besteht in ihrer Vielsprachigkeit bedingt
durch ihren weiten Zugweg durch die unterschiedlichsten Sprachregionen. Kaum
eine der schwarzweißen Gänse spricht weniger als Russisch, Deutsch und
Englisch. Neben der geringen Population ist die fehlende Vielsprachigkeit der
Hauptgrund für das den seltenen Zwerggänsen fehlende Selbstbewusstsein.
Die
mächtigsten Vögel waren die Kanadagänse.
Lange hatte man im Organisationsteam überlegt, ob man sie, ebenso wie
die Nilgänse, überhaupt zu diesem internationalen Treff zulassen sollte.
Schließlich gehören sie ja eigentlich gar nicht in diese Erdregion. Letztlich
setzten sich aber die liberaleren Kräfte mit dem Argument durch, dass die Gänse
ja nichts dafür könnten, dass sie von den Menschen hierher gebracht worden
seien. Und, dass sie sich aus der Gefangenschaft befreit und dann in Freiheit
kräftig vermehrt hätten, dürfe man ihnen
nicht zum Vorwurf machen.
Drei
Brandgänse unterhalten sich unangemessen laut über die für sie etwas
unglücklich gelaufene Brutsaison. Ein Ordnungsruf liegt förmlich in der Luft.
Etwas
abseits landet gerade die verspätete Delegation Saatgänse. Irgendwie hatten sie
die Windverhältnisse von Otterndorf gegen den starken Ostwind verkehrt
eingeschätzt.
Auf dem
Podium ist ein mächtiger Nonnengans Ganter im besten Alter eingetroffen. Er
soll gleich das Eröffnungsreferat „Braucht die Gans den Menschen?“ halten.
Die Gruppe
Nilgänse steht abseits und lästert über den Referenten ab. Zwei von ihnen
hatten einmal eine Begegnung mit ihm, die sie, obwohl bestimmt nicht so
gemeint, in unguter Erinnerung haben.
„Wahrscheinlich
sind wir hier ohnehin überflüssig. Wenn ich den schon sehe, weiß ich, dass es
doch nur wieder um die Interessen der fetten Nonnis geht.“
„Nonni“ für
Nonnengans hatte sich bei den Nilgänsen eingebürgert, allerdings nur, wenn sie
unter sich waren.
Als
Minderheit unter den Gänsen wollten und konnten sie sich keinen Streit mit den
Nonnengänsen erlauben. Das erklärt auch das Schweigen der Gruppe immer dann,
wenn wieder einmal ein Trupp der schwarzweißen Nonnengänse vorbeizog um sich an
die für sie ausgewiesenen Plätze zu begeben.
Eine
aufgeregte Blessgans watschelt mit dem für sie typischen Gang durch die versammelten
Gänse und ruft immer wieder: „Gibt es hier denn keine Geschäftsordnung? Wir
haben keine Geschäftsordnung.“
„Was will
die blöde „Nonni“ mit einer Geschäftsordnung?“ fragt eine Nilgans halblaut.
Selbst ist
sie so blöd, die Blessgans mit einer „Nonni“ zu verwechseln, und setzt dann noch einen drauf: „Kann doch nicht mal
lesen, die dumme Gans.“
Zustimmendes
Gänsegackern.
Am Rand der
Versammlung entsteht ein kleiner Tumult. Ein Trupp gelbschnäbliger Singschwäne
hatte beim Überflug von Sibirien nach Holland die Versammlung gesehen und
wollte sich nun einmal etwas genauer umsehen.
Da weder Singschwäne noch irgendeine andere Schwanenart auf der Gästeliste standen, verwehrte der
Ordnungsdienst – natürlich Nonnengänse – ihnen lautstark den Zutritt zum
Kongressgelände. Da nützt es auch nichts, dass die Menschen die Schwäne den
Entenvögeln und innerhalb dieser Gruppe der Untergruppe der Gänse zuordnen.
Ein immer
stärker werdendes Rauschen lässt schlagartig alle Gespräche verstummen. Der
Blick der Gänse geht zum Himmel, dem
Rauschen entgegen. 100 Nonnengänse nähern sich dem Allwördener Außendeich von
der Elbe her. Eben noch in klassischer Keilform wechseln die Gänse in fünf
parallel fliegenden Keilen zu jeweils 20 Gänsen. Kurz vor der Tagungsstätte
geschieht etwas Unfassbares. Nach kurzem Durcheinander kommt wieder Ordnung in
das Chaos und die erstaunten KongressteilnehmerInnen können genau über ihren
Köpfen für kurze Zeit den Schriftzug „WGT 2016“ lesen.
„Wildganstreffen
2016“, liest eine der Nilgänse mehr gehaucht als gesprochen und bringt damit
deutlich ihre Anerkennung für die gelungene Formation zum Ausdruck.
Die
Formation löst sich auf und der Gänsetrupp trennt sich in zwei Keile, die nach weiter
Rechts- bzw. Linkskurve Kollisionskurs
fliegen. Die Keile verwandeln sich in Harpunen und kurz bevor sich die beiden
Trupps über den Köpfen der begeisterten Zuschauer wieder begegnen wurden zwei
Pfeile aus den fliegenden Gänseleibern, deren Spitzen sich innerhalb der
nächsten Sekunden treffen müssen. Ja, sie müssen! Anders kann es gar nicht sein!
Kaum eine
Gans am Boden, der nicht der Atem stockt. Und dann eine noch nie gesehene
Sensation: Kurz vor dem unvermeidbar
scheinenden Crash ziehen die Gänse steil nach oben, fliegen einen Looping
leicht geschraubt, um sich dann zur Schlussformation zusammenzufinden.
Die meisten Gänse
unten auf der Marschenweide hatten ihre Köpfe in Anbetracht des zu erwartenden
Unglücks blitzschnell unter ihre Flügel geklemmt und trauten sich erst wieder
hervor, nachdem sie das begeisterte Schwingenklatschen ihrer weniger
ängstlichen Schwestern und Brüder vernahmen.
„Sie kommen
zurück, sie kommen noch einmal“, ruft eine junge Graugans mit aufgeregter
Stimme. „Sie fliegen eine Pyramide!“
Das kam aus
dem Kreis der Nilgänse. Diese Figur war ihnen durch generationenlange
Überlieferung über die Besonderheiten ihrer ursprünglichen Heimat Ägypten
vertrauter als allen anderen hier versammelten Gänsen.
Eine
Kanadagans regte später an, dass diese tollkühne Fliegertruppe im nächsten Jahr
vielleicht einmal ein Ahornblatt wie in der kanadischen Flagge fliegen könnte.
Das hat es
hier an der Unterelbe und auch sonst wo auf der Erde noch nie gegeben: 100
Nonnengänse fliegen in geringer Höhe eine Pyramide! Als wenn das noch nicht
ausgereicht hätte, ließ die Nonnengansstaffel gerade in dem Moment, als das
staunende Publikum über seinem Kopf genau in den Innenraum der Pyramide blickte,
massenweise Gänseblümchen, Logo des ersten internationalen Gänsesymposiums, auf
die KongressteilnehmerInnen herabregnen.
Was für ein
Auftakt!
Riesenbeifall
für die schwarzweißen „Teufelsflieger“ nach ihrer Landung.
Und nicht
nur alle hier versammelten Gänsearten, die das westliche Europa kennt, waren
zutiefst beeindruckt. Nur knapp 1500 Meter entfernt vom geschehen steht Johann
von der Fecht mit dem Feldstecher auf dem Deich und will seine Rinder zählen.
Plötzlich erweckt ein Trupp von mindestens 100 Nonnengänsen seine
Aufmerksamkeit durch ein völlig unkonventionelles Flugverhalten. Was er durch
sein Fernglas sieht, erinnert ihn sofort an exakt geflogene Formationen
britischer Kampfjets. Aber, was er bislang nur aus dem Fernsehen kannte, kann
er hier aus nächster Nähe betrachten und die Kampfjets hier über dem
Allwördener Außendeich sind Nonnengänse.
Kaum dass
das Spektakel vorüber ist, wischt von der Fecht sich über die Augen.
Hat er das
wirklich eben gesehen?
Nonnengänse
fliegen wie nach einer Choreografie Figuren?
Wie soll er
das Gesehene seinen Freunden mitteilen?
Weder seinen
Kegelbrüdern noch den Mitgliedern des Arbeitskreises Fraß Schäden auf Grün- und
Ackerflächen ist das hier zu vermitteln, ohne dass er, bestimmt kein
Gänsefreund, sich der Lächerlichkeit preisgeben würde.
Aber
geschehen ist es eben gerade - vor seinen Augen.
Eine
Pyramide aus Gänseleibern geformt und über die Außendeichsweiden fliegend.
Selbst
Hintze, Ladewig und all die anderen bezahlten Gänsefreunde würden derartige Schilderungen als eine
weitere Provokation von ihm, dem hitzköpfigen Landwirt aus Freiburg,
betrachten. Sein ernsthaft geführter Kampf um Anerkennung der Fraß Schäden und Ausgleichszahlungen könnte Schaden
nehmen.
Von der
Fecht beobachtet, dass sich bei ihm trotz seiner Abneigung gegen die ihm sonst
so verhassten Gänse ein gewisses Maß an Hochachtung einstellt.
Nur drei
Kilometer Luftlinie entfernt feiert der Tourismusverein Kehdingen seine Gänsetage
bei Gänsekeule und Torte. Wem das nicht genügt, der besucht einen der
Fachvorträge, in denen Experten so ziemlich alles aus dem Leben der Gänse
berichten. Zumindest alles, was ihnen bekannt ist, und das ist schon ganz schön viel.
Nur eines
wissen sie zu dem Zeitpunkt noch nicht: Im Allwördener Außendeich tagt
zeitgleich das erste internationale Gänsesympositum und außer einigen hundert Gänsen
unterschiedlicher Arten ist nur der Freiburger Landwirt Johann von der Fecht
Zeuge, wie 100 Nonnengänse in einer Welturaufführung komplizierte Formationen
fliegen. Ja, kompliziert, denn eine mehrdimensionale Pyramide fliegen heißt schon erheblich mehr
als eben nur den Standardkeil zu fliegen.
Schade für
von der Fecht, dass er sich niemandem mitteilen kann. Nicht einmal seiner Frau,
die ihn auch ohne Erzählungen vom Gänseformationsflug schon häufiger mal für etwas
„spinnert“ erklärt.
Auf dem
Kongressgelände haben die gastgebenden Graugänse soeben die Eröffnung mit einem
kleinen Einleitungsreferat über die Tagungsinhalte und mögliche Ziele
abgeschlossen.
Der
Gastredner tritt an das Pult und bedankt sich mit seiner tiefen, sicheren
Stimme und leicht osteuropäischem Akzent
für die Ehre, hier den Gastvortrag halten zu dürfen.
„Liebe Gänse
aller Arten des westlichen Europas. Wir sind hier zusammengekommen dank der
Initiative der beiden hiesigen Grauganskolonien. Dank an euch Schwestern und
Brüder. Ich will mit meinem Vortrag, mit den Ergebnissen meiner Beobachtung der
Menschen, der Natur und, liebe Zuhörerschaft, das soll hier nicht unter den
Tisch fallen, auch einer sehr kritischen Selbstbetrachtung von uns, der großen
Familie der Gänse, dazu beitragen, dass auch künftige Generationen mit der
Gewissheit auf sichere Zugwege und sichere Brut- und Rastplätze leben können. Lasst mich eine elementare Erkenntnis aus
meinen Beobachtungen gleich an den Beginn meiner Ausführungen stellen: Ohne den
Menschen keine Zukunft für die Gans!“
Mit Blick
auf die gar nicht so kleine Gruppe junger und sehr erregter Nonnengänse fährt
der Gänserich fort.
„Ich sehe
euer Transparent, auch ich bin in jungen Jahren unter dem Slogan „Nur eine Erde
ohne Menschen kann eine gute Erde sein!“ jährlich zwischen Irland und dem
Eismeer hin und her geflogen. Aber glaubt mir liebe Freunde, glaubt einem erfahrenen
Ganter, der sich viel Zeit zum Nachdenken genommen hat, das Leben einer Gans
besteht aus mehr als den Farben Schwarz und Weiß. Da gibt es noch die vielen
Grautöne und vergessen wir nicht die ganze Palette mit all den schönen bunten
Farben, wie wir sie aus der Natur kennen. Hüten wir uns vor schnellen, oftmals
zu wenig reflektierten Schlüssen.
Ja, ich
kenne die Menschen, kaum einer von uns hat sich mehr mit ihnen befasst als ich.
Und ich sage auch, dass es nicht wenige Schweine unter ihnen gibt (Beifall von
den organisierten Junggänsen), die uns Gänse und andere Kreaturen ohne
erkennbaren Sinn töten.
Menschen
brechen Grünland um, das uns über Jahrhunderte die Nahrung geboten hat, die wir
benötigen um unsere vom Flug geschwächten Körper wieder aufzupäppeln, Menschen
verscheuchen uns von unseren Rastplätzen, was zu ständigem und völlig unnötigem
Verlust von Fettreserven führt. Ich habe schon von Gänsen gehört, die sich unter
diesen Umständen nicht mehr den Strapazen des Vogelzuges aussetzen wollen.
Ja, es gibt
inzwischen schon Gänse, die hier nicht nur überwintern sondern auch ihre Jungen
aufziehen. Und, liebe Nonnengänse, es sind schon lange nicht mehr nur die
Graugänse, die sich ganzjährig in unseren klassischen Überwinterungsgebieten
aufhalten.
Ich schweife
ab.
Lasst mich
von den unterschiedlichen Menschen berichten, mit denen wir es zu tun haben.
Sie lassen sich ganz leicht in drei Gruppen klassifizieren. Da sind die, die
uns mögen. Mit Abstand die größte Gruppe. Gefolgt sind sie von der Gruppe
derer, denen wir völlig egal sind. Und dann ist da noch die relativ kleine
Gruppe der Menschen, die uns überhaupt nicht mögen, uns vielleicht sogar
hassen.“
Zustimmendes
Geschnatter.
„Unsere
größte Aufmerksamkeit sollten wir der
letztgenannten Gruppe widmen ohne dabei den Bezug zu den uns wohlgesonnenen
Menschen aus dem Blick zu verlieren. Man möchte jetzt meinen, dass wir die
Gruppe Menschen, der wir völlig egal sind, nicht weiter beachten müssen. Ja,
sie sollen heute nicht im Focus der Betrachtung stehen. Nichts desto trotz
müssen wir auch diese Gruppe sehr im Auge behalten. Schlagen sie sich nämlich
auf die Seite einer der beiden anderen Gruppen, wird es, so oder so, gewaltige
Konsequenzen für die Zukunft unserer Völker haben.
Einfache
Gemüter mögen jetzt meinen, dass es ausreiche, sich nur mit unseren Feinden
auseinanderzusetzen. Das ist zu kurz gedacht, wie ich gleich weiter ausführen
werde.
Wir müssen
unsere Freunde pflegen und, aufgepasst liebe Gänse, unsere Feinde auch!“
In der
Zuhörerschaft macht sich Unruhe breit. Zwei Saatgänse überlegen allen Ernstes,
ob sie sich derart irrige Thesen weiter zumuten oder lieber gleich auf das
binnendeichs gelegene Weizenfeld fliegen sollen. Letztlich sind sie zu feige,
alle Blicke auf sich zu ziehen und die Versammlung schon so kurz nach ihrem
Beginn zu verlassen.
„Beruhigt
euch wieder! Ich habe erwartet, dass ihr mit Unverständnis auf meine Worte
reagieren würdet. Vielleicht gelingt es mir ja in meinem weiteren Vortrag, die
Fragezeichen aus euren Blicken verschwinden zu lassen.“
„Reden kann
er ja“, meinte die Nilgans, die noch vor nicht allzu langer Zeit dem Redner
jegliche Kompetenz absprechen wollte.
„Wir müssen
unsere Feinde dazu bringen, uns nicht mehr als ihre Feinde zu sehen. Das allein
ist die Lösung, liebe Gänse!“
„Und wie,
bitte schön, soll das gehen!?“ ruft eine der „Jungnonnis“ aufgeregt über die
Köpfe aller anderen Gänse hinweg und erntet zustimmendes Geraune und Gezische
aus der versammelten Gänseschaar.
„Die Frage
habe ich natürlich erwartet und ich glaube, dass ich auch eine Antwort habe.
Zurzeit haben die Gänsefreunde unter den Menschen die Mehrheit und das Sagen.
Sie machen die Gesetze, die uns derzeit ein sorgenfreies Leben ermöglichen, wie
es nicht einmal die letzten 10 oder sogar 20 Gänsegenerationen vor uns gekannt
haben.
Damit das
auch in der Zukunft noch so ist, müssen wir an zwei beteiligten Gruppen
ansetzen: Bei den „guten“ Menschen und, nun haltet euch fest, bei uns, den
Gänsen!“
Große Unruhe
und Geschnatter unter den KongressteilnehmerInnen. So verwegene Theorien hat
die Gansheit wohl noch nie vernommen.
Der wortgewandte,
erfahrene Ganter hat genau diese
Situation kommen sehen. Er lässt seinem Auditorium noch etwas Zeit und nimmt
einige Schlucke Grüppenwasser zu sich, bevor er sich wieder an das Publikum
wendet.
„Beruhigt
euch! Diskutieren können wir, wenn ich es euch erklärt habe.“
Eine
wohlgeplante Pause gibt der aufgeregten Zuhörerschaft Gelegenheit wieder zur
Ruhe zu kommen.
„Ich sage
nur Vertragsnaturschutz. Die wenigsten von euch werden wissen, was das heißt.
Ihr kennt aber alle die Flächen in Elbnähe: Hohes Gras, Brennesselnester und
Diesteln ohne Ende.“
Zustimmendes
Kopfnicken.
„Diese
wunderschönen „Gänseweiden“ sind von den
„guten“ Menschen aufgekauft worden und dürfen irgendwann im Jahr von den
anderen mit Vieh beschickt werden. Das geschieht angeblich zum Schutze der
Wiesenbrüter. Erst wenn deren Brutzeit vorüber ist, darf dort gemäht werden.
Bis zu dem Zeitpunkt stehen oft schon Brennesseln und Diesteln so hoch, dass kein Vogel dort mehr brüten mag und auch wir
uns dort aus Sicherheitsgründen nicht mehr wohl fühlen.
Was machen
wir?
Wir weichen
aus auf die Getreideflächen oder intensiv bewirtschafteten Grünländer der
Bauern in Elbnähe!
Nun frage
ich euch, wie würdet ihr reagieren, wenn ihr hier nach dem langen Flug aus
arktischen Gebieten eintrefft und die Menschen hätten alles Gras totgespritzt
oder umgepflügt?
Weit und
breit nichts zu essen für uns.
Geht gar
nicht würdet ihr sagen, wovon sollen wir denn leben?“
Aufgeregtes
Geschnatter in der Gänseschaar.
„So, und nun
stellt euch vor, wie es den Bauern hier geht, wenn sie morgens auf ihr Feld
kommen und ihr Getreide oder manchmal auch Raps ist bis auf den Boden runter
abgefressen.
Das, wovon
sie leben wollen und müssen, wurde von uns vernichtet.
Können die
noch mit freundschaftlichen Gefühlen an uns Gänse denken?
Sie können
es nicht!
Es wundert
mich nicht, wenn sie uns am liebsten mit der Flinte vom Himmel holen würden.“
„ Wir müssen
doch auf die neuen Saaten, wenn das elbnahe Grünland aus sicherheitsrelevanten
Gründen für uns nicht mehr in Frage kommt. Abgesehen vom Sicherheitsaspekt
reichen die letzten geeigneten Flächen nicht hinten und vorne, um uns alle satt
zu machen“, ruft eine reifere Nonnengans aus der Mitte des Publikums und erntet
zustimmenden Beifall. „Und außerdem sollen die Bauern doch jetzt irgendwelche
Ausgleichszahlungen für Fraßschäden bekommen. Sollen sich doch nicht so
anstellen.“
Der Referent
kennt die Gans, die da soeben gesprochen hat. Seit einigen Jahren gelingt es
ihr mit ihren populistischen Äußerungen eine immer größer werdende Schaar von
Gänsen um sich zu scharen.
„Deine
Sprüche helfen uns nicht weiter. Es ist doch alles viel komplexer, als du es
siehst. Ich weiß zufällig aus gewöhnlich außerordentlich gut informierten
Kreisen der guten Menschen, dass die Fraßschaden Regulierung völlig
unzureichend ist und zudem durch
Ungleichbehandlung betroffener Landwirte für Unfrieden sorgt.
Meine Lösung
sieht anders aus. Wir müssen von unserer Seite ein Zeichen setzen.“
„Und wie
soll das Zeichen aussehen“? fragt eine
Blessgans aus dem nördlichen Schweden mit leicht skandinavischem Akzent.
„Ich sage
nur Selbstbeschränkung! Selbstbeschränkung in mehrfacher Hinsicht. Wir müssen
von den Äckern fernbleiben.“
„Dann
verhungern wir!“
„Nun lasst
mich doch bitte einmal ausreden. Parallel
zu unserem selbstauferlegten „Ernteverbot“ müssen wir auf die für uns
guten Menschen einwirken, dass sie die Flächen, die sie heute als Vertragsnaturschutzflächen für fast alle Wiesenvögel und besonders auch
für uns Gänse wieder in einen Zustand versetzen, der es den Wiesenvögeln
erlaubt, dort sicher ihre Brut aufzuziehen. Ohne Disteln und Brennnesseln
könnten auch wir Gänse dort angstfrei satt werden, ohne dass wir auf die Äcker
müssen.
Ich höre
schon, dass ihr befürchtet, dass wir von den Flächen allein nicht satt werden
können. Die Befürchtung teile ich mit euch. Deshalb zu einer weiteren
Selbstbeschränkung, die ich für unverzichtbar halte:
Geburtenkontrolle
bei uns! Nicht mehr als ein bis zwei Eier pro Saison ausbrüten oder freiwillig
jedes zweite Jahr komplett auf Nachwuchs
verzichten. Eier legen ja, brüten nein!“
Geschickt
lässt er die Worte auf seine stumme Zuhörerschaft wirken um dann seine Gedanken
weiter auszubreiten.
„Wir müssen
Verhältnisse schaffen, mit denen alle leben können. Den Bauern hier müssen wir
ihr Feindbild nehmen, unseren Freunden unter den Menschen müssen wir das Gefühl
lassen, dass sie ihren wertvollen Beitrag zum Wohle der Natur leisten und wir,
wir …“
„Wir sind
die Looser in diesem Spiel! Wir müssen auf unser Recht uneingeschränkter
Fortpflanzung verzichten“, schreit eine wütende Junggans (Nonnengans natürlich)
vom linken Flügel.
Wohl
durchdacht entgegnet der Referent dem Hitzkopf:
„Nun höre
mir einmal gut zu, mein junger Freund. Wir wären nach meinem Vorschlag nicht
die Looser, wie du es sagst, wir wären die Winner! Mit ein bisschen
Familienplanung nur sorgen wir für gute Stimmung unter den Menschen und, das
ist mir das Wichtigste, gute Stimmung zwischen den Menschen und uns. Wenn es
uns gelingt, unseren Bestand auf die Hälfte zu reduzieren, hat das überhaupt
keine Auswirkungen auf die Arterhaltung. Und, was hindert uns daran, die
„Brutquote“ sofort heraufzusetzen, wenn sich bei uns eine Bestandsgefährdung
abzeichnet? Nichts!“
Absolute Stille
im Auditorium. Wäre jetzt eine Gänsedaune zu Boden geschwebt, man hätte ihren
Aufprall auf dem Boden gehört – glaubt man zumindest in dieser Stille. Dann
durchbricht die erste Gans, eine von den großen Kanadagänsen, die Stille.
„Genial,
einfach genial! Das könnte das Modell Zukunft sein, der Friedenspakt mit den
Menschen für Generationen! Was für ein diplomatischer Schachzug!“
Damit endete
das Schweigen im Außendeich. Kaum eine Gans kann noch an sich halten. Alle sind
am Schnattern und diskutieren „Für“ und „Wider“ des Planes bis die
Versammlungsleiterin um Ruhe bittet.
„Ruhe! Ruhe
bitte. Es wurde mir soeben ein Antrag zur Abstimmung vorgelegt.“
Nachdem endlich
Ruhe auf der Versammlungsstätte eingetreten war formuliert die
Versammlungsleiterin den aus drei Teilen bestehenden Antrag.
·
Hinwirkung auf Änderung der
Bewirtschaftungsauflagen für Vertragsnaturschutzflächen
·
ab sofort keine Äsung auf intensiv genutzten
Acker- und Weideflächen
·
freiwillige Brutkontrolle
Mit stolzer
Genugtuung nimmt der Gastreferent das soeben von der Wahlkommission vorgelegte
Resultat zur Kenntnis. 72% der anwesenden Gänse haben seinen mit tiefster
Überzeugung vorgetragenen Argumenten zugestimmt. 18% haben dagegen gestimmt – unter ihnen
viele der jungen Delegierten. 10% haben sich der Stimmen enthalten oder hatten,
wie 4 der Ringelgänse, schlicht
vergessen im richtigen Moment den Flügel zu erheben.
So endet das
erste internationale Wildganssympositum
im Allwördener Außendeich mit einem kühnen, bis dahin nie für möglich
gehaltenen Ergebnis.
Oktober 2021
Im
Freiburger Kornspeicher richtet der Tourismusverein Kehdingen nun schon zum 2.
Mal gemeinsam mit der Kehdinger Landwirtschaft die Wildganstage aus. Nachdem seit
2017 keine nennenswerten Fraßschäden von den Kehdinger Äckern gemeldet wurden,
gelang es endlich, Gänsefreunde und ehemalige Gänsefeinde an einen Tisch zu
bekommen.
Keiner
wusste mehr so genau, wie es zu den flexiblen Bewirtschaftungsauflagen auf den
Vertragsnaturschutzflächen gekommen war. Fakt ist jedenfalls, dass, seitdem
früher gemäht und früher mit dem Viehauftrieb
begonnen wurde, die Gänse von den Äckern fort blieben. Mit der Rückkehr der
Gänse auf die früher verschmähten Flächen beobachteten die Gänsefreunde unter
den Menschen auch die Rückkehr der Wiesenbrüter auf die kurzgrasigen Weiden im
ehemaligen Außendeich und im Deichvorland.
Sie stellten
auch fest, dass die Gänsepopulation 2017 erschreckend abgenommen hatte um sich
dann aber in den folgenden Jahren ungefähr auf der Hälfte des 2016 gezählten
Bestandes einzupendeln.
Wildganstage
2021 gemeinsam mit den hiesigen Landwirten, wer hätte das vor einigen Jahren
geglaubt?
Johann von der
Fecht und zwei seiner Kollegen aus Balje sitzen mit Hintze und dem Landrat am
Tisch bei Gänsekeule und Bier. Dass sie einmal sehr schwierige Zeiten
miteinander hatten mag man heute nicht mehr glauben.
Am 2.
November 2021 begegnet Johann von der Fecht Ladewig und Hintze auf dem
Allwördener Deich nur wenige hundert Meter neben dem Vogelbeobachtungsturm.
Ladewig hält einen Vogelring aus PVC in der Hand.
„Nonnengans,
männlich, beringt 2012 auf Kamtschatka.“
Dann zeigt
er auf die Überreste einer Nonnengans wenige Meter von ihnen entfernt.
„So ist es
in der Natur. Wir haben ihn noch gesehen, den Seeadler, als er aufflog.
Ungefähr eine Gans am Tag braucht er. Ganz schön alt geworden, der Ganter.“
Was sie
nicht wussten: Der Ganter, der diesen Ring zu seinen Lebzeiten trug, war exakt
der, der seinerzeit 2016 auf dem ersten internationalen Wildganssymposium im
Allwördener Außendeich den spektakulären Vortrag mit dem Titel „Braucht die
Gans den Menschen?“ gehalten hat. Es war
der, der damals in den langwierigen und harten Verhandlungen in Lüneburg und
Hannover für einen Richtungswechsel im Umgang mit den
Vertragsnaturschutzflächen in Kehdingen gesorgt hatte. In Gänsekreisen hat er
sich mit seinem Auftritt auf dem ersten Wildganssympositum einen Namen für alle
Zeiten geschaffen. Kaum eine Gans zwischen dem Eismeer und der Grünen Insel
noch jenseits Großbritanniens, die nicht die Geschichte vom ersten
internationalen Gänsesymposiums kannte. Es waren nicht wenige Gänse, die ihren
Nachkommen voller Stolz berichten konnten, mit
diesem Ausnahme Ganter einmal ein Stück geflogen zu sein oder einen
Rastplatz geteilt zu haben.
Nun, im
hohen Alter, hat ihn während seiner
morgendlichen Dehnübungen am Fuße des Allwördener Deiches für wenige aber
folgenschwere Sekunden der Instinkt, der ihn all die Jahre immer rechtzeitig
vor Gefahren gewarnt hatte, verlassen.
Er hatte noch das Rauschen der Adlerschwingen gehört, als sich im
nächsten Moment die messerscharfen Krallen des Greifvogels in seinen Rücken
gruben.
So endete das
Leben einer Nonnengans, die so viel Gutes für die gesamte Gansheit bewirkt hat und für ein friedliches Auskommen
mit der Menschheit gesorgt hat nur wenige hundert Meter entfernt von der
Stätte, wo sie 2016 Geschichte schrieb.
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