Der Metronom
auf dem Weg vom Hauptbahnhof nach Cuxhaven steht schon mehr als 10 Minuten auf
Gleis 6 im Bahnhof Harburg. Ich sitze an einem Vierertisch, neben mir steht
meine Tasche und schräg gegenüber am Fenster schläft ein junger Mann mit tief
ins Gesicht gezogener Kapuze. Ein Pfiff kündigt die Weiterfahrt an. Ein Mann im
besten Alter schafft es gerade noch in den Wagen. Noch ganz außer Atem lässt er
sich auf den freien Platz mir gegenüber fallen. Ich lese in meinem Taschenbuch
und merke erst beim zweiten Versuch meines Gegenübers, dass er mit mir spricht.
„Ist das Ihr
Schlüssel? Vergessen Sie ihn nicht, wenn Sie aussteigen.“
Ich bin zwar
gemeint habe jedoch nicht die geringste Ahnung, was er mit der Frage meint.
Und dann entdecke ich ihn auch. Er liegt ganz unscheinbar in der kleinen Mulde, die einen Getränkebehälter am Rutschen hindern soll.
„Nein, mein
Schlüssel ist das nicht.“
Ich wende
mich wieder meinem Buch zu und der inzwischen zur Ruhe gekommene Mann mir
gegenüber verfällt in den typischen Pendlerschlaf. Erstaunlich, dass
Berufspendler immer kurz vor ihrem Ausstiegsbahnhof aufwachen. In Buxtehude ist
die gemeinsame Fahrt für ihn zuende. Mit einem knappen „Tschüß!“ endet unsere
kurze Bekanntschaft, wir werden uns wohl nie wiedersehen.
Der junge
Mann am Fenster schiebt kurz seine Kapuze zurück und schließt dann wieder seine
Augen. Das war nicht sein Bahnhof.
Ab Buxtehude
sitzt mir eine Frau gegenüber, vielleicht eine Verkäuferin. Sie mustert aufmerksam
ihre Umgebung. Einmal begegnen sich unsere Blicke.
„Das Buch,
das Sie da gerade lesen, gefällt es Ihnen?“
Ich bin
etwas überrascht.
„Na, das
Buch von dem Evers. Ist doch Klasse?!“
„Ja, es
liest sich sehr schön.“
„Vergessen
Sie nicht Ihren Schlüssel, wenn Sie aussteigen“, meint sie mit einem leichten
Kopfnicken zum Schlüssel, der unter dem Buch sichtbar wurde.
„Dann stehen
Sie an Ihrem Fahrrad, suchen noch den Schlüssel, dabei fährt der längst weiter
nach Cuxhaven.“
Durchsage:
„Nächster Halt Horneburg.“
Der
Kapuzenmann quält sich an den Knien der Frau vorbei.
„Ist das Ihr
Schlüssel?“ frage ich den Schlüssel in seine Richtung haltend.
Er guckt
durch mich hindurch und wendet sich wortlos in Richtung Ausgang.
„Hatte der
was?“ fragt mich die Frau. „Der hat ja nuscht nicht gesagt. Ausländer
vielleicht?“
Dann erzählt
sie mir noch, wie sie einmal ihren Fahrradschlüssel an der Ostsee im Sand
verloren hatte. Über 5 Kilometer musste sie laufen, um das passende Werkzeug
zum Knacken des Schlosses zu holen. Sie beschreibt mir den Weg durch den Wald
so genau, dass ich immer mehr das Gefühl bekomme, den Weg zu kennen. Bei
Kilometer drei ihres Berichtes endet ihre Abenteuergeschichte abrupt.
„Stade? Oh,
wir sind gleich in Stade. Hätte ich fast vergessen. Sie fahren noch weiter?“
„Ja, ich
muss noch bis Hemmoor.“
„Ja dann,
schönen Tag noch.“
Zwei Mädchen
setzen sich auf die freien Plätze an meinem Tisch. Noch nicht ganz in Hammah
und ich habe ein ungefähres Bild von Nadine, einer Klassenkameradin der beiden.
Wenn nur die Hälfte stimmt von dem, was ich aufschnappe, dann klaut sie, belügt
ihre Eltern, ist fast jedes Wochenende betrunken, fängt mit fast jedem Jungen
der Schule etwas an und postet fiese Dinge auf Facebook, „die alte Schlampe“.
Zwischen
Himmelpforten und Hechthausen lerne ich Nadine kennen. Die beiden mir gegenüber
haben sie am Wagenende gesehen.
„Nadine,
Nadine, hier sind wir. Kann sie da sitzen?“ Das Mädchen zeigt auf den Platz
neben mir.
„Ja klar!“
Ich nehme
meine Tasche und stelle sie in den Gang.
Nadine setzt
sich neben mich auf den Fensterplatz und ist sofort mit den beiden im regen
Austausch. Dieses nette Mädchen sollte doch gerade noch so „Megascheiße“ sein.
Davon merke ich nichts.
„Nächster
Halt Hemm-moor!“
Ich verstaue
mein Buch, greife meine Tasche und will gehen, da spüre ich, dass etwas an
meiner Jacke zieht. Nadine! Was ist das denn nun?
„Sie haben
Ihren Schlüssel vergessen.“
Was klingt
sie nett und dieses natürliche Lächeln.
Ich mache
eine halbe Drehung zum Tisch und stecke den Schlüssel in die Jackentasche.
„Danke! Das
wäre beinahe schiefgegangen.“
Seitdem
reist der Schlüssel mit mir wann immer ich allein nach Hamburg fahre. Im
Metronom wähle ich stets einen Platz am Tisch. Den Schlüssel deponiere ich
meist in der Bechermulde und warte geduldig darauf, von Mitreisenden
angesprochen zu werden. Lesestoff nehme ich nur mit, um die Zeit bis zum ersten
Gespräch zu überbrücken. Langeweile während der Bahnfahrt nach Hamburg gibt es
nicht mehr. Manchmal helfe ich etwas nach, wenn meine Mitreisenden nicht von
sich aus fragen, ob das mein Schlüssel sei. Dann nehme ich den Schlüssel
scheinheilig in die Hand und Frage:
„Ist das vielleicht Ihr Schlüssel?“
„Ist das vielleicht Ihr Schlüssel?“
Eines Tages,
wenn ich genügend Begegnungen dank meines
Schlüssels habe, werde ich vielleicht einmal eine Geschichte darüber schreiben.
Nachtrag 1:
Ich komme in
die Küche und sehe auf dem Tisch meinen
Schlüssel liegen.
„Ach so“,
sagt meine Frau, „den habe ich in deiner Hosentasche gefunden. Ist das dein
Schlüssel?“
„Ja.“
„Dann steck
ihn bitte ein.“
Nachtrag 2:
Nur wenige
Tage später verstaue ich die Fahrräder auf dem Autofahrradträger. Weil sie eine
Nacht in Berlin auf dem Träger zubringen müssen, sichere ich sie mit zwei
zusätzlichen einfachen Ringschlössern. Am ersten Schloss befindet sich ein
Schlüssel. Nach dem Schlüssel für das zweite Schloss suche ich gewohnheitsgemäß
in meiner Hosentasche. Ich finde ihn unter meinem Schlüsselbund und schließe
unsere Fahrräder zusammen. Gerade will ich den Schlüssel ins Seitenfach der
Fahrertür packen, da mache ich eine erstaunliche Entdeckung.
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