„Ja Frau Melzer, dann haben Sie noch
ein Anliegen“, meinte der Vorsitzende des Tourismusvereines Nordkolbingen zum Schluss der
Jahreshauptversammlung mit einer leichten Körperdrehung zu der jungen
Geschäftsführerin.
„Danke schön. Mir ist vor vier Wochen
aufgefallen, dass das Alte Land auf der Grünen Woche in Berlin mit einer Apfel-
und einer Blütenkönigin vertreten war. Wir aber hatten nur unsere eine Königin,
die Kolbinger Landkönigin. Nun habe ich mir gedacht, was spricht denn dagegen,
wenn wir auch mit einer zweiten Königin in Berlin vertreten wären.“
„Und wie haben Sie es sich
vorgestellt, wie können wir zu einer zweiten Königin kommen, Frau Melzer? So
einfach geht das nicht.“
Der Vorsitzende neigt dazu, jegliche
Initiativen mit einer Fülle von Bedenken möglichst schon im Keime zu ersticken.
In diesem Fall sollte er aber ein weiteres Mal an seiner temperamentvollen
Geschäftsführerin scheitern. Wenn Gaby Melzer eine gute Idee hat lässt sie sich
nicht so leicht wieder davon abbringen. Natürlich war sie gut vorbereitet und
konnte dem Vorsitzenden Helge Ehlers und den übrigen 7 erschienenen Mitgliedern des Tourismusvereines sofort ein
Konzept unterbreiten.
„Wir schreiben die Stelle einer
Königin in der Kolbinger, der vierteljährlichen Zeitung des Gewerbevereines
aus. Vereine, Betriebe und Privatpersonen dürfen Vorschläge einreichen. In der
Ausschreibung legen wir ein Anforderungsprofil fest und falls mehr Vorschläge als einer eingehen, wird eine Jury aus
Tourismusverein und Samtgemeinde Bürgermeister eine Entscheidung treffen. Ich
habe auch schon einmal vorbereitet, wie so eine Ausschreibung aussehen sollte.“
Zustimmendes Nicken in der Runde.
Vorerst muss Ehlers sich dem Elan von seiner Geschäftsführerin beugen.
„Na, denn woll´n wir mal sehen, ob
sich da überhaupt einer meldet. Sonst fahren wir eben wieder nur mit der Kolbinger
Landkönigin nach Berlin.“
Zum 1. September erschien die Kolbinger.
Unter dem Foto der amtierenden Landkönigin Nikki Schütt auf der Titelseite
stand mit fettem Druck:
Wer will Nikki zur Seite stehen?
Tourismusverein sucht zweite Königin!
Dann folgte die Ausschreibung.
Man soll diese kleine Zeitung nicht
unterschätzen. Sie kommt in alle Haushalte und berichtet – wenn auch nur
vierteljährlich – von Begebenheiten in der Gemeinde, die im Tageblatt niemals
erwähnt würden. Der Bürgermeister entschuldigt sich, weil er nicht zur DRK
Weihnachtsfeier gekommen ist. Die Vorsitzende vom Ortsverein überlegt noch, ob
sie ihm über das Blättchen doch noch einmal mitteilen soll, was sich für einen
Ortsbürgermeister gehört. Schließlich kam der Bürgermeister immer, zumindest
soweit Elfie Großkreuz zurück denken konnte.
Einmal kam er sogar als Nikolaus, der sehr zum Spaß der Seniorinnen und
Senioren, der ungezogenen Elfie einige
etwas zu heftig geratene Schläge
mit der Rute auf ihr vom weißen DRK Kittel umspanntes Hinterteil gab.
Vielleicht die heimliche Rache von
Oliver Detje dafür, dass Elfie sich immer wieder ungefragt in die Gemeindepolitik einmischte.
Klein ist sie, unsere Gewerbezeitung,
und nicht unwichtig, was die flächendeckende Versorgung des flachen Landes mit
wesentlichen Informationen aus der Region angeht.
Friedeberg, 1. September, 11.20 Uhr
Roswitha Hampe nimmt das Wochenblatt
aus dem Kasten und kann gerade noch den Kolbinger auffangen, der ihr aus dem
Zeitungsinnern entgegenrutscht. Glück gehabt! Um Haaresbreite wäre der Kolbinger
mit all den anderen Werbeeinlagen ungelesen im Altpapier verschwunden. Hampes
haben in ihrer schönen Dachwohnung mit Elbblick auch noch ein kleines Büro mit
Küche. Hier wohnen sie tagsüber. Hansi Hampe, eigentlich schon im Ruhestand,
verwaltet von hier aus seine kleinen Nebengeschäfte und Wita oder Witti, wie er sie nannte, wenn sie
alleine waren, kocht, bügelt bei geöffneter Tür in der benachbarten 4 m² Küche.
Wenn die Haushaltsarbeit verrichtet ist, sitzt Witti auf den kleinen
Stahlrohrstuhl vor dem Fenster und liest in einem Buch aus der
Gemeindebücherei, durchblättert Frauenmagazine oder liest BILD, Tageblatt oder,
wie jetzt, während Kartoffeln und Rosenkohl vor sich hin köcheln, den Kolbinger.
Stößt sie auf Infos, die auch für Hansi interessant sein könnten, kündigt sie
deren Weitergabe regelmäßig mit den Worten: „Hör mal, Hansi!“ an.
Hansi lässt mit nichts erkennen, ob
die Ankündigung ihn auch nur im Geringsten interessiert, ob sie ihn überhaupt
an seinem Computer erreicht hat. Das erwartet Witti allerdings auch seit Jahren
schon nicht mehr, weiß sie doch durch seine Kommentare, dass sich Hansis Ohren
in Dauerbereitschaft befinden.
„Hör mal, Hansi! Die suchen hier eine
Königin.“
„Sylvia oder die Queen?“
„Nun sei doch mal ernst. So eine, wie
die Kolbinger Landkönigin, für die Grüne Messe. Da kann man sich bewerben.“
„Und, Witti, lass mich raten. Du
willst dich da bewerben?“
„Lass doch den Quatsch. Dann sag ich
eben nichts mehr!“
Alles schon gehabt. Roswitha fühlt
sich nicht ernst genommen und schmollt auf ihrem Stahlrohrhocker so lange, bis
Hansi sie nach einer angemessenen Zeit wieder aus der Schmollecke herausholt.
„Und, was wolltest du mir sagen?“
„Hier steht ein „Anforderungsprofil“.
Hört sich an, wie eine Stellenausschreibung. Fehlt nur noch der Satz: Wenn sie
diese Voraussetzungen erfüllen, würden Sie ausgezeichnet in unser Team passen.“
„Bei einer Königin wohl eher: „Wären
sie uns bei Hofe sehr genehm““, meint Hansi durch die geöffnete Küchentür.
„16 – 22 Jahre, weiblich – als wenn
das nicht klar wäre bei ´ner Königin - , gepflegte Erscheinung, flexibel,
unabhängig, möglichst zweisprachig, freundliches Wesen, sicheres Auftreten,
Spaß am Repräsentieren. Fällt dir jemand in Nordkolbingen ein auf den das alles
zutrifft?“
„Ne, Witti, so auf Anhieb nicht.
Katie Bergmann vielleicht, aber…“
„Von Lehrer Bergmann die Große? Ist
doch nicht dein Ernst. Die studiert doch in Hamburg. Sieht zwar gut aus, kann
zwei Sprachen und klug schnacken. Aber Königin, Monarchie und so etwas? Nee,
die will doch sogar die Demokratie zugunsten eines gerechteren Sozialismus
abschaffen. Die ist ja nicht einmal zu den Jungschützen gegangen, weil es da
Könige und Königinnen gibt. Nee, Hansi, die bestimmt nicht. Aber was hältst du
von Samantha Meyer aus Eriksheil?“
„Doch nicht dein Ernst“, kommt es vom
Computer zurück. „Die sieht ja ganz gut aus, knutscht vielleicht auch ganz gut,
kann aber kaum bis drei zählen und grinst sogar dann noch freundlich, wenn ihr
jemand mit dem Trecker absichtlich über den Fuß fährt.“
Das mit dem Knutschen hätte er nicht
sagen sollen. Bis heute gibt es noch keine schlüssige Erklärung für 20 Minuten
in denen weder Hansi noch Samantha beim letzten Schützenfest im Festzelt zu sehen waren.
„Also doch!“
„Also Was?“
„Du hast doch mit ihr geknutscht!“
„Nein, aber das weiß doch jeder, dass
die nichts auslässt! Nee wirklich, also ich nun wirklich nicht.“
Dröbermmoor, 1. September, 14.30 Uhr,
in der Küche von Kleinlandwirt Jan Riecken.
„Fine, hast du das mit der Königin
gelesen, guck mal hier, dat wär doch wat
för di, oder?“
Fine trocknet sich die Hände in der
Schürze ab, tritt hinter ihren Mann und sieht über dessen Schulter auf die
Stelle, wo sein mit fettem Schwarz umrandeter Fingernagel auf dem weißen Papier
des Kolbingers ruht.
„Kannst vergeeten Jan. Kieck doch
mool. De söcht´n Deern nich jünger as söstein un nich öller as tweeuntwinnich.
Und, du schasst wohl weeten, dat ick ´n poor Dooch öller bün.“
Fine gickelt ein wenig in sich hinein
und liest weiter. Schnapsidee, sie und Königin; aber Anneliese, ihre Tochter, für die könnte das doch passen.
„Anneliese, willst du Königin
werden?“
Anneliese saß in der Stube,
Nachmittagssoap von RTL, „Und am Ende siegt die Liebe doch!“ Die Tüte mit den
Kartoffelchips halb geleert und die zweite Cola Dose schon in Arbeit. „Spinnt
die Alte oder habe ich mich verhört?“ denkt sie und beschließt zu tun als hätte
sie nichts gehört.
„Anneliese, kumm mol röber, hier
kannst ´n Keunigin warrn!“
Keunigin, Königin? Königin hat sie
eben doch auch schon gesagt. Anneliese beschließt, der Sache auf den Grund zu
gehen.
Auch Anneliese überfliegt den
Artikel.
„Geht nicht, bin doch erst 15.“
„Siehst aber schon aus wie 16 und
´Busen hast du auch schon wie Muddern“, meint Papa Riecken.
„Und außerdem“, gibt Fine zu
bedenken, „außerdem bist du bis zur Grünen Woche 16. Dann kannst mit nach
Berlin und dann kannst du vor Angela Merkel ´n Knicks machen. Hab´ ich alles
schon in Niedersachsen regional gesehen.“
Anneliese nimmt den Kolbinger in die
Hände. „Lass noch mal lesen. Hm, was die alles erwarten. Gepflegte Erscheinung,
da lässt sich vielleicht was machen. Figur kann man vielleicht unter dem Kleid,
na ja, und bis zur Grünen Woche können es ja noch ein paar Pfund weniger
werden. Guck mal hier, Zweisprachigkeit, das merken die doch bald, dass ich in
Englisch eine 5 habe.“
„Ach wat, wenn de wat markt, denn
seggt wi eenfach dat du Hochdütsch und Platt schnacken kannst.“
„Und“, meldet Jan Riecken sich ins Gespräch zurück,
„sicheres Auftreten üben wir auf dem Futtergang im Kuhstall. Erst mit
Gummistiefeln und später dann auch mal „mit die guten Schuhe“! Ich mach da
einen Strich in die Mitte mit dem Kreidewagen vom Sportplatz, weißt ja, für die
Linien beim Fußball. Also, mit dem Auftritt, dem sicheren, das kriegen wir
schon hin.“
Anneliese nickt nachdenklich.
„Und wie ist das mit „flexibel“?“
„Ja, mein Deern“, Fine atmet schwer
durch, „flexibel wirst du wohl erst, wenn du weniger Cola trinkst und nicht
immer die ollen Chips futterst. Wenn du Königin werden willst, lass ab sofort
die Finger von dem Zeuch. Und denn kanns man morgens und abends den
Moorpatt op un dohl schoggen. Viellich
hölpt jo ook´n büschen in Anke ehre Gymnastiktruppe an Dienstach Obend.“
„Joo, so mokt wi dat und wi nennt di dann
de Moor- oder Torfkeunigin und damit sick dat dann ook soon lütt büschen no
Oodel anhört, nennt wie di Moorkeunigin Anneliese von Dröbermmoor!“
Anneliese gefielen die Aufmunterungen
ihrer Eltern, ihr Beschluss stand fest. Alter und weiblich kein Problem,
Geburtstag in sechs Wochen, flexibel wird trainiert. Wat wer dat noch? Ach so
Zweisprachigkeit, na ja, kriegen wir hin. Freundliches Wesen? Das traut sich
Anneliese auch irgendwie zu, obwohl, so richtig warmherzig, freundlich hat sie
noch nie jemand gesehen. Gepflegte Erscheinung? Das pack ich mit mehrmals
duschen in der Woche und Haare waschen. Vielleicht auch mal zum Frisör? Unabhängig,
hmm, abhängig bin ich nur von meinen Eltern und die Idee mit dem Trainieren des
sicheren Auftretens auf dem Futtergang im Kuhstall scheint die Lösung. Fehlt
nur noch „repräsentieren“.
„Papa, was meinen die denn mit
repräsentieren?“
„Vielleicht Präsente machen? Wart
mal, präsentieren war doch was bei der Bundeswehr mit Gewehr. Nee, nee, dat
brukt doch´n Keunigin nicht, wat meenst du, Mudder?“
Fine war ratlos. Dann ging ein
kleines Leuchten durch ihr Gesicht.
„De meent bestimmt wat mit „Tieren“.
De Keunigin schall doch mit no de Greune Week“ in Berlin un dor hebt se doch
ook´n Barg Dierten. Bestimmt meent dat Wör, dat de Keunigin nett tau de Dierten
ween schall. Und wenn een lernt hat, nett tau de Viechers tau ween, denn büst
du dat, mien Anneliese!“
Damit waren alle Hindernisse, die
einer Bewerbung im Wege stehen konnten, aus dem Wege geräumt. Dröbermmoor wird
eine Königin bekommen und sie soll, wenn das nach Jan, Fine und Anneliese geht,
Moorkönigin von Dröbermmoor heißen.
Den Anmeldeabschnitt hat Jan tags drauf
auf dem Weg zum Doktor beim Tourismusbüro eingeworfen. Am liebsten hätte er ihn
persönlich rein gereicht. Dann hätte er schon einmal fragen können, was man
denn alles sonst noch als Königin zu bedenken hatte.
Leider war das Büro noch geschlossen.
„Mookt nix“, dachte Jan Rieken, „de
ward sick schon rögen beför dat los geiht mit Berlin!“
Kolbingerhafen, 1.September 15 Uhr
Helge Ehlers sitzt mit seiner Frau
und Schwiegermutter am Kaffeetisch. Er sieht die Titelseite vom Kolbinger,
klopft mit der Fingerspitze mehrmals auf den Artikel auf dem Deckblatt um dann
den beiden Frauen mit selbstbewusster Stimme zu sagen: „Das wird wieso nichts
(er hat es bis heute nicht richtig gelernt!) mit der Königin. Wieder so eine
Idee von der Melzer. Erst einmal alles verrückt machen und nachher den Schwanz
einziehen. Ist doch so, Mudder!?“
„Erstmal fertig machen und dann
kannst du einziehen. Hast ja so Recht Helge.
Grete, ist doch schön, dass wir so einen netten und klugen Mann haben“,
sagt die Greisin immer noch kopfnickend ihrer Tochter zugewandt.
„Ja, Mama!“
„Was hast du gesagt?“
Diesmal deutlich lauter: „Jaaha,
Mamaa!“
Schwiegermutter redet nicht so gerne.
Seit ihre Kinder nicht mehr richtig hören können, ist die Unterhaltung mit
ihnen so anstrengend.
Den Keks noch einmal in die
Kaffeetasse stippen und er zerfällt fast von alleine im Mund.
Kolbingerhafen, 2.September, 9.34 Uhr
Gaby Melzer öffnet den Umschlag aus Dröbermmoor.
Krümel fallen mit dem Brief auf den Schreibtisch. Das wundert Frau Melzer nicht
so sehr, hatte sie doch beim Anblick des Fettfleckes auf dem Umschlag gleich
die Vermutung, dass dieser Brief auf einem Mehrzwecktisch geschrieben worden
war. Mehrzwecktische nannte ihr Vater immer Tische, die zum Essen, Kinder
wickeln, Hausaufgaben machen, für Büroarbeiten oder Bastelarbeiten genutzt
wurden. Damit lag Gaby Melzer, was den Tisch der Familie Riecken betraf nicht
schlecht. Nur, dass der Tisch in Dröbermmoor zusätzlich zu alledem noch einmal
im Jahr eine Schutzplatte aufgelegt
bekam, um dann zum Zerteilen der am Tag zuvor geschlachteten Sau zu dienen.
„Kennst du eine Familie Riecken in Dröbermmoor,
Hanna? Ich habe hier eine Bewerbung auf unsere Stellenanzeige für den
Königinnen Job bekommen.“
„Ja, kenne ich, die haben eine
Tochter. Die ist mit unserem Hendrik konfirmiert worden.“
„Und, was ist das für eine?“
„Kann ich nicht sagen. Ich erinnere
mich nur noch an ein viel zu enges, oben und unten etwas zu kurzes Kleid und,
dass ich damals in der Kirche noch dachte: „Mädchen, was hast du dir denn mit
diesen Schuhen angetan?“ Sie konnte kaum drauf gehen.“
„Wird hoffentlich nicht einzige
Bewerbung“, murmelt Gaby Melzer mehr zu sich selbst während sie die Bewerbung
von Anneliese Riecken in einen extra für diesen Vorgang angelegten Aktendeckel
packte.
An diesem Tag ging keine weitere
Bewerbung ein.
Nordkolbingen, 3. September – 2. Oktober
Die großen Katastrophen bahnen sich
meist durch kleine Anzeichen an, die allerdings zu dem Zeitpunkt von niemandem
ernst genommen werden.
So war es mit dieser kleinen Stellenanzeige im
Kolbinger auch. Kleine Anzeichen gab es schon, die mit etwas Phantasie ahnen
ließen, dass hier etwas im Werden war, was weder Helge Ehlers noch seine
Geschäftsführerin Gaby Melzer nur annähernd ahnten.
Bei Hansi und Roswitha Hampe blieb
die Tür zwischen Büro und Küche nun schon seit mehreren Tagen geschlossen.
In Dröbermmoor fragte sich die
Nachbarschaft von Rieckens, was wohl in Anneliese gefahren sei. Morgens und
abends brachte sie das Moor links und rechts vom Moorpatt durch ihren mehr oder weniger sicheren
Auftritt zum Beben. Paula Heinsohn, die ihre beiden Ziegen auf der Weide melkt,
meinte am Bäckerwagen, als Fine Riecken schon wieder weg war:
„Ji glöwt dat nich. Anneliese schoggt
op´n Moorpatt. Ick wull dat ers nicht glöwen. Kiek noch mool röber no´n Patt. Dat wer Anneliese. Und denn mark
ick dat ook schon dör´n Mälkschemel dör zittert dat bis in mien Oors: wumm,
wumm, wumm. Ob de wohl endlich mool´n Fründ hett? Hebt ji ook nix höört, woll?“
Jan Rieken hat sich den
Markierungswagen vom Platzwart ausgeliehen. Schon nach einer halben Stunde war
er wieder zurück. Wofür er den denn brauchen würde hatte Hannes Maier noch
gefragt. „Ick wull nur jüst wat markieren, weest Bescheed.“
„Ach so“, meint Hannes und war auch
nicht klüger.
Hätte er gewusst, dass sein
Markierungswagen dazu beiträgt, eine Königin für ihren Auftritt bei Angela
Merkel und den anderen großen Tieren in Berlin vorzubereiten, hätte er bei
seinen Kegelbrüdern endlich einmal etwas Richtiges zu erzählen gehabt.
Aber er wusste ja nichts.
Familie Riecken wollte noch bis zum Friedeberger
Bockmarkt warten und dann so ganz nebenbei, vielleicht an der Wurstbude oder im
Kuchenzelt oder auch abends am Tresen nach Köm und Aalsuppe die Bombe hoch
gehen zu lassen.
„Übrigens, unsere Anneliese wird
Königin.“
Nachher sind natürlich immer alle
schlauer. Zu der Zeit aber hat es noch keiner geahnt. Gelesen haben den Artikel
aber alle und den ganz Schlauen wäre aufgefallen, dass in allen Dörfern der
Samtgemeinde zu außerordentlichen Vorstandssitzungen oder Arbeitskreisen
eingeladen wurde. Es war schwierig noch einen Termin in den Clubzimmern der
Gaststätten zu bekommen. In einigen Fällen musste auf die Wohnstube des
Vereinsvorsitzenden zurückgegriffen werden.
Die Geheimhaltung hatte erst ein
Ende, nachdem Erna Reyels auf dem Kaffee Kränzchen in Aantenwörden erzählte,
dass ihr Mann und seine Züchterfreunde überlegten, eine Stutenkönigin ins
Rennen um den Königinnenposten zu schicken. Übrigens wusste sie auch schon zu
berichten, dass die Runde von dem Titel „ab“ sei. Die Königin soll nun
Hannoveraner Königin heißen und der Stoff ihres Gewandes soll über und über mit
dem Hannoveraner Zeichen, diesem „H“ mit den Pferdeköpfen, bedruckt sein. Von
Stutenkönigin hatten sie sich verabschiedet, weil Erich König, der auch im
Vorstand des Dorferneuerungsverein ist, von seinem Schwager gehört hat, dass
die Kolbinger Bäcker sich überlegt hätten, aus Marketinggründen eine
Stutenkönigin nach Berlin zu schicken.
Mitte September hat niemand mehr
versucht, seine Königinnenpläne zu verheimlichen. Spätestens nachdem Gaby
Melzer vom Tourismusverein eine Presseinformation herausgegeben hatte, dass ihr
schon 13 Bewerbungen vorliegen würden und die Frist erst in 14 Tagen ablaufe,
haben Fine, Jan und Anneliese Rieken ihre Geheimnistuerei aufgegeben.
„Moorkönigin“ war plötzlich nicht mehr die Angelegenheit der Rieckens. Hinter
der Kandidatur von Anneliese Rieken standen plötzlich fast alle Mitglieder des
Schützenvereines „Jägerrast“, in dem Anneliese zu den eifrigsten
Jungschützinnen gehörte.
Paula Heinsohns Hintern zitterte
immer noch unter Annelieses Tritten. Nur inzwischen zweimal, weil Anneliese
durch das tägliche Training derartig fit war, dass sie den Moorpatt nun schon
zweimal rauf und runter joggen konnte. Paula guckt nicht mehr wortlos zu. Eine
Hand am Milcheimer ruft sie schon mal rüber zum Moorpatt: „Scheun, Annelies,
scheun as wie du so löpst!“ oder „So´n
beeten süht dat all ut as wenn so´ne Keunigin schoggen deit! Mook wieter so,
Deern. Schass mool sehn, batz büst´n Keunigin!“
Ja, Paula Heinsohn, als hätte die
schon einmal eine echte Königin auf dem Moorpatt joggen gesehen, geht es Anneliese durch ihren
verschwitzten Kopf. Elisabeth, Beatrix, Soraya oder Sylvia von Schweden
joggen auf dem Moorpatt in Dröbermmoor!
Zu schön, die Vorstellung.
Aber: Ist es noch so unvorstellbar,
so etwas macht Mut. Gerade jetzt, wo Anneliese schon an Aufgeben gedacht hat.
13 Bewerbungen! „Morgen“, denkt Anneliese, „morgen versuche ich den Moorpatt
drei Male auf und ab zu laufen. Soll doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich
nicht zumindest die flexibelste der 13 Bewerberinnen bin. In Zweisprachigkeit
ist Hella Rossmann, die Hannoveranerin, also die Königin der Pferdezüchter, nicht zu schlagen. Geht ja auch zum Gymnasium
und kann sogar drei Sprachen.“
Nein, aufgeben geht nicht. Nicht
jetzt, wo Anneliese so viel Zuspruch und Aufmunterung von allen Seiten erhält
wie sonst in ihrem Leben noch nie. Zähne
zusammen beißen und durch, ich darf meine neuen Freunde nicht enttäuschen!
In Dröbermmoor hat sich inzwischen
ein Arbeitskreis gebildet, der sich mit Entwürfen für Annelieses Outfit
befasst.
Carola Dietrich stänkert hinterrücks
rum, dass die „fette Kuh“ doch keine Chance habe gegen Samantha Meyer, die, wie
aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen, verlautet, von der Firma ZaunMeyer
(übrigens nicht verwandt mit Samantha) als Zaunkönigin ins Rennen geschickt
wird. Paula Heinsohn hat die Dietrichsche an der Tanke bei Dürkes getroffen und
ihr gehörig den Kopf gewaschen.
„Wenn du een von uus büst, dann büst
du ook för Annelies! Und, wenn dat keen End hat mit diene Stänkerei, dan sorch
ick höchst persönlich dorför, dat nich een Kerl mit di danzen deit op´n
Schützenball. Weet doch jeden een, dat du de annern Kerls taun danzen brukst,
wieldes dien Korel (Karl) sick sülbens schon no de erste Stün mit
Carolusmischung ut´n Verkehr trekken deit.“
Das hat gesessen. Carola und
Anneliese sind keine Freundinnen geworden aber die Intrigen gegen die
Moorkönigin, die inzwischen schon 3 Kilo abgenommen und Carola an Flexibilität
schon lange überrundet hat, fanden nach dem Gespräch von Frau zu Frau ein
abruptes Ende.
Ja, im Moor funktioniert das noch
ohne Anwalt. Ein richtiges Wort im richtigen Moment, eine kräftige Tracht Prügel oder auch nur die
Androhung derselben, haben schon manchen Konflikt beendet, bevor er sich erst
richtig entfalten konnte.
Kolbingerhafen, 29. September
Gaby Melzer befindet sich im
permanenten Rauschzustand. Nur noch wenige Tage bis die Bewerbungsfrist aus läuft. 16 Bewerbungen haben den Königinnen Aktendeckel zu einer
ansehnlichen Dicke anschwellen lassen. Helge Ehlers, immer noch Vorsitzender
des Tourismusvereines, sollte eigentlich über diese erfolgreiche Kampagne
glücklich sein. Statt sich zu freuen äußert er nur permanent seine große Sorge,
dass es schier unmöglich sei, eine Bewerberin auszuwählen. Das sieht Gaby
Melzer anders. Längst schon hat sie ein Verfahren entwickelt, das dem Verein
alle Türen offen lässt. Vor dem Vorstand referiert sie über öffentliche
Vorstellungsrunde, Basisentscheid und Vetorecht der Jury. Sie war wieder einmal
so perfekt vorbereitet, dass sich niemand traute, irgendeine Alternative zu
ihren Vorschlägen auch nur ansatzweise vorzubringen. Zugegeben, Gabys Vorschlag
war einfach auch gut!
Über das Stader Tageblatt wurde die
interessierte Öffentlichkeit in die Pausenhalle der Oberschule Nordkolbingen in
Friedeberg eingeladen. Schlagzeile: Tourismusverein Nordkolbingen beteiligt die
Bevölkerung an der Königinnen Proklamation.
Das macht schon ´was her.
Friedeberg, 3. Oktober, Tag der
deutschen Einheit, 18.30 Uhr
Das hat es in Friedeberg noch nie
gegeben. Seit 18 Uhr strömt es in die Pausenhalle. Menschen aus Bilge, Hohendeich,
Eriksheil, Kolbingerhafen und Bilge - zum Teil mit Transparenten, auf denen stand: „
Hildegard Radlusz, unsere Radler Königin!“ oder „ Samantha Meyer, die Zaunkönigin von ZaunMeyer“.
18.30 Uhr, alle Sitzplätze in der
Halle waren besetzt und auch Stehplätze wurden knapp. Geparkt wurde inzwischen
schon am Spülbassin gute 400 Meter von der Oberschule entfernt. Musik ertönt
von draußen. Gaby Melzers Handy klingelt. Der Hausmeister Conny Rathje ist
dran.
„Hier draußen steht der Moorer Spielmannszug
und ungefähr 150 Leute dahinter. Wir können niemanden mehr rein lassen. Ich
mach die Dreifachturnhalle fertig. Ihr könnt in 10 Minuten rüber kommen.“
Gaby Melzer schreitet ans Mikrofon,
sie ringt um Atem, ihr Selbstbewusstsein gerät sichtbar ins Wanken. Helge
Ehlers, der ja alles schon hat kommen sehen, fängt an, sich Sorgen zu machen.
„Sehr geehrte Damen und Herren, also
liebe Mitbürgerinnen, also, äh, das geht
hier nicht so. Wir müssen umziehen in die Turnhalle. Bitte nicht an den
Ausgängen drängeln. In der Turnhalle werden gerade die Tribünen Elemente
herausgezogen.“
Verständlich, dass die, die zeitig
gekommen waren, um einen der Sitzplätze abzubekommen, verärgert waren. Nun
waren sie die letzten im Zug, der sich hinter der Blasmusik des Spielmannszuges
zur Turnhalle hin bewegte.
War es Absicht? Den schlitzohrigen
Torfköppen aus dem Moor war doch alles
zuzutrauen. Kommen als letzte um dann die besten Plätze in der Halle zu
belegen. Und so kam es. Auf der Mitteltribüne, auf den besten Plätzen saß die
ansehnliche Anhängerschaft von Anneliese Riecken. Die Musik spielte stehend
unter dem südlichen Basketballkorb weiter. Das war schon eine tolle Idee mit
der Musik. Nur, dass sie schon zum dritten Male den Vorjahres Hit „Anne, Anne,
Anneliese, sonst keine, nur diese…“ spielten, sorgte für etwas Unmut auf der
Tribüne. Es genügte doch eigentlich schon, dass
die Moorer die erste Zeile des Hits
auf ihr großes Transparent geschrieben hatten. Da musste ihr Spielmannszug
nicht auch noch zum dritten Mal das Stück spielen. Auf der Bühne gab es ein
kurzes Gerangel zwischen Moorern und Anhängern der Kandidatin des
Kohlanbaubetriebes Hiesel aus Bilge. Im Gegensatz zu Anneliese war die
Weißkohlkönigin Viola Hiesel ähnlich wie die Zaunkönigin nicht aus ideellen
Motiven sondern aus rein
vermarktungstechnischen Gründen von ihrem Vater gemeldet worden. Anfangs soll
die dunkelhaarige Viola mit dem hübschen braunen Gesicht nicht sehr glücklich
gewesen sein. Als dann aber eine starke Gruppe von ihren Freundinnen und
Freunden aus der Bilger Landjugend die Bewerbung unterstützte, fand sie langsam
Gefallen an dem Gedanken, als Repräsentantin Nordkolbingens und Werbeträgerin
von Hiesels Kohlanbau in Berlin aufzutreten. Am schönsten fand das humorvolle
Mädchen aber das Transparent ihrer Freunde. Nachdem es wegen des Gerangels
kurzfristig unleserlich in sich zusammengefallen war - der rechte Stangenträger hatte einen Schubs
von einem Moorer bekommen, weil er beim dritten „Anneliese…“ laut gebuht hatte
- und stürzte kopfüber von der dritten Tribünenreihe in die zweite. Das wollte der Moorer
eigentlich gar nicht. Er half dem Fahnenträger aus Bilge sogar wieder hoch, sie
kannten sich von der Schule und aus der Landjugend. Und nun war es wieder zu
lesen, das Transparent der Bilger. In fetter schwarzer Schönschrift stand dort
zu Oberst „VIOLA“. Darunter etwas zarter: KOHL-HIESELS TOCHTER
FÄHRT FÜR UNS ZUR GRÜNEN
WOCHE!
Ja, dieses Transparent war schon
cool! Aber nicht so wirkungsvoll wie der Auftritt der Moorer mit dem
Spielmannszug.
19.15 Uhr, die Halle ist voll, nichts
geht mehr und es kommt glücklicherweise nichts mehr dazu. Mit Hilfe von Conny
Rathje ist vor den Tribünen eine kleine Bühne aus Bänken und Kästen entstanden,
die Schulassistentin hat mit einigen Helfern die mobile Beschallungsanlage
installiert. Die Redakteurin des Stader Tageblattes, Suse Hellerich, ist
angereist, weil sie im Hinterkopf hatte, einen ironischen Bericht über den
Majestäten Missbrauch auf dem Land zu schreiben. Überwältigt von dieser Kulisse
überdenkt sie noch einmal ihr Konzept. Hier geht etwas ab, was sie nicht
erwartet hatte.
„Was das wohl gibt heute“, denkt sie.
Von der anderen Seite winkt ihr der Kollege vom Wochenblatt zu.
„Oh, dann schreiben die vielleicht etwas
Eigenes und müssen nicht von meinem Bericht abschreiben“, geht es ihr durch den
Kopf.
Gaby Melzer begrüßt das Publikum und
erklärt den Ablauf der Veranstaltung.
„Wir werden die Majestäten und
jeweils eine Person, die deren Bewerbung unterstützt, nach unten bitten. Die
jeweilige Königin nennt ihren Namen und hat 1 Minute sich und ggfs. ihr Team
vorzustellen. Anschließend nehmen die Majestäten auf den Stühlen Platz. Auf einem
Schild zeigen sie euch die Ziffer, die wir ihnen auf dem Wahlzettel zugeordnet
haben. Nach der Vorstellung dürft ihr euren Vorschlag auf dem Wahlzettel
ankreuzen. Jeder hat eine Stimme, auch Kinder. 20 Helferinnen und Helfer, das
sind die mit den hellblauen T-Shirts geben die Wahlzettel zur gleichen Zeit so aus,
dass gewährleistet ist, dass jede Person hier auch nur eine Stimme abgeben
kann. Ach so, Tommy von Borstel gehört nicht dazu, hatte ganz vergessen, dass
der ja nur hellblaue T-Shirts trägt. Pardon Tommy! Die Jury besteht aus Bürgermeister Oliver
Detje (Beifall), Helge Ehlers und mir (Beifall). Das Votum von euch, also eure
Meinung ist ein Vorschlag, den Helge, Oliver und ich in unsere Entscheidung
ernsthaft mit einbeziehen. Für uns sind die Kriterien, die in der Ausschreibung
genannt wurden eindeutig. Damit auch ihr diese Kriterien mit in eure
Entscheidung einfließen lassen könnt, findet ihr sie alle oben auf dem Zettel.
Alles klar? Dann beginnen wir.
„Bi mi is gor nix klor. Wat het se
dor von Kriterien schnackt? Ick wähl doch nur Annelies, is doch richtich, oder
wat sechst du Jan?“ Jan Riecken ist sehr nervös. „Wo du Recht hest, hest du
Recht, Paula“, sagte er ohne dass er verstanden hatte, was Paula ihm gesagt
hatte.
Die Hellerich notiert sich: „Was
heißt hier Basisdemokratie???“
Und dann geht es Schlag auf Schlag.
Gaby Melzer ruft die Nummer 1 auf, Radlerkönigin. Hildegard Radlusz aus Hohendeich,
nominiert von der ADFC Sektion Kolbingen, tritt in bunter Sportfunktionswäsche
vor die Jury. In der Hand trägt sie einen Strauß mit Fahrradspeichen und etwas
Farn.
Nr. 2 ist die Kartoffelkönigin. Sie
heißt Sarah Bauknecht, lernt bei der Kreissparkasse. Ihr Gewand ist langweilig
braun aber auf dem Kopf trägt sie eine interessante Krone aus Edelstahl. Auf
den kreisförmig angeordneten Zacken sind gleichgroße Kartoffelknollen
aufgespießt.
Nr. 3 stellt sich als Bahnkönigin
Anette Kober vor. „Das hat nichts mit der Deutschen Bahn zu tun, soll ich sagen.
Mich haben meine Freunde von der Leichtathletikabteilung im Friedeberger
Sportverein nominiert.“ Ihren Kopf ziert ein Kranz von Goldmedaillen, an denen
kleine schwarz-rot-goldene Bändchen hängen.
Nr. 4 wird aufgerufen. Die Halle
tobt, der Musikzug spielt das Anneliese Lied, obwohl eigentlich abgesprochen
war, dass keine Musik vor Ende der Ausscheidung gespielt werden soll. Die
Moorer skandieren An-ne-lie-se, An-ne-lie-se während Anneliese auf ungewohnt
hochhackigen Schuhen sicheres Auftreten demonstriert.
Jan strahlt. Hat sich doch gelohnt
die Schinderei im Kuhstall.
Fine strahlt auch, ihre Anneliese auf
dem Weg zum Königsthron.
Und Anneliese? Die strahlt auch. Das
hat sie noch nie erlebt. Sie wird geliebt und gefeiert. Sie mag sich, 8 Kilo
sind weg und den Moorpatt läuft sie inzwischen viermal rauf und runter. Die
letzten Tage ist Enno von Allwörden immer gerade dann mit seiner Mofa vorbei
gekommen, wenn sie am Laufen war. Anschließend haben sie immer noch ein wenig
geklönt. Gestern wollte er nicht los fahren und als Anneliese fragte: „Is was?“
hat er gefragt. „Wollen wir miteinander gehen?“ und ist losgejagt bevor sie
antworten konnte.
Und ob sie wollte, das hat sie ihm
gleich per facebook mitgeteilt, nachdem sie im Haus war. Sie wartete eine
scheinbare Ewigkeit.
Dann Ennos Antwort:
„Gut!“
Ja, so sind sie im Moor. Wenn es
darauf ankommt, kein Wort zu viel!
Sie war immer noch in ihren Laufklamotten,
als sie Ennos Mofa auf dem Hof hörte.
Und dann?
Dann sind die beiden noch einmal auf
den Moorpatt. Paula Heinsohn musste zweimal hingucken um zu glauben, was sie
dort sah.
Enno knutscht Anneliese!
„Woför dat schoggen nich allens goot
is“, haucht Paula ihrer Ziege in den Hinterschenkel während sie mit dem Melken
fortfährt.
Ja, diese Anneliese. Nun marschiert sie
selbstbewusst zur Jury. Über ihrer Königsgarderobe trägt sie eine diagonale
Schärpe, so wie sie Gärtnerei Lührs immer für Beerdigungen druckt. Darauf steht
mit großen Lettern: MOORKÖNIGIN
ANNELIESE. Anneliese liest sich ein bisschen schlecht, weil die Schärpe
über dem Busen nicht plan aufliegt. Verwerfungen, die es vor wenigen Wochen
noch nicht gegeben hätte von wegen der fehlenden Taille. Kaum, dass ihr Name
aus den Lautsprechern verhallt ist, passiert ihr das mühsam einstudierte
Missgeschick: Eine Torfsode gleitet aus
dem Korb, den sie am Arm trägt.
„Oh!“ entfährt ihr und mit einer Eleganz und
Beweglichkeit, die ihr vor vier Wochen noch niemand zugetraut hätte, sammelt
sie das Torfstückchen wieder ein. Von ihrer Flexibilität muss jetzt doch auch
der letzte Trottel in der Jury überzeugt sein.
Anneliese nimmt Platz, der
Spielmannszug hält sich plötzlich wieder an die Verabredung, während des
Verfahrens nicht zu spielen. Anneliese
ist glücklich, sie sieht Enno in der ersten Reihe wie er beide Daumen hoch hält
und sich freut. In diesem Moment war ihr die Königswürde so etwas von egal.
Lieber bürgerlich und glücklich als adlig und unglücklich. Ihre Fangemeinde
ahnte nichts von Annelieses Gedanken. Mehrfach wurden die Moorer über
Lautsprecher aufgefordert die Anfeuerung für Anneliese einzustellen.
Schließlich wolle man ja heute noch zu einer Entscheidung kommen.
Nr. 5 – unspektakulär, Beate von
Lindern, ohne großen Freundeskreis. Die Wachtelkönigin, nominiert von dem
kleinen Kreis von Spinnern unter Leitung des Hobbyornithologen Ubbo Hartwig.
Sie sind fest davon überzeugt, dass es den Wachtelkönig im Außendeich gibt.
Gesehen hat ihn keiner, den Wachtelkönig, aber angeblich seinen Gesang, ein
hässliches Kräck, Kräck habe man mehrfach gehört. Neuen Aufwind für ihre
Vermutung gab ihnen ein Foto der Tageblattredakteurin Santana Baisinger, die
vom Auto aus (auf verbotenen Wegen) einen ihr unbekannten Vogel im Außendeich
aufgenommen hat. In der Redaktion sah Naturredakteur Chris Schmid das Bild und fragte, wo sie denn den
Wachtelkönig aufgenommen habe.
Landwirte, die im ehemaligen Außendeich neben Weizen,
Gerste und Mais zu gerne auch Wind ernten würden, haben sofort angezweifelt,
dass dieser Wachtelkönig, den nicht einmal der Freundeskreis Wachtelkönig zu
Gesicht bekommen hat, im Nordkolbinger Außendeich aufgenommen worden sei.
Baisinger, sonst sehr bauernfreundlich, erklärt die Landwirte zu Spinnern. Sie
werde doch wohl noch wissen, wo sie das Bild gemacht habe.
Ein Wachtelkönig im Außendeichgelände
wäre das Aus für jegliche Veränderung. Außer ihm gelingt es nur noch dem
Feldhamster, Uhu oder bestimmten
Fledermausarten die Mitarbeiter der unteren Naturschutzbehörde in derartige
Ekstase und blinden Aktionismus zu
versetzen, dass sie mit vollster Rückendeckung aus Hannover und Berlin sofort
jegliche Planungen stoppen und neue Bewirtschaftungsauflagen erlassen.
Liebe Wachtelkönigfreunde, habt
Verständnis, euren Wachtelkönig darf es hier nicht geben!
Nr. 6 – die Hannoveranerkönigin,
Hella Rossmann, mit langem, schwarzem
Pferdeschwanz. Etwas lächerlich läuft sie ein trabendes Pferd imitierend mit klackerndem
Absätzen, Hufgeklapper nicht unähnlich, auf die Jury zu. Fehlt nur noch, dass
sie anfängt zu wiehern oder mit lautem Schnauben einen Pferdeapfel unter ihrem
Pferdeschwanz herausdrückt.
Schön, also wirklich schön ist der
silberne Stirnreif an dessen Mitte, genau in Verlängerung der Nasenwurzel über
der Stirn das typische Hannoveraner Zeichen mit den beiden Pferdeköpfen im H
glänzt.
Nr.7 – die Weißkohlkönigin, wir
kennen sie ja schon, Kohl - Hiesels Tochter, bewegt sich unter den
Anfeuerungsrufen der Landjugend vor. Wegen einiger Kohlköpfe, die sie in einer
Kiepe trägt, ist ihr Hohlkreuz besonders ausgeprägt. Das ist nicht so schlimm,
weil dadurch wieder ganz andere Partien mehr Betonung erfahren. Die Haube aus
Weißkohl Blättern wirkt etwas lächerlich wird aber durch ein ausgesprochen
freundlich hübsches Gesicht ausgeglichen. Kohl-Hiesels Tochter Viola ist
bestimmt ganz oben wieder zu finden. Man will ja nichts unterstellen, aber
Hiesel und Bürgermeister Detje sind beide aktive Sänger bei Gleichklang Bilge,
einem Gesangverein mit einer Tradition die weit in das vorvorige Jahrhundert
zurückreicht.
Die Hannoveranerin scharrt mit den
Hufen und bewegt ihren Kopf rhythmisch auf und ab.
Glaubt man´s?
Nr. 8 – die Pudelkönigin, Cindy Roth,
nominiert von einer Arbeitsgemeinschaft bestehend aus neun Kegelvereinen, die
alle im Friedeberger Hof kegeln, sich aber nie beim Kegeln sehen, weil, wenn
sie kegeln, keine Bahn mehr frei ist für einen anderen Kegelverein. Umso
erstaunlicher, dass sie sich zu einer AG zusammen gefunden haben. Witzig das
Outfit! Gymnastikanzug, um die Hüfte ein Röckchen aus Kegeln in Normalgröße um den Hals deutlich
kleinere Modelle. Auf dem Kopf ein zierliches Silberkrönchen.
Nr. 9 – sehr gewagt, Königin der
Nacht, sehr freizügig mit schillernden Glitzereffekten. Natalie nennt sie sich,
vielleicht ist es auch nur ihr Künstlername. Sie arbeitet im Nightclub „Happy
Midnight“, den es seit einigen Jahren im Gewerbegebiet in Kolbingerhafen gibt.
Dort gibt es eine Lizenz zum Ausschank und maximal noch zum Ausziehen. Mehr
aber nicht! Das zumindest wird nach außen immer wieder gebetsmühlenartig
verkündet.
Klärchen Adami, die dort vormittags
sauber macht, erzählt da ganz andere Sachen. Sachen, die schon mal Männer
neugierig und Frauen wütend machen. Aber die Alte tütelt auch schon ein
bisschen, man muss nicht alles glauben, was sie erzählt.
Natalie sagt, sie sei auf Empfehlung
ihrer Belegschaft „in die-see Competiscionn ro-yal“ eingestiegen.
Paula guckt sich Natalie aufmerksam
an.
“Worüm schnackt de so komisch as ob
se de Nees vull Schnodder ha?“ Fine, die auf der anderen Seite von Paula saß
antwortet: „Dat is keen Schnodder, de will so klingen as´n Franzmann. Vielicht
kummt se jo ook ut Frankriek. Heet jo ook Natalie, so heet doch egentlich keen
een hier.“
„Ach so.“ Das genügt Paula.
Das ist sie also, die Natalie, von
der Harry Röndigs immer erzählt, dass die so nett sei leider aber nur den ganz
teuren Sekt mag, der günstige bekommt ihr nicht. Dafür ist sie dann aber auch
immer ganz lieb zu ihm.
Ja, so ist das denn, Harry.
Nr. 10 – die Bienenkönigin, Helga
Summfleth, Kostüm wie ein geflochtener Bienenkorb aus Stroh mit Aufschrift IMKEREI MELVIN CORDT. Das geht doch gar nicht,
sieht doch aus wie ´ne Tonne, kann man doch nicht nach Berlin lassen! Auf dem
Kopf irgendetwas, das aussieht wie eine riesige, aufgetrennte Biene Maja. Hätte
sie nur ein wenig von der Hannoveranerin, würde sie nun mit den Armen wedeln, „sum,
sum, sum…“ singen und kleine
Honigtöpfchen ins Publikum werfen. Vielleicht hat sich das für Berlin
aufgehoben. Schade!
Ist Melvin da wohl ein bisschen zu geizig
gewesen?
Nr. 11 – die Stutenkönigin[1]!
Ja, wer ist denn das? Bildschön, ausgesprochen
flexibel schon im Gang, meint Jan Riecken, der sich mit diesem Thema ja
bekanntlich länger beschäftigt hat. An
der Hand geführt wird die Stutenkönigin vom ledigen Bäckermeister Hinnerk
Holtkamp, dem ledigsten aller Kolbinger Bäcker. Vor der Jury macht die
Stutenkönigin einen artigen Knicks und erlächelt sich mit dem bezauberndsten
Lächeln des Abends einige Sympathie
Punkte.
„Das ist Natascha“, stellt Hinnerk
seine Königin der Jury vor.
Gerade will sie sich auf Stuhl 11
niederlassen, als laut das Wort „Protest“ durch die Halle schallt. Ganz oben
auf der Tribüne steht Mario Backmeier.
Bis vor wenigen Monaten hat er bei Hinnerk Holtkamp als Geselle gearbeitet.
Hinnerk musste sich von ihm trennen, weil Mario zu häufig anderer Ansicht über
den Arbeitsbeginn war als sein Chef. Nun muss er jeden Morgen nach Otterndorf
fahren, auch zum Backen, aber viel weiter weg von seiner Wohnung. Else Piening,
die ihm sehr nahestehende Bäckereifachverkäuferin hinter Hinnerks
Verkaufstresen, hat ihm von dieser Königin erzählt.
„Was heißt hier Protest?“ fragt Gaby
Melzer hoch zur Tribüne.
„Die Stutenkönigin ist nicht von
hier!“
„Na und? Steht doch nicht in den
Regeln, dass sie von hier sein muss.“
„Die kommt aber aus Russland und kann
kein Deutsch.“
Das stimmt und Hinnerk hat ihr
beigebracht, dass sie mit „Ja“ und „Nein“ genug Deutsch könne, um als
Stutenkönigin nach Berlin fahren zu können.
Gaby Melzer fragt die Stutenkönigin:
„Natascha, das war doch dein Name?“ „Ja“, kommt die Antwort.
„Stimmt es, dass du kein Deutsch kannst?“
„Nein.“
„Du sprichst also Deutsch?“
Natascha nimmt das leichte Kopfnicken
von Hinnerk Holtkamp nicht wahr und antwortet laut und deutlich: „Nein!“
„Siehst du“, kommt es von Mario
Backmeier, „sie kann kein Deutsch, ich weiß es von Else. Kein Deutsch, keine
Zweisprachigkeit! Die muss disqualifiziert werden.“
„Hinnerk, stimmt das?“ Es ist inzwischen mucksmäuschenstill geworden
in der Halle. Jeder will die Antwort auf Gabys Frage hören.
„Ja und nein“, kommt der
Bäckermeister zögerlich raus. „Also, sie kann kein Deutsch aber sie ist
zweisprachig. Natascha kommt aus der Ukraine und sie spricht fließend Russisch
und Ukrainisch. Lydia (Lydia kommt aus Kasachstan und kann Russisch), da oben
sitzt sie, macht bei uns sauber und hilft
ein wenig in der Küche. Lydia hat das erzählt, Stimmt doch Lydia?“
„Und warum habt ihr sie denn als eure
Stutenkönigin nominiert? Zum Repräsentieren muss man Deutsch können! Hinnerk,
was habt ihr euch dabei gedacht?“
Inzwischen ist Hinnerks Kollege Gerd
Lühring aus Kolbingerhafen zur Hilfe geeilt.
„Also, es gab ja keine mehr. Wir
haben alles versucht, die meisten Mädchen, die wir gefragt hatten, hatten schon
anderswo zugesagt. Nur Samantha Meyer wollte von ZaunMeyer wechseln.
Stutenkönigin gefiel ihr einfach besser als Zaunkönigin. Unter fünf Grünen (500
Euro) wäre sie allerdings nicht zu einem Transfer bereit. Das war uns zu viel.
Und dann habe ich Natascha ins Spiel gebracht, Natascha Mircowa, sie ist die
Schwester von unserem Praktikanten Igor aus Kiew. Na ja, so ist das gekommen.“
Die Köpfe der Jury gehen zusammen und
nach kurzem Getuschel gibt Gaby Melzer
das Ergebnis der Beratung bekannt.
„Natascha darf dabei bleiben. Sollte
sie aber aus irgendeinem Grunde als Siegerin hervorgehen, erwarten wir, dass
ihr die Nominierung zurück nehmt. Verstanden?“
Ja, das war angekommen.
Suse Hellerich notiert sich:
„Merkwürdige Regelung. Nachfragen! Interview mit Natascha verabreden!“
Natascha hat unter dem Beifall des
Publikums auf Stuhl 11 Platz genommen. Nee, ausländerfreundlich sind sie nun
mal, die Kolbinger, und allemal, wenn die Ausländer so aussehen, als wenn sie
aus Schweden kommen. Glaubt doch keiner, der es nicht weiß, dass diese
Schwedin, die so aussieht wie die drei Töchter von Jens Mahler vom Klinkerdeich,
in Wirklichkeit eine Ukrainerin ist, die sogar noch russisch spricht.
„Nee“, tuschelt Fine Paula ins Ohr,
„wat nich allens giwt! Fehlt mi nur noch´n witten Afrikoner, de op´n Moorpatt
längs löpt un „Oh Tannenbaum“ singen dei.“
Für Paula sind zu viele
Nebengeräusche in der Halle. Wenn jemand so leise zu ihr spricht, muss sie
raten.
„Wann schüllt wi Oh Tannenbaum
singen? Taun Schluss oder nu all mittenmang?“
„Wenn öberhaupt, Paula, denn no dat
Enn hin. Ick sech di Bescheed, wenn dat so wiet is.“
„Is jo ook erst Oktober, Anfang
Oktober! Wat schüllt wi nu wohl schon Oh Tannenbaum singen. Wart doch jümmer
verrückter, de Lüe. Erst in September de Spekulatius bi Edeka und dann Oh
Tannenbaum in Oktober.“
Nr.12 – die Kneippkönigin! Gerlinde
Coolwater mit Vorfahren väterlicher Seite aus der Gegend von Exmouth, England. Ja,
ganz richtig gehört! Kneippkönigin hat überhaupt nichts mit Kneipe zu tun. Das
sind die jungen Frauen und Mädchen, die einmal in der Woche über den von
Korffschen Weg, barfuß durchs nasse Gras
und manchmal durch eine Schale mit kaltem Wasser gehen. Gerlinde Coolwater,
im Badeanzug und natürlich barfuß.
Hallooo?
Das geht doch nicht. Die kann doch
nicht für Kolbingen in Berlin durch Schälchen mit kaltem Wasser tapsen. Und nun
winkt sie auch noch mit zwei leeren Pet Flaschen zum Publikum. Soll wohl
symbolisch sein. Geht gar nicht! Wenn das die Berliner auf der Grünen Woche
sehen, buchen die doch lieber Stadturlaub in Castrop Rauxel.
Gaby Melzer, als Jurymitglied zur
Unparteilichkeit verpflichtet, schüttelt gedankenverloren den Kopf.
Der Beifall ist sehr verhalten. Na
ja, es sind ja auch nicht alle fünfzehn Mitglieder aus der Gruppe heute hier.
Tapfere Gerlinde, zieht den rechten Träger von ihrem Badeanzug wieder etwas
hoch und setzt sich lächelnd auf Stuhl 12.
Dabei sein ist eben alles!
Nr. 13 - die Fährkönigin, nominiert von Hartwichs
Fährkrug in Kolbingerhafen mit Unterstützung des Unterelbischen Fährbetriebes.
Das einzig wirklich Originelle war ihr Auftritt. Im rechten Tribünenfeld erhob
sie sich nach ihrem Aufruf und rief mehrfach durch ihre zum Sprachrohr
geformten Hände ins Publikum: „Fährmann, hol öber!“ Während Alex Blunk, die
Fährkönigin, noch rief, sah man einen Hünen von Mann mit der Jacke des
Fährbetriebes durch die Reihen die Bänke
hochhasten. Dieter Blunk, Alexs Vater und Kapitän meistens auf der Kolbingerhafen
II, erreicht seine rufende Tochter, legt sie sich über die Schulter, als sei
sie nicht schwerer als ein Zaunpfahl, und trägt sie leichtfüßig die Stufen
runter. Direkt vor den Füßen der Jury stellt er sie ab mit einer Körperhaltung
und Mimik, die nichts anderes sagte als:
„Hier habt ihr sie, eure Königin. Die
und sonst keine!“
„Von Flexibilität und sicherem
Auftreten war hier wohl noch nicht viel zu sehen“, sprach Jan Riecken mehr zu sich. Weil es aber gerade
nicht allzu laut war, konnte Paula Heinsohn
genau verstehen, was Jan da sagte.
„Jo, lütt beeten sicher bi´d Oppedden
möt man schon ween, wenn man so as´n Kengeruu mit sien Deern op´n Puckel de
Tribün rünner löpt. Dat kann he, Dieter Blunk, de Bullerkopp ut Neuland und sicher
mit de Fähr hin und her schippern, dat kann he ook.“
Alex trug Turnschuhe und einen
Minirock über ihrer Jeans. Ihren schlanken Oberkörper umgab eine viel zu große
Allwetterjacke der Unterelbischen Fährbetriebe.
Halt! Da steht ja noch im gleichen
Schriftzug drüber „ F Ä H R K Ö N I G I N“!
Nicht schlecht aber das kleine,
billige Kunststoff Karnevalskrönchen auf
dem Lockenkopf wirkt nun wirklich etwas deplatziert.
Hol öber! Die nächste bitte!
Nr. 14 – Samantha Meyer, die
Zaunkönigin. Hast du ihre Krone gesehen? Ein Mini Gartenzaun, so, wie er von
ZaunMeyer vor dem Pastorat in Hohendeich gesetzt worden ist. Und nun der
Knaller: Vorne eine kleine Gartenpforte und obendrauf wippt, Schwänzchen
senkrecht aufgestellt, ein unscheinbares,
ausgestopftes Zaunkönigweibchen.
Wenn das man keinen Ärger mit den
Naturschützern gibt!
Ubbo Hartwich unterhält sich bereits
sichtlich erregt und immer wieder auf die Zaunkönigin zeigend mit seiner
Kameradin Annegret Hölscher, Biologielehrerin an der Oberschule und
Gründungsmitglied des Freundeskreises Wachtelkönig.
Samantha merkt davon nichts.
Berauscht von dem Beifall selbst von Fans anderer Majestäten bringt sie ihren
knapp bedeckten, makellosen Körper mit, wie Jan Riecken fachmännisch
feststellt, bewundernswert sicherem Auftreten vor die Jury.
Die Köpfe der Jury gehen zusammen.
Was ist los, stimmt hier irgendetwas nicht?
Gaby Melzer nimmt das Mikro: „Wir
überlegen gerade, ob die Zaunkönigin zugelassen werden kann. Die Bereitschaft,
gegen Geld zu den Bäckern zu wechseln, verrät eine gewisse moralische
Unzuverlässigkeit und wir glauben, dass das in Berlin …“
Die letzten Worte gingen im
aufbrandenden Tumult unter. Samantha hat weit mehr Sympathisanten in der Halle,
als es manch einer der hier anwesenden oder auch nicht anwesenden Frauen und
Freundinnen lieb war. Sogar einige Sympathie Pfiffe sind zu hören.
Hansi Hampe, mit dem seine Frau Witti seit einigen Tagen wieder
spricht, springt von seinem Platz auf und ruft mehrmals „Bravo! Bravo!“
Das hätte er sich verkneifen sollen.
Leider bemerkt er seinen Fehler erst, als seine Witti ihn am Jackett Saum packt,
und mit einem kräftigen Ruck auf die Bank herab zieht. Ihr Blick verkündet unmissverständlich den
Beginn der nächsten Eiszeit im Hause Hampe.
Samantha zuckt ratlos mit ihren
nackten Schultern und schaut zu ZaunMeyer hoch.
Der erhebt sich gestikulierend, man
sieht ihm an, dass er etwas sagen möchte. Weil ihn niemand verstehen kann eilt
ein Helfer in hellblauem T-Shirt die Tribüne hoch und reicht dem erregten Meyer
das Funk Mikro.
„Eins, Zwei, Tack, tack, eins, zwei …
könnt ihr mich verstehen?“
Es wird still. Was wird geschehen,
zieht ZaunMeyer seine Nominierung zurück? Dann dröhnt es aus den
Lautsprecherboxen:
„Moralische Unzuverlässigkeit, dass
ich nicht lache! Das war doch ein ganz normaler Vorgang. War alles mit Sammy
abgesprochen. Die Bäcker wollten aus meiner kleinen Zaunkönigin eine
Stutenkönigin machen. Aber die Ablösesumme stimmte nicht. So ist das nun einmal
im Geschäftsleben. Ist doch in der Bundesliga auch nicht anders, oder? Die knickerigen Bäcker wollten nicht höher ran
und da haben Sammy und ich beschlossen, bevor sie unter Wert zu den Mehlsäcken
wechselt bleibt sie lieber bei mir!“
Anhaltender Beifall, Fußgetrampel auf
der Tribüne.
Samantha versteht das alles nicht. Sie hatte
doch niemals mit Meyer über den Bäckertransfer gesprochen.
Macht nichts!
Dass sie etwas nicht kapiert ist ihr
schließlich nicht fremd. Lächeln. Gut aussehen. Drei Schritte zum Publikum,
360° Drehung und wieder zum Richtertisch.
Die Jury Köpfe gehen wieder zusammen.
ZaunMeyer guckt sich um, genießt
seinen Beifall und beginnt sich langsam gegen die auf seine Schultern
klatschenden Hände zu wehren.
Die Jury Köpfe gehen auseinander,
Gaby Melzer ergreift das Mikro.
„Samantha bleibt im Wettbewerb!“
Samantha strahlt hoch zu ZaunMeyer,
der ihr mit hochrotem Kopf beidhändig das Victory Zeichen entgegenstreckt. Sie
wirft ihm eine Kusshand zu.
Fast alle Männer in der Halle haben
es missverstanden und erwiderten den Luft Kuss mit glänzenden Augen.
Mein Gott, was für eine Stimmung!
Auch Hansi Hampe hatte die Hand schon
am Mund und konnte den Luft Kuss noch im allerletzten Moment in einen kleinen
Hustenanfall umwandeln.
Oh je! Wie schnell hätte das eine
längere Eiszeit auslösen können und das alles ohne Hilfe des immer wieder
beschworenen Klimawandels.
Übrigens, Witti Hampe widerte diese
ungehemmte Verehrung des „Flittchens mit dem kleinen Vogel auf dem Kopf“ an.
Das musste man jedenfalls glauben, wenn man ihr ins Gesicht sah.
Während Samantha den Stuhl 14
besetzte, die Halle wieder zu normalen Schallemissionswerten zurückfand, beugte
sich Paula Heinsohn zu Fine, ihrer Nachbarin im Moor und hier auf der Bank.
„Is Annelies nu buten?“
„Nee, wieso, de sitt doch dor vörn bi
Enno.“
„Ick meen doch, ob se nu de Barbi ut Eriksheil
wählt hebt?“
„Nee, Paula, de Lüe hier hebt sick
nur so freut, weil de Menzelsche eben verkünt hett, dat se nur noch dree
Keuniginnen op´n Zettel ha und denn
schüllt wie wählen.“
„Ick wähl de doch gor nich, de dree.
Ick wähl nur dien Annelies. De annern kann se ruhig op eern Zettel beholn.“
„Du schasst ook nur een Keunigin
wählen, Paula. Is dat klor?“
„Ach so.“
Nr. 15 – Knitting Queen, Liesel
Struck, die Enkeltochter von Sabena
Fokken-Pätzel, tritt vor die Jury. Sie wollte erst nicht für die
„Knüttertanten“, wie sie immer etwas verächtlich den Strickkreis um ihre
Großmutter nennt, antreten. In der Klicke haben die Jungen sie Strick Liesel
genannt, als die Pläne von Sabena und ihren Freundinnen in die Öffentlichkeit
durchsickerten. Als Liesel dann aber von den 13
Kandidaturen in der Zeitung las und ganz besonders von der Bewerbung der „Zaunkönigin“ hörte, stand ihr Beschluss
fest:
„Die ist doch so etwas von verpeilt,
das schaffe ich und wenn ich auch nicht gewinne, ich will sie auf jeden Fall
hinter mir lassen.“
Leider musste sie sich den
überwiegend älteren Damen des Strickkreises fügen und in einem gestrickten und
gehäkelten Outfit antreten. Bei der Anprobe zeigte sich aber schon, dass man
auch mit „Kettenhemd“, abwertende Bezeichnung ihres Vaters, ganz schön gut
aussehen kann. Mit dem jedes Mal anders ausfallenden Stricknadel Arrangement in
ihrer Hochfrisur findet Liesel sich selbst inzwischen ziemlich „Cool“. Dennis, ihr Freund seit den Sommerferien,
findet sie auch cool.
Sagt er zumindest!
Auf Facebook hat er allerdings bei
seinen Freunden gepostet, dass er nicht an einen Sieg von Liesel glaube.
Wörtlich stand da:
„Immer, wenn ich auf dieses Stricknadelmikado
sehe, muss ich an eine japanische Geisha denken. (Zwei lachende Smileys
eingefügt) Ich will doch keine Japse heiraten. “
Als Antwort kam:
„Halt die Ohren steif, Alter. Und
pass auf deine Augen auf beim Knutschen! O. + M.“
Und das, obwohl gerade in Sozialkunde
eine Unterrichtssequenz über offene und
versteckte Rassismen in der Deutschen (Umgangs)Sprache läuft.
Am Tag darauf begegnete Liesel Olaf
und Malte in der Pausenhalle und begriff überhaupt nicht, was das blöde
Gegrinse sollte. Und dann haben die beiden auch noch fast gleichzeitig ihre
Augenhaut nach außen gezogen bis nur noch kleine Schlitze zu sehen waren.
Selbst Oma Sabena glaubte nicht so
recht an Sieg. „Aber“, vertraute sie Lotte Hansen, Gründungsmitglied der
Strickfreundinnen vor nunmehr schon 24 Jahren, an, „wenn wir dabei sind, kommen
vielleicht ein paar jüngere Frauen zum Stricken.“
Liesels Drängen, als „Knitting Queen“
statt „Strickkönigin“ ins Rennen zu gehen, haben die Strickdamen schließlich nur
nachgegeben, weil sie auf Liesels Frage: „Wie wollt ihr denn jemals jüngere
Frauen erreichen, wenn ihr euch nicht einmal ein klein wenig auf sie zu
bewegt?“ keine Antwort wussten. Irgendwann konnte selbst Konstanze von der Decken, die sich bis
zum Schluss gegen die „Anglisierung der Deutschen Sprache“ stemmte und schon
einmal heimlich über das Verlassen des
Strickkreises vor Erreichen der silbernen Treuenadel nachgedacht hatte, mit der
„Knitting Queen“ leben. „Aber nur mit großen Bedenken, äußerst großen Bedenken!“,
wiederholte sie bei jeder Gelegenheit. „Mit
der Zeit gehen muss ja nicht einhergehen mit der Aufgabe aller guten
konservativen Werte und Traditionen.“
„Und“, fragt Paula Fine Riecken,
„worüm hett de Deern all de Stricknoodeln in´t Hoor? De meisten annern Keuniginnen ha´n doch so
´ne Oort Kroon op´n Döz?“
„Minsch Paula, manchmool glöw ick,
dat du ook nich mehr allens op de Reech krist. Dat is doch eehre Kroon.
Knitting (bitte mit scharfem „k“ gesprochen!) Kwien heet doch nix anners as
Strickkeunigin, dat hett mie Annelies tauminnst so verkloort. De is zwoor nich
all tau best in Engelsk ober dat nehm ick eehr noch af.“
„Ach so.“
Inzwischen hat sich in der Halle
rumgesprochen, dass Heller Herwein, Wirt vom Friedeberger Hof, draußen mit
seinem Bierwagen steht. Sein Freund, Hausmeister Conny Rathje hat ihm per Handy gesteckt, dass
wohl zwei, drei Fass Kolbinger (bloß nicht verwechseln mit Erdinger, da gab es
schon einmal Prozessandrohungen!), also Kolbinger Pils locker durchgehen
könnten, wenn er sich beeilen würde.
Wenn es ums Geschäft geht kennt Helle
nichts. Obwohl er schon mehrere Biere mit seinen Tresen Gästen runter gekippt
hatte, ließ er alles stehen und liegen. Der Bierwagen stand noch,
allerdings mit ungespülten Leitungen,
auf dem Hof. Was keiner weiß…
Das halbvolle Fass vom gestrigen
Vereinsschießen muss fürs Erste reichen. Marco, Helles Faktotum – Mann für alle
Fälle, soll gleich mit Reservefässern nachkommen. Während Helle den Bierwagen
ankoppelt überlegt er noch eine Sekunde wegen seiner Promille.
„Nee, bis ich jemanden gefunden habe,
ist der Trubel da vielleicht schon vorbei. Außerdem ist Henner Hagenah, der
Dorf Scheriff, bestimmt schon lange in der Halle.“
Während Heller die ersten Biere
gezapft hat und Conny sein „Informanten Gratis Bier“ etwas abseits trinkt,
kommt Annegret Hölscher aus der Halle. Unter Protest! Sie hatte gerade eben von
der Jury verlangt, dass Samantha umgehend die Zaunkönigin aus ihrer Krone
entfernt.
Das Ansinnen wurde einstimmig
abgelehnt, nachdem die Hölscher etwas kleinlaut zugeben musste, dass Zaunkönige
und besonders auch Zaunköniginnen nicht
unter Schutz stehen geschweige denn einen Platz auf der Roten Liste einnehmen
würden.
Sie nahm das Urteil mit Entrüstung
zur Kenntnis, schnaubte: „Dies ist nicht
mehr meine Veranstaltung!“ und verließ die Halle. Noch kein bisschen weniger
aufgebracht sieht sie Heller Herwein die Zigarette lässig im Mundwinkel Biere
zapfen. Fast der komplette Spielmannszug der Moorer hatte es irgendwie
gerochen, dass draußen ein weiteres Highlight auf sie wartet.
„Heller, mokst du mi noch mool tein.“
„Heller, vier Bier und drei Alster
für die Kleinen!“
Das waren doch Nicole und Vicky aus
der 8a. Na warte!
„Herr Herwein, stellen Sie sofort den
Bierverkauf ein. Auf dem Schulhof besteht absolutes Alkoholverbot. Nicole und
Vicky ihr geht bitte rein, wir sprechen uns morgen. Und, wenn ich schon einmal
dabei bin, Herr Herwein, machen Sie bitte die Zigarette aus!“
Fast der gesamte Spielmannszug
rauchte. Edwin Buhrfeindt aus der 7. Klasse steht ganz hinten. Vorsichtshalber
hält er die rechte Hand mit der Kippe hinter den Rücken. Die Hölscher ist zu
allem fähig.
Conny Rathje, der das alles schon hat
kommen sehen, hatte bereits vor Erscheinen des Bierwagens mit dem Schulleiter Gerald
Hauptmann telefoniert und ihn über die Lage am Schulzentrum informiert. Auf die
Frage, ob er denn noch aus Stade kommen müsse, meinte Conny Rathje, der sich
sichtlich in der Rolle des Machers gefiel: „Nein, ich denke, dass es genügt,
wenn du telefonisch das Alkoholverbot für heute aufhebst.“
„Okay, war´s das? Dann hebe ich das
Verbot auf. Wir sehen uns morgen! Tschaui!“
„Haben Sie mich nicht verstanden, Herr
Herwein. Schluss mit Bier, auf der
Stelle!“
„Schluss mit Bier!“ äfft Heino
Behrwald, der noch bei der Hölscher Bio hatte, seine ehemalige Lehrerin unter
dem Gejohle seiner Spielmannszug Freunde nach.
Heller Herwein ist die Ruhe selbst. Gerade
hat Conny ihm zugeflüstert, dass das Alkoholverbot soeben fernmündlich von Gerald
Hauptmann für diesen Abend aufgehoben worden sei.
„Danke, Conny, du trinkst heute
umsonst!“
Zur fast kollabierenden Hölscher
meinte er ober cool: „Nun komm´se man mal wieder langsam runter, gute Frau. Ist
doch alles mit der Schulleitung abgesprochen.“
„Wer´s glaubt wird selig! Ich werde
das überprüfen. Wenn Sie mich belogen haben, wovon ich ernsthaft ausgehe, werde
ich dafür sorgen, dass Sie Ihre Lizenz verlieren. Wissen Sie eigentlich wie alt
Vicky und Nicole sind?“
„Wissen Sie eigentlich, wie alt Vicky
und Nicole sind?“ echote es aus dem Pulk der inzwischen schon recht fröhlichen
Spielleute aus dem Moor.
Annegret Hölscher tritt ab. Es war
keine gute Entscheidung diese Veranstaltung zu besuchen. Irgendwie hatte sie es
schon den ganzen Tag gespürt.
In der Halle nahm trotz des
Pendelverkehrs raus – rein – raus – rein die Veranstaltung ihren weiteren
Verlauf, wie geplant. Gerade wollte Gaby Melzer die Nummer 16 aufrufen, als
Willem Krahnke mit einem vollen Tablett Biergläser an der Jury vorbei lief.
„Wo kommt das Bier her?“ denkt Gaby
Melzer und sieht gerade noch, wie Willem die Gläser vom Tablett gerissen
werden, bevor er bei seinen Kumpels ankommt.
Der Geruch gebratener Krakauer wabert
durch die geöffnete Tür in die Halle. Klaus Fretwurst, nomen est omen, auch von
Conny alarmiert, ist sofort mit „Klausis mobiler Würstchenschmiede“ ausgerückt.
Über solche Veranstaltungen freut er sich immer besonders. Das Ladengeschäft
läuft nicht mehr so gut, seitdem der EDEKA in Friedeberg so gut sortiert ist
und seit zwei Monaten nun auch noch der Nettomarkt in Kolbingerhafen mit einer
großen Fleischtheke eröffnet hat.
„Die Veranstaltung droht mir zu
entgleiten“, hämmert es durch Melzers Kopf. „Ich muss das Ding hier irgendwie zu Ende bringen!“
„Ehlers, reichen Sie mir mal bitte
das Mikro. Danke.“ Noch nie hatte sie einfach nur Ehlers zu ihm gesagt. Wie
peinlich!
„Meine Damen und Herren, im Interesse
eines ungestörten Ablaufs möchte ich Sie bitten, Speisen und Getränke nur im
Freien einzunehmen. Willem, kannst
gleich wieder umdrehen mit deinem Tablett. Das Bier holen dir die Moorer
doch sowieso wieder runter, bevor du hinten angekommen bist.“
Willem leuchtet die Warnung von
seiner Kegelschwester Gaby ein. Mit der freien Hand winkt er seine Kumpel vor
die Tür und dreht mit dem vollen Tablett ab,
Kurs Schulhof.
„Ich rufe jetzt die Nummer 16 auf,
Melanie Pickenpack, die Antikönigin!“
Melanie hüpft die Stufen der Tribüne
runter. Ihren schweren Königinnen Mantel trägt sie über dem Arm, es war
unerträglich unter dem Mantel in der aufgeheizten Halle. Lächelnd greift sie
nach dem Mikro von Gaby Melzer.
„Darf doch?“
Ohne eine Antwort abzuwarten plappert
sie ins Mikro:
„Ich bin die Antikkönigin und nicht
die Anti-Königin, wie du eben gesagt hast.“
Was duzt die mich eigentlich? Freche
Göre!
Gaby Melzer nimmt das Mikro.
„Ich habe Antikönigin gesagt und das
ist der Titel, den ihr selbst gemeldet habt. Deswegen steht doch auch auf dem
Stimmzettel Antikönigin. Hier, kannst selber sehen, hier ist euer Meldezettel.“
Melanie muss zugeben, dass sie
offiziell eine Anti-Königin ist, weil Werner Fabian, der den großen Antik und
Trödel an der L 111 in Aantenwörden betreibt, ein „k“ in der Anmeldung
vergessen hat.
„Und was steht auf meinem Mantel?“
schießt es Melanie durch den Kopf.
„Aan-ti-kö-ni-gin“, liest Melanie
laut für sich selbst. „Scheiße“, rutscht es ihr raus, „hätte ich das bloß
gecheckt, bevor Werner den Auftrag an den Online Beschriftungs Versand
geschickt hat.“
Werner ist hinzugekommen. „Ww wo ist
d das Problem?“ Er verhaspelt sich
leicht, wenn er aufgeregt ist.
„Du hast es versaut, du bist Schuld,
dass ich jetzt eine Anti-Königin bin. Mensch, da gehören zwei „k“ in das Wort.“
„Weiß n nicht w was du hast. M musst
nur richtig l lesen können, dann steht d da auch Antikkönigin.
Hörst du, An-tik-kö-ni-gin.“
„Hör doch auf. Hier steht
An-ti-kö-ni-gin und dann musst du es auch so lesen und nicht wie
An-tik-kö-ni-gin. Verstehst du?“
Werner ist ein begnadeter Kaufmann.
In nur wenigen Jahren hat er seinen Laden zur Topadresse gemacht. Kunden kommen
sogar von Hamburg und Bremen, um bei ihm zu kaufen oder zu verkaufen. Nur mit
dem Schreiben will es nicht klappen. Wozu auch? Das meiste macht ja Melanie.
„J ja und? Du b bist a a aber
trotzdem Antikkkönigin. Was macht denn das andere f für einen
Sinn f für einen Anti
Antikladen?“
Gaby Melzer schaltet sich ein.
„W Werner, Tschuldigung Werner,
Werner hat Recht. Anti-Königin macht keinen Sinn. Melanie ist ab sofort
Antik-Königin.“
„Ha hab ich doch gleich gesagt, d
dass das alles ei eine Wichse ist.“
Melanie bekommt Beifall. Er ist nicht
mehr sehr kräftig. Werner Fabian, vor drei Jahren erst aus Herne zugezogen, hat
hier noch nicht viele Freunde und außerdem ist die Halle nur noch halb voll.
Draußen am Wurststand und Bierwagen
tobt das Leben. Das Bier läuft permanent, Heller ist Profi! Und auch Klaus
Fretwurst ist kein Anfänger, eine Lage weiße Würstchen nach der anderen hämmert
er auf das Rost seiner Würstchenschmiede, wann immer dort wieder Platz ist.
Soeben schallt das Anneliese Lied
instrumental und gesungen in die Halle. Die meisten Spielleute hatten nach und
nach ihre Instrumente zu sich nach draußen geholt.
Man lässt sein Kind eben nicht gerne
allzu lange alleine.
Als Heller Herwein Ulf Heinsohn
aufforderte zu spielen und eine Runde Freibier für jeden ausrief, der Heinsohn
zur Seite stehen würde, gab es kein Halten mehr.
„Zwei, drei: Anneliese, Anneliese…“
In der Halle tönt Gaby Melzers Stimme
aus den Lautsprechern.
„Wir kommen zu unserer letzten Majestät.
Darf ich bitten, Nr. 17, Friederike Herma
Winter die „Milchkönigin“!“
Friederike begibt sich umhüllt von
einem blütenweißen Spitzenkleid zur Jury. Auf ihrem Haupt trägt sie ein zierliches
Goldkrönchen.
Schon bemerkenswert, da haben sich
die milcherzeugenden Betriebe Nordkolbingens tatsächlich an einen Tisch gesetzt um eine
gemeinsame Milchkönigin zu nominieren. Im Grunde waren sie sich ja einig. Grüne
Messe ist in erster Linie Messe des Nahrungsmittel erzeugenden Gewerbes.
„Und wer, bitte schön, erzeugt mehr
und besser Nahrungsmittel als wir“, meldet sich Carl Christian Wüst, der
inzwischen über 300 Milchkühe zweimal
täglich durch das Melkkarussell schleust, zu Wort. Die Knöchel der robusten
Milchbauerhände drohen wegen des heftigen Klopfens auf die Kneipentische
aufzuplatzen.
Gar keine Frage, man war sich von
Anbeginn einig darüber, dass die zweite Kolbinger Majestät eine Milchkönigin,
ihre Milchkönigin sein muss.
Es wäre nur zu schön, wenn alles so
glatt weiter laufen würde. In der Personalie, wer denn nun nominiert werden
sollte, schieden sich die Geister. Die Moor Milch Bauern (MMB) hätten gerne
Gesine Käse, Tochter eines Moor Bauern Betriebes (MMB) gesehen. Die Marsch
Milch Bauern (MMB) hätten gerne Charlotte Wüst, Tochter des oben bereits
zitierten Marsch Milch Betriebes (MMB) Carl Christian Wüst, nach Berlin
geschickt. Erst drei Tage vor dem Ende der Bewerbungsfrist kamen die
Berufskollegen aus Marsch und Moor auf Drängen einiger ihrer Frauen erneut zusammen.
Ohne Entscheidung an diesem Tage würden
sie bis zum 3. Oktober kein Gewand für die Königin schneidern können. Das
leuchtete ein. Deswegen rief Carl Christian Wüst Bauer des MMB seinen Schwager
Nobbi Kahlke an, der einen MMB in Kamerlandermoor führte, und sie einigten sich
im Vorwege, dass weder ein Mädchen, das von einem MMB noch eines, das von einem
MMB stammt nominiert werden soll. Um zumindest noch ein wenig ihrem Beruf nahe
zu bleiben, einigten sich die versammelten MM Betriebsleiter auf die angehende
Molkereifachwirtin Friederike Herma Winter. Die kannten alle, weil sie ihren
Onkel Hinnerk Winter als Praktikantin
schon mehrfach auf seinen Höfe Rundreisen als staatlich bestellter
Milchkontrolleur begleitet hatte. Das Abstimmungsergebnis fiel einstimmig bei
einigen Enthaltungen aus. Problem war nur, dass Friederike bis dahin noch
nichts von ihrer Nominierung wusste.
Carl Christian und Nobbi sollten sie
noch am selben Abend aufsuchen.
„Aber, Nobbi, erst nach´m Melken!“
„Na klar, ich hol dich ab.“
Es war dann schon bald 21 Uhr,
Freitagabend, als C.C. Wüst und sein Schwager Nobbi an der Haustür von
Friederike Herma Winter klingelten. Friedels Vater öffnete die Tür. Spätestens,
als die beiden Bauern davon sprachen, dass sie Friederike sprechen wollten,
weil sie sie zur Königin machen wollten, passte er und rief seine Frau zur
Hilfe. Frau Winter kam direkt vom Sofa, wahrscheinlich hatte sie schon etwas
vor dem Fernseher geschlafen. Vater Winter versteht immer noch nichts.
„Du, Mudder, die beiden sind hier und
wollen unsere Friedel zur Königin machen.“
„Geht nich´, Friedel ist nich da.
Wieso Königin? Kommt ihr vom Schützenverein?“
Nachdem die beiden es geschafft
hatten, den alten Winters klar zu machen, was das denn mit der Königin auf sich
hätte, guckte Frau Winter in Gedanken versunken durch die beiden immer noch vor
der Tür stehenden Landwirte hindurch in irgendwelche imaginäre, unendliche
Weiten. Dann öffnete sich langsam ihr Mund.
„Geht nu mal leider nich, is ja nich
da.“
„Wo ist sie denn?“ Nobbi kann kaum
seine Ungeduld beherrschen.
„Wech! Ich geh dann mal wech!“ hat
sie gesagt, „und dann war sie wech.“
„Und, hat sie gesagt, wann sie wieder
kommt?“
„Nee, aber morgens, wenn ich mir´n
Tee aufgieße ist sie meistens wieder da. Sonst kommt doch morgen früh wieder.“
„Geht nicht, die Zeit läuft uns weg,
wir brauchen sie sofort. Keine Ahnung, wo sie ist, wenn sie „wech“ ist?“
„Doch“, kommt Frau Winter langsam
über die Zunge, „manchmal ist sie im Tatöff, in Lüdingworth oder in Heinbockel.
Disco. Wochen Ends immer Disco. Möchte zu gerne ma wissen, was da nun so
besonders dran ist.“
Die beiden Milchbauernschwäger
guckten sich an, verstanden einander und hasteten einen guten Abend wünschend
den Betonplattenweg zum Auto.
„Lüdingworth!“ Zeitgleich vom anderen
„Heinbockel!“
„Ja was denn nun?“ Der Motor lief
schon.
Eine Münze musste her. Kopf oder
Zahl?
Die Münze schickte die beiden Männer
in Richtung Cuxhaven – nach Lüdingworth.
Im Glaskasten am Eingang saß ein
Kerl, den man absolut nur zum Freund oder zu Nichts haben will – auf gar keinen
Fall zum Feind. Glatze, schwarzes T-Shirt, ärmellose Weste. Auf der Glatze
einige chinesische Schriftzeichen und beide Arme bis hoch zu den Achselhöhlen
tätowiert mit grünschwarzen, feuerspuckenden Drachen.
„Den fragen wir“, sagt Carl Christian
und ist schon am Fenster. Noch bevor er etwas sagen konnte redete der schwarze
Drache mit der Glatze:
„Ihr seid zu spät, Jungs!“
„Wieso zu spät?“
„Eure Zeit hier ist doch schon vor 20
Jahren abgelaufen. Kontrolliert ihr denn überhaupt nicht euer Verfallsdatum bevor
ihr euch auf den Weg macht?“
Das hörte sich so cool an, dass man
stark annehmen musste, dass er mit diesen Worten schon manchen einen Vati oder
Opi am Discoeingang empfangen hat.
„Wir wollen ja gar nicht rein, wenn
du vielleicht nur mal eben Friederike Herma Winter holen könntest. Wir müssen
mit ihr reden“, und dann schickte Nobbi noch hinterher: „Ist ganz wichtig!“
„Eeii, was glaubt ihr denn, wo ihr
hier seid? Seht ihr nicht, dass ich zu tun habe?“
Carls Idee! Er öffnet das
Portemonnaie und schiebt dem Glatzkopf 20 Euro entgegen.
„Und nun? Geht es nun?“
„Sagt mal, wollt ihr mich
verscheißern? Der Haufen muss mindestens
doppelt so hoch sein, damit ich ihn auch erkennen kann. Hab was mit die Augen!“
Carl verstand, blöd ist er ja nicht.
Leider hatte er nur noch einen 50 Euro Schein in der Tasche. Der Fünfziger lag
auf der Ablage und eigentlich wollte er den Zwanziger wieder einstecken. Der
Drache war schneller. Blitzschnell zog er beide Scheine zu sich und fragte mit
eben noch für nicht möglich gehaltener Freundlichkeit:
„Wie heißt die noch mal, die Kleine,
die ich für euch holen soll?“
„Friederike, Herma Winter“, brachten
die beiden Kolbinger fast zeitgleich vor.
Und wenn ihr nun glaubt, dass der
schwarze Drache aufgestanden wäre, habt ihr euch getäuscht. Er drückte ein
kleines Knöpfchen auf dem Schaltpult vor sich,
neigte sich etwas zu einem Mikrofon, das daraus hervor ragte und dann
konnten sie auch schon seine Durchsage sowohl aus dem Glasverschlag als auch
aus den Lautsprechern in der Disco hören:
„Die kleine Friederike Herma - Pause
– ja so heißt sie wirklich. Also die kleine Friederike, Herma Winter soll eben
mal kurz das Kinderparadies verlassen. Am Eingang stehen ihre Opas und wollen
mit ihr reden.“
Die Durchsage war noch nicht ganz
verhallt, als die zweiflügelige Tür nach außen aufschwang und eine schaulustige
Meute von Mädchen und Jungen in bester Feierlaune sich in geringem Abstand. um die „Opas“
arrangierte. Nur mal eben sehen, wer die Opas
und wer Friederike, Herma Winter ist.
Friederike kam nicht. Stattdessen
löste sich ein Mädchen mit rotem Lockenkopf, einen Jungen an der Hand hinter
sich her ziehend aus dem Pulk.
„Friederike ist nicht da. Die ist
heute in Heinbockel.“
Schon auf der B 73 in Richtung Stade
fällt Carl Christian ein, dass er 70 € für die Lautsprecherdurchsage bezahlt
hat. Unglaublich! Und Friederike war nicht einmal da.
„Wir sollten uns wenigstens einen
Teil des Geldes wieder zurückholen. Hat doch nix getan dafür, der Glatzkopf mit den
chinesischen Hieroglyphen oder Runen. Wat auch immer. Er hat nix, aber auch gar
nix dafür getan außer diesen scheißblöden Spruch mit den Opas durchs Mikro zu
jagen.“
„Also“, fällt Nobbi dazu nur ein,
„wenn du mit „wir“ auch mich meinst, hast du dich geschnitten. Ich dreh um;
aber rein gehen musst du schon alleine. Ich brauch meine Knochen morgen noch
zum Melken! Also, willst du?“
„Nö, aber kannst mir ja wenigstens 35
€ geben.“ Als nach kurzer Pause immer noch keine Antwort kam, setzte er hinzu:
„ Ach lass man, wir machen Umlage für unsere Unkosten. Denn kannst auch Kilometer einsetzen.“
Heinbockel Disco! Fängt schon an mit
dem Parkplatz. Alles dicht! Als die beiden an der Kasse ankamen ging das
Gefrotzel gleich wieder los. Haben die aus Lüdingworth hier angerufen?
„Nur dass das klar ist, mit
Seniorenpass läuft hier gar nichts. Mädchen frei, ihr zahlt.“
Carl Christian guckt sich den Kerl an
während Nobbi sein Portemonnaie zückt und denkt: „Ohne Ganzkörper Tattoos kein
Job in dieser Branche.“
Mein Gott! Sie hatten schon ganz
vergessen, was sie hier erwarten würde. Krach, Lichtreflexe, Schweiß- und
andere Körpergerüche, Bier, Schnaps und? Das ist doch das Aroma von Gras? Carl
Christian kommt zwar vom Dorf; aber dass dies nicht der Geruch von dem Gras
ist, das er tagelang in seine Futtersilos fährt, war ihm sofort aufgefallen. Er
nimmt noch eine Nase voll und überlegt in Gedanken versunken, wo er dieses
„Gras“ das letzte Mal geraucht hat.
„Pass doch auf, du Trottel!“
Er hatte ein Mädchen, das sich gerade
mit zwei Gläsern durch die Menge zwängte, angerempelt.
„Charlotte!“
„Papa!“
„Ich denk du bist auf dem Geburtstag
der Geerdts Zwillinge in Bilge.“
„Und du, Papa, was machst du hier?“
„Was?“
Der Krach ist kaum zu übertönen.
„Was machst du hier Papa?“
„Ich will mich mit Friederike Winter
treffen!“
Charlotte starrt ihren Vater
fassungslos an.
„Weiß Mama davon?“
„Nö, hat sich ja erst ganz kurzfristig
ergeben, nach dem Melken. Onkel Nobbi ist auch hinter ihr her. Wo steckt der
denn jetzt? Mist, einen verloren und die
andere nicht gefunden. Weißt du wo sie sein könnte?“
Charlotte kann das alles nicht
glauben. Onkel Nobbi, der einzige aus der Verwandtschaft, der fast jeden
Sonntag in die Kirche geht. Ihr Patenonkel Nobbi, der der Tante Alex immer auf
den Hintern klatscht und lauthals verkündet, dass sie gemeinsam durch dick und
dünn gehen „bis dass der Tod uns scheidet“. Im Fernsehen gibt es so etwas
zwischen alten Männern und jungen Mädchen. Aber ihr Papa und Onkel Nobbi auch?!
Mit schwarzer Schminke vermischte Tränen laufen ihr übers Gesicht. Sie kippt
erst das eine Glas „Mischung“ runter und dann das andere hinterher.
„Wie kannst du das Mama nur antun?
Und dann hier. Das ist doch alles nur peinlich. Ich will hier weg!“
Nobbi kommt zurück.
„Charly, meine Kleine, gib deinem
Lieblingsonkel ein Küsschen!“
Er hatte noch nicht ganz zu Ende
gesprochen als er im Gesicht schon die Hitze spürte, die Charlottes flache Hand
dort hinterlassen hatte. Charlotte strebt dem Ausgang entgegen, die beiden
Männer folgen ihr so gut es eben ging. Vor den Toilettentüren kurz vorm Ausgang
packte Carl Christian Wüst seine Tochter am Arm und hinderte sie am Verlassen
der Disco.
„Hör mal Süße, sag Bescheid, wenn du
Hilfe brauchst.“
Das war einer von den Ganzkörpertätowierten,
die fast den ganzen Abend nichts anderes als „Ausweis!“ oder superwitzige
Sprüche wie: „Lass dich nicht wieder erwischen mit dem Perso deiner Freundin! Oder:
Wenn die Milchzähne raus sind, kannste wiederkommen!“ sagen.
„Schon gut, ist mein Vater!“
„Hör mal, das ist ganz anders, als du
denkst…“
Nach mehreren Anläufen gelang es den
beiden, Charlotte von ihrer Unschuld zu überzeugen und sie sogar aktiv in die
Suche nach Friederike Winter einzubeziehen.
„Bleibt ihr mal hier, ich glaube zu
wissen, wo ich suchen muss.“
Charlotte begab sich wieder ins
Halbdunkel hinein, in das Gemisch von Musik, Stimmen, Düften und Gerüchen.
Es war so, wie sie vermutet hatte. Friederike tanzte hinten auf der
Tanzfläche wild und ausgelassen mit einigen Freundinnen. Die Jungen standen am Tresen,
unterhielten sich über Autos, Milcherträge, Schule und natürlich über all die
„Bräute“, die es hier in ganz anderen Mengen und Ausführungen als im fernen Kolbingen
gab. Nur schön aufpassen und kein falsches Wort. Es wäre nicht das erste Mal,
dass es etwas in die Fresse gibt (O-Ton von Bulli Tomforde).
Charlotte steuert zielstrebig auf
Friederike zu. Sie kennen sich nur flüchtig, Rieke ist einige Jahre älter als
Charlotte.
„Mein Vater sucht dich!“ schreit sie
gegen den Lärm an.
„Was?“
„Mein Vater sucht dich!“
„Spinnst du?“
„Nein, mein Onkel sucht dich auch!“
„Hör mal, Kleines, verarschen kann
ich mich selber!“
„Komm mit. Die beiden warten am
Ausgang. Die wollen dich zur Königin machen!“
„Geht’s noch? Das nächste Mal
anständig Abendbrot essen vor dem Kiffen!“
„Komm mit, sonst hol ich sie rein!“
„Nervensäge. Kann was erleben, wenn
die mich verarscht“, denkt Friedel und folgt Charlotte zum Ausgang.
„Hätt ich nun nicht geglaubt“, sprach
sie eher zu sich als sie bei den beiden ihr bekannten Milchbauern ankam.
„Mensch Friederike, wie schön, dass
wir dich gefunden haben. Wir müssen mit dir reden. Willst du Kolbinger
Milchkönigin werden?“ Vater Wüst guckt Friedel mit fragendem Blick an. Als
immer noch keine Antwort kam, setzte Onkel Nobbi nach:
„Du weißt doch, stand doch in der Kolbinger!
Königin für Grüne Woche gesucht!“
Es dauerte einige Zeit bis
Friederike, die Milchkönigin in Spe, alle Zusammenhänge und die Dringlichkeit
der Milchbauern Mission begriffen hatte. Wenn es noch etwas werden sollte mit
der ersten Königin in der Familie Winter, war wirklich Eile geboten. Nobbi
klingelte bei Marga Schütt an, die schon geschlafen hatte, um ihr mit zu
teilen, dass sie in 45 Minuten mit der Milchkönigin bei ihr zum Maßnehmen vorbeikämen.
Die beiden Mädchen holten ihre Jacken
und Taschen und verabschiedeten sich noch von ihren Freunden.
Friederike spürte die Wirkung der
vielen verschieden bunten Getränke, und ließ sich auf der Rückbank des Autos
gegen die schmächtige Charlotte fallen.
„Geht’s euch gut dahinten?“
„Das heißt: Geht’s euch gut da hinten
, eure Majestät! Ihr habt es hier mit einer echten Königin zu tun. Iss doch
nich suviel verlangt, wenn ihr die Etiketten einhaltet.“
Friederike freut sich über ihre
gelungene Zurechtweisung des gemeinen Volkes.
„Charlotte, magst du Mama anrufen und
ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen soll.“
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Mama
Wüst ans Telefon ging.
„Jaaa!“
„Mama, bist du es?“
„Jaa, ist ja sonst keiner da und Papa
hört das Telefon nicht, wenn er einmal schläft. Is was passiert? Wo bist du?“
„Erklär ich dir später. Papa hat
gesagt, dass ich dir sagen soll, dass du dir keine Sorgen machen sollst.“
„Wieso Papa, der ist doch hier. Oh!
Der ist ja gar nicht in seinem Bett.“
„Sagt sie doch, Täubchen, hör einfach
mal zuuhu, wenn deine große Tochter mit dir spricht“, säuselt Friederike von
der Seite ins Telefon.
„Papa ist bei mir. Onkel Nobbi
übrigens auch. Die beiden waren bei Janssen in Lüdingworth und in Heinbockel.
Die waren hinter Rieke Winter hinterher. Nun wollen sie noch…“
„Und nun ha´m sie mich, die beiden
Süßen!“
„Mama, Mama! Nichts zu hören. Kein Empfang. Mist!“
Gisela Wüst war plötzlich hellwach.
„Das war doch Charlotte am Telefon.
Carlis Bett ist leer. Nobbi und Carli mit Friedel Winter? Hätte ich im Traum
nicht gedacht.“
Gisela drückt die Schnellwahltaste
für Nobbi und Alex. Mensch, mach schon. Oh, ist ja schon 1.35 Uhr.
„Suhrbier, hallo, es ist mitten in
der Nacht!“
„Alex ich bin es. Ist Nobbi zu
Hause?“
„Nee, der ist schon nach dem Melken
zu einer Versammlung. Was ist denn los. Ist er mit Carli versackt?“
„Ich verstehe das nicht, Charlotte
hat eben angerufen. Nobbi und Carli waren
mit Friederike Winter in Heinbockel. Die war da auch am Telefon zu
hören. Keine Ahnung, was Charlotte damit zu tun hat, war heute zum Geburtstag
in Bilge, hätte doch längst schon hier sein müssen.“
„Das ist ja ´ne linke Tour. Mir sagt
er, dass er Sitzung hat. Carli auch zur Sitzung? Merkst du überhaupt noch ´was,
mein Schwesterlein? Die sind in die Disco zum Fischen. Und wen haben sie an der
Angel? Friederike, Herma Winter, das Flittchen. Das hätte ich nicht gedacht!“
„Warum Charlotte dabei? Warum ziehen
die Dreckskerle auch noch meine Charly in ihre
schmutzigen Machenschaften rein?“ denkt Gisela während sie ihrer
Schwester zuhört.
„Alex, ich lass mich scheiden.“
„Komm mal runter. Wer wird denn
gleich an Scheidung denken? Was wird mit den Kindern? Was soll mit dem Hof
geschehen? Nee, Gisela, die machen wir fertig – ohne Scheidung! Und nun gute
Nacht, um 5 Uhr ruft der Melkstand!“
Sprach´s und legte auf. Ja so ist Alex.
So war sie schon immer! Nicht aufgeben und immer eine Idee.
Gisela fröstelt, nimmt das Telefon
mit und kriecht unter die warme Bettdecke.
„Carli, ach Carli“, seufzt Giselchen.
So nennt er sie immer, wenn er zärtlich wird. Im
nächsten Moment entfährt ihr dann aber:
„Scheißkerl, sieh zu, wo du bleibst!“
Sie springt aus dem Bett, steckt den
Haustürschlüssel von innen auf und verschließt die Schlafstubentür.
„Wach auf, Friederike, wir sind da.“
Das Auto steht vor dem Haus der
attraktiven, ledigen Schneiderin Marga Schütt. Marga empfängt die kleine
Gesellschaft an der Haustür im Morgenrock. Ein Blick über die Dorfstraße. Hat
doch hoffentlich niemand gesehen, was hier passiert.
Es war alles gut vorbereitet in ihrem
kleinen „Atelier“. Zu den Männern
gewandt sagt Marga:
„Ihr setzt euch aufs Sofa und Friedel
und Charlotte, ihr kommt mit rüber in die Nähstube. Dauert nicht lange. Wenn
ich die Maße habe, könnt ihr nach Hause, ausschlafen. Ich kann dann morgen
schon mit Thekla anfangen. Um 17 Uhr ist Anprobe.“
Friedel steht im Schlüpfer und BH auf
dem kleinen Schemel und wird nach allen Regeln der Kunst vermessen. Charlotte
fallen fast die Augen zu. Vom Sofa kommen Schnarch Geräusche.
„Die brauchen bloß zu sitzen und dann knacken
sie schon weg“, denkt Charlotte. Oh, Mama! Hier ist bestimmt wieder Empfang,
ich muss sie anrufen.“
„Mama?“
„Charlotte, was in Herr Gotts Namen
läuft hier ab? Du kommst sofort nach Hause!“
„Geht nicht Mama, wir sind hier bei
Marga..“
„Marga Schütt?“
„Ja“
Das passt ja wieder alles zusammen.
Marga hatte sich doch so rührend auf dem Schützenfest um Carli gekümmert, als
es ihm zwischenzeitlich hinterm Zelt so schlecht ging. Und ich dumme Kuh
glaubte noch an 1. Hilfe oder andere edle Motive.
„Charly, du kommst sofort nach Hause,
hörst du?!“
„Geht nicht, Mama, so lange
Friederike noch in Unterwäsche ist. Papa und Onkel Nobbi schlafen auf dem Sofa
und erst, wenn Marga mit Friedel fertig ist, versuche ich sie wach zu bekommen.
Marga hat schon gesagt, dass sie hier auch weiter schlafen dürfen, wenn wir sie nicht wach bekommen. Dann
kümmert sie sich um die beiden und Friederike ist dann auch wieder so nüchtern,
dass sie mich mit Nobbis Auto nach Hause bringen kann. Sie kann dann ja bei mir
schlafen.“
„Sieh zu, dass du Papa mitbringst und
das Flittchen kommt mir nicht auf den Hof. Ich rufe Alex an, damit sie Nobbi
aus diesem Sündenbabel herausholt. Kennt doch keine Scham, die
Schneiderschlampe!“
Giselchen hat sich richtig in Rage
geredet.
„Mama, Mama! Mama! Bist du noch
dran?“
Mama hatte aufgelegt. Was ist das
alles schräg?! Friederike war wieder
angezogen.
„Papa, Onkel Nobbi, aufwachen! Wir
wollen los!“
Nobbi ließ Charlotte und Carli vor
deren Haustür aussteigen, um dann noch Friederike auf seinem Weg nach Hause
abzusetzen.
Die Haustür ließ sich weder mit
Charlottes noch mit Carlis Schlüssel öffnen. Es steckte ein Schlüssel von Innen
im Schloss. Carli klingelte Sturm. Jenseits der Tür kläffte Deutsch Langhaar Benno in freudiger Erwartung
der beiden heimgekehrten Familienmitglieder.
Papa Wüst probiert Steinchen gegen das Schlafzimmerfenster zu werfen und
ruft immer wieder nach seiner Frau. Derweil versucht Charlotte es noch einmal
mit dem Handy. Sie hört das Telefon im Haus durch die geschlossenen Fenster,
nur ihre Mutter scheint nichts zu hören.
„Ist doch wohl nichts passiert“?
fragt Carl seine Tochter.
„Nein. Ich glaube, dass sie auf uns
sauer ist.“
„Warum das denn? Sonst schläft sie
doch auch schon, wenn ich einmal später von einer Versammlung komme.“
„Ich glaube, das ist so, weil sie
denkt, dass Nobbi und besonders du etwas
mit Marga Schütt und Friederike am Laufen habt.“
„Ich glaub es nicht, die spinnt doch.
Ich geh´ in die Abkalbbox, die hab´ ich gestern frisch eingestreut. Vielleicht
kann ich noch ein wenig vor dem Melken wegdösen.“
„Warte“, ruft Charlotte ihm nach,
„ich komme mit.“
Während Carl Christian sich ins Stroh legte, schrieb
Tochter Charlotte noch eine SMS an ihre Mutter. Obwohl Gisela manchmal für
einige Tage nicht weiß, wo überhaupt ihr Handy liegt, könnte es vielleicht
klappen.
„Liebe Mama, was ist bloß los? Nichts
ist passiert. Alles nur, weil Friederike die Milchkönigin werden soll. Marga
näht ihr Kostüm. Ich war in Heinbockel, Tschuldigung wegen Lüge. Habe Papa und
Onkel Nobbi da getroffen. Schock. Dachte die holen mich. Bitte melde dich! Sind
im Stall.“
Sie haben wohl ein wenig geschlafen
und wurden durch die Unruhe der Kühe im Stall geweckt, die zu ihrer gewohnten
Zeit auf ihre Kraftfutter Ration und die Entleerung der übervollen Euter
warteten. So kam es, dass Charlotte in Mamas Melkkittel mit Disco Outfit
drunter zum ersten Mal ihrem Vater beim Melken half.
Kaum, dass das Melkkarussell
abgespritzt und alles für den nächsten Durchgang vorbereitet war, klingelte
Charlottes Handy.
„Hallo Mama.“
„Ja, wie soll ich die SMS von dir
verstehen? Hab´ ich mich völlig grundlos aufgeregt?“
Charlotte versuchte Licht ins Dunkel
zu bringen, soweit es durchs Telefon möglich war. Benno sprang plötzlich laut
kläffend um Carli und Charlotte herum.
„Das Haus ist offen“, kombiniert
Charlotte richtig.
„Ich mach denn mal Frühstück, ihr
könnt rein kommen“, hört sie Giselas versöhnliche Stimme, bevor das Gespräch
abbrach.
Und nun steht sie hier, die
Milchkönigin, in ihrem so wunderschön geschneiderten weißen Kleid und dem
zarten Goldkrönchen auf dem Kopf. Marga und Thekla zerfließen fast vor Stolz
als Friederike sich per Mikrofon vor allen Leuten in der Halle bei ihnen
bedankt.
„Ohne euch, Marga und Thekla, hätte
ich niemals dieses schöne Kleid und ich hätte nicht hier dabei sein können.“
Das wäre ohnehin beinahe schief
gegangen, weil Carl Christian Wüst bei all der Aufregung fast vergessen hatte, die Milchkönigin
offiziell anzumelden.
Beifall für die Näherin aber auch für
die bezaubernde Milchkönigin, in der viele der hier anwesenden erst Friederike
Herma Winter erkannten, nachdem sie mit Namen vorgestellt wurde.
„Wir kommen nun zum
Auswahlverfahren. Kann mal jemand
draußen Bescheid geben?“ Während Gaby
Melzer weiter spricht, strömen Musiker, Biertrinker und Bratwurstesser zurück
in die Halle. In einigen Fällen traf alles auf eine Person zu. So zum Beispiel
bei Henry Heinsohn. Seine Trommel hatte er umgehängt, die Trommelstäbe ragten
aus der Jackentasche, in der einen Hand hält er das Bierglas und in der anderen
die Würstchenpappe mit Wurst, Senf, Mayo und Ketchup. „Fürst Pückler“ nennt
Klausi Fretwurst diese Kombi und, wenn er „Pückler“? über seinen Tresen fragt,
weiß jeder in Kolbingen, was gemeint ist. Wenn dann wirklich einmal jemand
irritiert nachfragt, guckt Klausi hoch von seinen Würsten, um zu sehen, wen es
aus fernen Landen hierher an seine „Würstchenschmiede“ verschlagen hat.
Gaby Melzer bekommt einen Zettel von
Conny Rathje zugeschoben.
„Bitte kein Essen und keine Getränke
mit in die Halle nehmen!“
Conny Rathje dachte schon mit
Schrecken an die Spuren von Wurst, Mayo, Ketchup, Senf und Bier, um die er sich
würde kümmern müssen, wenn schon alle zu Hause sind. Morgen früh stehen hier
zwei Schulklassen bereit für den Sportunterricht. Besonders einer von den
Sportlehrern, Georg Schultebier, der einzige Lehrer an der ganzen Schule, mit
dem Conny Rathje sich nicht duzt, würde beim kleinsten Ketchup Fleck sofort
beim Schulträger anrufen und sich dagegen verwahren, dass die
„Schulsportstätte“ als öffentlicher Partyraum missbraucht worden sei.
„Ja, ja“, denkt Conny, „die gehen
alle nach Hause und für mich geht die Arbeit dann erst richtig los.“ Obwohl er
den Reinigungskräften immer einiges abverlangte und er einige von ihnen in der
Halle entdeckt hat, mochte er nicht so weit gehen, sie nach der Veranstaltung
zur Reinigung der Halle aufzufordern.
„Vielleicht“, denkt er, „kommt Karin
Sethmann ja nachher und hilft mir. Die ist ja ´ne ganz Gutmütige.“
„Also“, erklingt Melzers Stimme,
„jede und jeder hier im Saal darf ein Kreuz seiner Wahl auf dem Stimmzettel
machen. Die Zählkommission wird dann die Stimmenzahl pro Majestät ermitteln Aus
der Stimmenzahl ergibt sich eine Rangfolge von 1-17. Der Rang ergibt die
Punktzahl, mit der die Majestät in das Urteil der Jury einfließt. Mehr als ein
Kreuz auf dem Stimmzettel machen den Zettel ungültig. Also, ganz wichtig, ein
Kreuz pro Zettel!“
Inzwischen sind auch alle Stehplätze
beiderseits der Jury besetzt. Die Freunde der Weißkohlkönigin haben im Laufe
des Abends, nachdem sie gesehen hatten mit wie viel Stimmen die Moorer
aufwarten können, eine beispiellose
Telefonkampagne gestartet. Tönjes Geerdts aus Hörne, der Opa der Geerdts
Zwillinge, wurde sogar mit dem Rollstuhl
in die Halle gefahren und durfte direkt neben der Jury stehen. Die Handyaktion
hat mindestens 60 zusätzliche Stimmen
gebracht – natürlich für Kohl Hiesels Tochter. So hofften jedenfalls die
cleveren Wahlhelferinnen und Wahlhelfer der Landjugend.
Die Bäcker haben das dann auch
versucht, haben die telefonische Wählermobilisierung aber bald aufgegeben
„wegen zu schlechter Vernetzung“ wie Teamchef
Hinnerk Holtkamp gefrustet feststellen musste. Die Bäcker haben einfach
zu wenige Nummern auf ihren Handys. Hinnerk hatte schon aufgegeben an eine
Stutenkönigin in Berlin auf der Grünen Woche zu glauben.
„Das
war´s dann wohl, Natascha, nach
Berlin kommst du nicht. Aber wenn du nach Kiew zurückkehrst, kannst du überall
erzählen, dass du die Stutenkönigin von Kolbingen geworden bist“, sagt er leise
und deutlich enttäuscht vor sich her.
Gut, dass Anja die Schulassistentin
der Oberschule, in der Halle war. Sie konnte schnell noch 300 Stimmzettel
nachdrucken, als sich abzeichnete, dass selbst die in sehr hoher Auflage
gedruckten Zettel nicht ausreichen würden. Die Verteilung und das Einsammeln
der Publikumsstimmen verlaufen reibungslos. Die Jury behält alles im Blick, es
scheint keinen Schmu zu geben. In der Jury hatte man sich geeinigt, das
Gesamtergebnis des Publikums wie die Bewertung eines Jurymitgliedes in die Auswahl einfließen zu
lassen. Immerhin, das Publikum hat damit ein Mitbestimmungsrecht von 25%. Wenn
das keine Basisdemokratie ist! Die Mitglieder der Jury vergaben nach ihrem Reglement
bis zu 17 Punkte pro Majestät. Die Punktzahl richtet sich hier nach dem Rang.
Setzt Gaby Melzer zum Beispiel die Milchkönigin auf Rang 1 bekommt sie 17
Punkte. Die Bienenkönigin, die von ihr auf
Rang 17 gesetzt wird, erhält nur einen Punkt. Falls ein Jurymitglied nicht alle Ränge
festlegt, verfallen Punkte. Die maximale Punktzahl, die eine Majestät erreichen
kann, ist 4 X 17 = 68. Die niedrigste
Punktzahl kann theoretisch nur 4 Punkte betragen. Dann nämlich, wenn zum
Beispiel die Stutenkönigin oder die
Bienenkönigin sowohl vom Publikum als auch von den drei Jurymitgliedern auf
Rang 17 gesetzt werden.
„Ist doch eigentlich ganz leicht zu
verstehen, oder Herr Ehlers?“
Der Vorsitzende hatte es nicht
verstanden und Gaby Melzer brauchte einig Minuten, um ihm ihr „leichtes“ System
noch einmal zu erklären.
Die Auszählung der über 900
Publikumsstimmen stellte sich trotz der 20 Wahlhelfer in den hellblauen
T-Shirts als erheblich umständlicher und langwieriger heraus, als von Gaby
Melzer vorhergesehen. Der Moorer Spielmannszug zeigt schon leichte Auflösungserscheinungen.
Und das nicht nur, was die Kleidung betrifft. Werner Breckwoldt liegt auf
seiner großen Kesselpauke und schläft. Einige Instrumente stehen oder liegen
inzwischen herrenlos vor den restlichen, noch einsatzbereiten Musikanten. Ihre
Besitzerinnen und Besitzer bekämpfen längst schon wieder Durst und Hunger vor
der Halle. Klausis Würstchenschmiede musste schon zwei Mal eine Pause einlegen,
weil der Nachschub nicht so recht rollen wollte. Auch Heller Herwein hat
inzwischen schon eine Nachlieferung bekommen. Es lohnt sich heute. Das vierte
Fass hängt an der Anlage und noch ist der Abend lange nicht zu Ende.
Nur noch knapp die Hälfte der Moorer
Spielleute sind im Einsatz. Dennoch sind sie gut zu hören. Obwohl sie über ein
gutes Repertoire verfügen, ist jedes 2. Lied das Anneliese Lied. Das hat den
Fan Club der Hannoveraner Königin, überwiegend Pferdezüchter aus der Marsch,
derartig auf die Palme gebracht, dass Paul von Thun, immer gut für einen Spaß,
vier seiner Freunde angestiftet hat, einen halben Liter Bier zu opfern. Zu
fünft gingen sie mit den gefüllten Gläsern zur Musik. Als dann wieder „Anne,
Anne, Anneliese, …“ erklang, hörte man Pauls kräftige Stimme:
„Eins, zwei, drei, jetzt!“
Alle zugleich kippten dem armen
Schorsch Beckmann aus Klinkerdeich ihr Bier in den großen Trichter seiner Tuba.
Das war nicht nett.
Das Gerät, gerade erst von der
Kreissparkasse gestiftet, sündhaft teuer und noch nicht ganz eingespielt,
verstummt schlagartig. Das Anneliese Lied verstummt auch, zuletzt schweigen
zwei kleine Querflöten, gespielt von Schülerinnen der Oberschule. Dieter
Schmarje mit dem Schellenbaum schnappt sich Paul von Thun am Kragen.
Hätten Gaby Melzer und der Bürgermeister
nicht sofort eingegriffen, es hätte eine Prügelei gegeben, wie sie früher, also
ganz früher, gleich nach dem Krieg, zwischen Moorern und Marschbewohnern auf
jedem Schützenfest üblich waren. Die Moorer ließen sich erst beruhigen, nachdem
von Thun und seine Freunde sich über Mikro entschuldigt und bereit erklärt hatten für eventuelle Schäden
am Musikinstrument aufkommen zu wollen. Kurze Zeit später standen die Spaßvögel
wieder mit gefüllten Gläsern am
Bierwagen. Mit ihnen zusammen zahlreiche Moorer, die zu Recht vermutet hatten,
dass hier manch ein kostenloses Versöhnungsbier fließen könnte.
Helle Herwein war es egal, wer ihm
sein Bier bezahlte.
Auch Heino Buhrfeindt hat später dann
nicht mehr musiziert. Seine Trompete wollte nicht mehr. Nicht so schlimm,
konnte er doch nun ohne Unterbrechung am Bierwagen stehen. Viel später erst,
vor dem nächsten Übungsabend, fand er die Ursache für das hartnäckige Schweigen
seines Instrumentes heraus: Irgendein Spaßvogel hatte das Mundstück von der
Trompete abgezogen, ein Stück Krakauer Wurst hineingestopft und dann, als wäre
nichts geschehen, das Mundstück wieder aufgesetzt.
Wer immer das war, auch das war nicht
nett!
22 Uhr, Gaby Melzer verkündet das
vorläufige amtliche Endergebnis der Publikumsbefragung. Vorläufig, weil man
sicherheitshalber noch eine Kontrollzählung vornehmen wollte. Die Halle füllt
sich wieder.
Paula Heinsohn hat nicht verstanden,
was da durch den Lautsprecher kam. Gefreut hat sie sich aber. Eben war sie noch
Zwölfte in der Wurstschlange und plötzlich, ohne, dass sie auch nur einen vor
sich darum gebeten hat, was sie an Kloschlangen
schon manchmal tut, haben ihr alle den Vortritt gelassen. So kam sie
dann noch zeitig genug in die Halle zurück. Nix verpasst und noch ´ne Wurst in der Hand!
„Wir kommen zur
Publikumsbewertung. Ein Punkt geht an
die Wachtelkönigin.“ Braver Applaus.
„2 Punkte für die Radler Königin
Hildegard Radlusz“, fährt Gaby Melzer
zügig fort, kaum den mäßigen Beifall abwartend.
„3 Punkte für die Bahnkönigin der Friedeberger
Leichtathletinnen und 4 Punkte an die Bienenkönigin.“ Aus der kleinen Fan Ecke ertönt das Lied von der Biene Maja.
„Und nun, wie ich finde, die
Überraschung: Gerlinde Coolwater holt 5 Punkte für die Kneippgruppe. 6 Punkte
für die Anti-königin Melanie Pickenpack.“
Völlig deplatziert ertönt ein
langgezogener Pfiff von der Tribüne.
„Und das wird unsere Kartoffelfreunde
vom Eesch freuen: 7 Punkte für die Kartoffelkönigin Sarah Bauknecht! Natascha
Mircowa, die Stutenkönigin, wird ganz knapp geschlagen von der Pudelkönigin
Cindy Roth! 9 Punkte für die Pudelkönigin.“
„Gut Holz! Gut Holz! Gut Holz!“ tönt
es aus ungefähr 40 Kegler Hälsen von der Tribüne.
„Und nun 10 Punkte an unsere
Hannoveraner Königin Hella Rossmann!“
Hella wippt mit dem Kopf auf und ab
und bedankt sich mit einem temperamentvollen Hufgeklapper auf dem
Hallenparkett. Ihre Freunde vom Züchterverband lassen Hella allein mit ihrem
Achtungserfolg. Immerhin steht sie auf Platz 6 von 17! Paul von Thun, Heini Holthusen,
Krischan Eggerkamp und viele andere Hannoveraner Züchter hätten jetzt
Gelegenheit auf Hella Rossmanns Erfolg zu trinken. Weil diese gute Nachricht
durch die fröhlichen Zecher rund um Helle Herweins Bierwagen sie nicht
erreicht, müssen sie weiterhin Runde um
Runde auf die Versöhnung mit den Moorern trinken. Die Moorer langen kräftig zu. Die Biere
werden getrunken, wie sie kommen. Und, was besondere Freude macht, sie kommen
umsonst!
Vor Paul von Thun muss kein Moorer
Musikant Angst haben. Er sitzt auf einem leeren Bierfass, stützt sich an der
Ecke vom Holstenkarren ab und bekommt
das Bierglas kaum noch an die Lippen. Er kann froh sein, wenn er das Bier in
seinen Mund bekommt. Die große Öffnung der Tuba in zwei Meter Höhe zu treffen,
stellt in seinem jetzigen Zustand eine unlösbare Aufgabe dar.
Gejohle und Gekreische dringt von der
Hallentür auf den Platz.
„Was ist los da drinnen?“ schreit
Helle über die Köpfe der Zecher vor seinem Wagen.
„Nüttingkien hat´n Preis bekommen“,
antwortet ein nicht mehr ganz standfester Anhänger der Biene Maja, der soeben
aus der Halle kommt, um für seine Freunde ein Tablett voll von dem kleinen
roten „Nektar“ zu holen. Inzwischen freut man sich im Imkerkreis schon mehr auf
die Nektar Runden als über den 10. Platz der Königin Helga Sumfleth.
Helga sitzt etwas abseits auf der
Tribüne. Es gefällt ihr überhaupt nicht, dass ihr Freund Kevin zu dem Kreis
derer zählt, die ein ums andere Glas auf das Wohl ihrer Bienenkönigin
runterkippen. Er wollte sie doch noch nach Hause fahren. Melvin Cordt kann auch schon lange nicht mehr
fahren. Die Biene-Maja-Haube verrutscht. So, wie Helga Sumfleth im Moment
aussieht, hätte es wohl kaum zum 10. Platz gereicht.
Natürlich hat die „Nüttingkien“
keinen Preis bekommen. Gaby Melzer hatte nur gerade verkündet, dass die
„Knitting Queen“ mit ihrer Stricknadelkrone 11 Punkte eingefahren hat. Damit
hatte der Strickzirkel nun wirklich nicht gerechnet. Ein 7. Platz! Queens Mom,
Liesel Strucks Mutter wird von Lotte Hansen in die Arme genommen und kräftig
gedrückt – so kräftig, dass ihr fast die Luft weg blieb und der oberste
Blusenknopf wegplatzte.
„Knitting Queen! Knitting Queen!
Knitting Queen!“ skandierten die Knüttertanten um Sabena Fokken-Pätzel tanzend
und hüpfend auf der Tribüne.
Selbst Konstanze von der Decken riss es von ihrem
Tribünensitz und sie fiel mit ein in den rhythmischen, vom Händeklatschen
begleiteten Chor der Knüttelfrauen.
Anglizismen in der deutschen Sprache waren im Freudenrausch absolut
zweitrangig.
Freya von der Decken vom Insel Gut
Krautsand, Konstanzes etwas
unkonventionelle Cousine , glaubte ihren Augen nicht zu trauen.
Platz 6 ging überraschend an die
Fährkönigin.
„Hey, hey mister ferryman, ..“
Ihre relativ kleine Fangemeinde
bestehend aus 12 breitschultrigen Fährmännern in den Jacken des Fährbetriebes
stimmten ihren Firmen Song an, den sie von Harry Bellafonte ausgeliehen haben.
„13 Punkte für unsere bezaubernde ….
Milchkönigin Friederike Herma Winter!“
Diese kleine, spannungssteigernde
Pause hat die Melzer sich im Fernsehen abgeguckt. Das kommt echt ganz gut,
selbst Helge Ehlers kann ihr eine gewisse Anerkennung nicht verweigern, obwohl
ihm eigentlich das gewandte Auftreten seiner Geschäftsführerin immer ein wenig
suspekt ist.
Paula Heinsohn tickt Fine Riecken in
deren weiche Seite, bis sie endlich merkt, dass Paula etwas von ihr will.
„Wat willst du, Paula?“
„Fine, nu hört sick doch allens op.
Nu is de Winter de Milchkeunigin?! Is dat nich diene Annelies? De heb ick doch
wählt un nich de Winter. Wenn dat man keen Schmu is. Ick ha bi lütten dat ganze
Keunigin Spektokel bannich ünner Wind!“
„Annelies is de Moor Keunigin un de
hebt se noch gor nich opröpt. De het dat wohl op een von´e veer ersten Plätz schafft, wenn ick dat
richtich verstoh.“
„Un ick dacht schon dat de Wintersche
uus Annelies von Trohn stött hett. Denn ha wi von´t Moor oober Rewoluschion
mookt. Kannst oober een op nehm!“
Die Ausgangslage für Friederike ist
nicht schlecht. Die vereinigten MMB (Marsch- oder Moor Milch Betriebe) sind
sehr zufrieden. Carl Christian Wüst drückt seine Gisela und Marga nimmt ihre
Nähfreundin Thekla etwas länger in den Arm, als es unter Kolleginnen üblich
ist.
„Haben die ´was miteinander?“ fragt
sich Charlotte Wüst, als sie mitbekam wie Thekla Marga mitten auf den Mund
küsste. Onkel Nobbi nervt mit einer Kuhglocke, die er von einer Bildungsreise
des Bauernverbandes aus dem Allgäu mitgebracht hat.
„Auf Platz 4 finden wiiir die
Kööööniigin mit dem Vogel in der Krone – die Zaunkönigin Samantha …!“
Gaby Melzers Stimme ging unter im
Beifall für Samantha Meyer. Witti wirft einen Kontrollblick auf Hansi
Hampe. Der sitzt aber gar nicht mehr neben ihr. Stattdessen hat sich Hinnerk
Holtkamp, der Bäcker, neben sie gesetzt. Hampe hat sich unbemerkt zu seinen
Schützenbrüdern am anderen Ende der Halle begeben. Von hier konnte er Samantha
ungestört seine Sympathie durch
Klatschen und etwas unpassende „Bravo“ Rufe entgegenbringen. Nachdem sich der
Lärm etwas gelegt hat, huschte Hansi zur Hallentür raus an Klausis mobile
Würstchenschmiede. Mit zwei Krakauern auf der Pappe hastet er zurück zu seiner
Witti. „Bin doch ganz schön schlau, wie ich das hingekriegt habe“, denkt Hansi
während er zu Witti hochklettert.
„Moin Hinnerk, Witti ich habe uns
zwei Würstchen geholt. Für dich ist die mit nur Senf.“
„Hast du gefragt, ob die Wurst vom
Rind ist? Hansi, du weißt doch, ich darf kein Schwein.“
„Oh, hab´ ich vergessen. Hinnerk,
willst du die Wurst? Ich lad´ dich ein.“
Hinnerk Holtkamp isst alles, was
nichts kostet.
„Gib mal rüber“, brummt er in einem
Tonfall, als würde er Hansi Hampe einen Riesengefallen tun. Bei so viel
Selbstaufopferung vergisst er sogar, sich für die Gratiswurst zu bedanken.
Hansi beißt in seine Wurst. Ein Fettspritzer schießt aus der platzenden
Krakauer und landet auf Wittis Jacke.
„Kannst du nicht aufpassen“, fährt
Roswitha Hampe ihren Mann an während Gaby Melzer den Platz 3 für Kohl Hiesels
Tochter Viola ausruft.
Viola Hiesel belegt mit 15 Punkten
den 3. Platz. Da kann man wieder einmal sehen, dass heute fast nichts ohne
Handy und Facebook geht! Jonny Kreiboom
von der Nordkolbinger SPD will sich das unbedingt für die nächste
Kommunalwahl merken. In seiner kleinen Kladde notiert er: „Wählermobilisierung
per Handy und Facebook!!!“
Die Landjugend tanzt mit Viola Hiesel
um die Jury. Einige noch nicht einmal 16 Jahre; aber sie lassen trotzdem schon
ein Bier mit sich um die Jury tanzen. So genau guckt zu dieser Zeit niemand
mehr. Nachdem Annegret Hölscher unter Protest die Veranstaltung verlassen hatte
war auch die letzte Moralinstanz verschwunden. Einige Schulkinder aus dem
Moorer Spielmannszug tranken eine Cola nach der anderen. Niemand kümmerte sich
darum, ob ihre Ausgelassenheit nur pubertätsbedingt war oder ob die Cola
gepanscht war.
„Fine, Fine, keen is denn noch öber.
Is se nu Keunigin worn?“ Paula Heinsohn
hat schon länger den Überblick verloren.
„Nee, Paula, wenn ick dat richtich
sehen dei, dann is dor nur noch de Keunigin der Nacht ut´n Puff in Kolbingerhooben.
Dat hängt nu allens von´e Treue von uuse Mannsbiller af, ob mien Anneliese, op
Platz 1 kummt.“
„Fine, hest du Puff secht? Denn
stimmt also doch, wat Klärchen vertellt. Wenn de Puffmarie, de jümmer so
affektiert schnacken dei, wenn de as Keunigin .. Nee, du, wenn de op´n ersten
Platz kummt, denn organiseer ick´n Demo in Kolbingerhooben. Mahnwache as solche
direkt vör de Ingangsdöör von düssen Nachtclub. Und wenn dann keen een sick
mehr in denn Club rinwoogt, denn hett dat ook bald ´n End
mit denn Puff. Dann künnt se denn Schlödel för immer und alle Tiden ümdreihen.“
„Auf Platz 2 mit 16 Punkten ist
Mademoiselle Natal…“
Weiter war Gaby Melzer nicht zu
hören. Die Halle tobte. Selbst die, die sich schon seit einiger Zeit selbst
ausgelagert hatten, kehrten von Bier- und Wurstwagen zurück in die Halle.
Zurück blieben nur Paul von Thun, der nicht vom Bierfass hoch kam so wie Helle
Herwein und Klausi Fretwurst, die ihre Wagen und die Abendeinnahmen bewachen
mussten.
Später stritt man wieder heftig am
Bierwagen, ob der überwältigende Beifall Mademoiselle Natalie auf Platz 2 galt
oder ob es die Moorer waren, die nun wussten, dass ihre Anneliese Platz 1 in
der Publikumsgunst belegt hatten. Mademoiselle Natalie sonnte sich in dem
gigantischen Zuspruch. Später soll sie ihren „Freundinnen“ im Club anvertraut
haben, dass sie nicht einmal damals, als sie noch im Moulin Rouge in Paris
getanzt hatte, jemals so viel Beifall erhalten hätte. Etwas unvoreingenommene
Beobachter hätten ihr gesagt:
„Ist ja auch klar! Wann sind denn
schon mal so viele Moorer in Paris und dann auch noch im Moulin Rouge gewesen?“
Nein, für die Moorer war es eine
klare Sache. Dieser Aufruhr galt nicht der Mademoiselle. Hier wurde bereits
Anneliese, die Moorkönigin gefeiert, bevor ihr Sieg offiziell verkündet worden
ist. Als es dann soweit war, brachten die letzten spielfähigen Musikanten der
Moorer noch mehrmals das Anneliese Lied – ohne die Tuba und die an Verstopfung
leidende Trompete von Heino Buhrfeindt. Dafür sang jetzt fast die ganze Halle
das Anneliese Lied und Gaby Melzer brauchte zahllose Anläufe, um den
Publikumswahlgang zu Ende führen zu können.
Anneliese, die Moorkönigin, hing
ihrer Mutter um den Hals und rief immer nur: „Das ist der schönste Tag in
meinem Leben!“ Fine Riecken fand den Tag auch schön. Wann haben die Rieckens in
der Moorgeschichte jemals eine so große Rolle gespielt? Wenn Opa das noch
erlebt hätte.
Papa Riecken fand den Tag
wahrscheinlich nicht mehr so schön. Einige seiner Moorer Nachbarn hatten ihn
nach draußen vor Helles Bierwagen gezerrt. Nun war er dran. Nur Schützenkönig
bei „Jägerrast“ hätte ihm teurer werden können. Da schoss er ja schon immer mit
Absicht neben die Königscheibe. Man weiß ja, was in so einem Königsjahr durch
die Moorer Kehlen geht.
Peter Hintelmann war vor fünf Jahren
Schützenkönig geworden und der zahlt heute noch seinem Kredit bei der Volksbank
Kolbingen ab.
„Helle, machst noch mal ´ne Runde
Helle für alle?!“ Jan Rieckens Stimme
überschlug sich ein klein wenig, als er aus dem Augenwinkel überschlug wie
schnell die Schar seiner Freunde angewachsen war. Seinen ungewollten Wortwitz
hat er vor lauter Aufregung nicht wahrgenommen.
Paul von Thun wacht auf, sieht sich
umgeben von lauter Moorern und wähnte sich für einen Moment auf deren
Schützenfest.
„Wer ist Schützenkönig geworden?“
„Anneliese, Paul, Anneliese Riecken,
Jan sien Dochter. De is dat worn. Hier Paul, nimm hin, kummt von Jan“, sagt
Rudi Röndigs zu Paul und reicht ihm eines der Siegerbiere.
23 Uhr, Helge Ehlers schaut schon in
immer kürzeren Intervallen auf seine Uhr. Gaby Melzer verkündet über das
Funkmikro, dass nun die drei Jurymitglieder ihre Stimme abgeben würden. Schon
nach zwei Minuten sammelte die Wahlkommission die drei Zettel ein. Nach
weiteren 5 Minuten stand das vorläufige, amtliche Endergebnis fest. Gaby Melzer
wünscht sich einen Trommelwirbel. Die einzige Trommel weit und breit war die
Kesselpauke von Werner Breckwoldt. Werner hatte die ersten sechs Gläser Bier
auf leeren Magen getrunken und schlief nun schon seit 90 Minuten auf seinem
Instrument. Seine Frau winkte nach einem zaghaften Versuch, ihn zu wecken, ab.
Auf Werner Breckwoldt war nicht zu zählen – zumindest jetzt nicht. Also
verkündet sie das Ergebnis ohne Trommelwirbel.
„Ich denke, dass es euch Recht ist,
wenn wir nur die ersten vier Majestäten verlesen.“
Bevor jemand einen Einwand haben
konnte sprach sie weiter.
„Einen wunderbaren 4. Platz mit 29
Punkten belegt die …..(Pause) …. Zaunkönigin Samantha Meyer aus Eriksheil!
Applaus für Samantha!“
In diesem Moment freuten sich noch
alle. Samantha über den 4. Platz und alle anderen hofften heimlich noch auf
Platz 1. Das konnten auch alle außer Kohl Hiesels Tochter, die soeben aus dem
Lautsprecher hören musste, dass sie mit 37 Punkten auf den 3. Platz gewählt
wurde. Tränen der Entspannung rannen über Violas Wangen. Vater Hiesel nahm
seine Viola in den Arm, kraulte ihren Nacken und flüsterte ihr ein ums andere
Mal ins Ohr: „Ist doch schön, 3. Platz, und du bist doch auf jeden Fall unsere
Weißkohlkönigin.“
„Uuuund nuuun auf dem 2. Platz, mit
39 Punkten, unsere beliebte und geliebte Fährkönigin Alex Blunk!“
Anhaltender Beifall. Paula Heinsohn
kann nicht ruhig sitzen. Sie müsste eigentlich schon seit einer halben Stunde
auf den „Paddermang“[2].
„Fine, lang hol ick dat nich mehr ut.
Oober, wenn ick nu no Tante Meier[3]
goa, dann röpt se jüst in denn Momang, wenn ick dor sitten dei, uuse Anneliese
as Keunigin von´t Moor un ganz Kolbingen ut.“
„Ick bün ook all ganz fickerig. Kiek
mool, de Melzersche mookt sick all ferdich“, antwortet Fine Riecken.
Da kommt Enno, Annelieses Freund gerade
Recht. Fine hält ihn am Handgelenk und Enno gehen mehrere Erlebnisse durch den
Kopf, für die er in Windeseile eine Entschuldigung braucht. Die Sache mit dem
Kondom zum Beispiel, den Frau Riecken in Annelieses Zimmer gefunden hat. Enno
sorgte sich schon zu Recht. Annelieses Mutter hatte ihre Tochter natürlich
gefragt, was das Ding in ihrem Zimmer zu suchen hat. Anneliese soll geantwortet
haben: „Ich weiß es nicht, Mama, ich brauche so ein Teil nicht.“
Fine wollte nicht die gute Stimmung
vor der Königinwahl aufs Spiel setzen. Sie hat Paula erzählt, was vorgefallen
ist und wie unbefriedigend Anneliese geantwortet hat. Paula sinniert ein wenig
über die Worte der Moorkönigin und dann hat sie die passenden Worte:
„Schaa, Fine, wo se Recht hett, hett
se Recht. Du hest doch ook nie soon Gummi brukt, wer doch jümmer Jan, oder ha
ick dor all weller wat in Tüddel kregen?“
„Du, Enno, machst mal eben nach
draußen laufen und Jan und die Anderen holen, uuse Anneliese ward in Kürze de
tweete Kolbinger Majestät.“
Das ist ja noch echt gut abgegangen.
Wenn es das nur ist.
Der Rumpfspielmannszug spielt das
Anneliese Lied, das allerdings in weiten Teilen nichts mehr mit dem Original
gemein hat. Macht nichts, schön ist es doch. Fine und Paula schunkeln.
„Nich so dull, Fine, mi steiht de
Supp all bis an´t böbberste End!“
Mit den letzten Klängen der neuen
Moorer Hymne sind auch alle Moorer wieder in der Halle. Gaby Melzer ist mit
ihrem Mikrofon auf einen der Sprungkästen geklettert.
„Ladies and Gentlemen“, Konstanze von
der Decken fragt sich laut ob man das nicht auf Deutsch sagen könne, und als
hätte Gaby Melzer diesen nicht hörbaren Vorwurf vernommen, fährt sie fort:
„Meine Damen und Herren sehr geehrte Majestäten nun wird das große Geheimnis
gelüftet. Unsere zweite Majestät für Berlin heißt …“
Das Anneliese Lied erklingt erneut.
Selbst einige Moorer können es inzwischen nicht mehr hören. Helle Ehlers greift
zu einem Mikrofon und fordert die Musikanten auf, die Proklamation nicht zu
stören. Die Musik verstummt. Inzwischen
ist der Spielmannszug fast komplett. Die Trompete mit der Krakauer im Mundstück
kann immer noch nicht mitmachen und auch die Tuba ist verpackt. Viel zu
wertvoll! Aber Werner Breckwoldt ist plötzlich wieder wach. Eine echte
akustische Bereicherung zur fortgeschrittenen
Stunde. Gaby Melzer setzt erneut an:
Liebe Kolbingerinnen, liebe Kolbinger,
mit 49 Punkten heißt die neue, die zweite Kolbinger Königin…“
„Paula! --- De Bank is jo ganz natt!“
Fine steht auf der Tribüne und wischt
mit einem Tempo über ihre rechte Hand. Alle Blicke gehen auf Paula Heinsohn und
ihre Nachbarin Fine Riecken. Einige aus dem Publikum sind etwas irritiert. Sie
hatten nur Paula gehört. Aber die Paula, zu der alle hinblickten, war überhaupt
nicht im Wettbewerb. Gaby Melzer musste erneut ansetzen.
„Wo war ich, ach ja, mit 49 Punkten
ist die zweite Kolbinger Majestät (Pause) Friederike Herma Winter, die
Milchkönigin!“
Zwei Sekunden herrscht absolute
Stille. Dann klatscht jemand im dritten Drittel der Halle, es fallen noch
einige andere ein. Gemurmel brandet auf zu lautem Stimmengewirr. Schiebung Rufe!
Aber auch Beifall. Was ist mit Anneliese? Carl Christian Wüst freut sich. Er
steigt die Tribüne herunter, greift zum Mikro und ruft in die Halle: „Alle
Marsch- und Moor Milchbetriebe (MMM) Nordkolbingens
laden zu Freibier an Helle Herweins Wagen ein!“
Gerhard Langholz, Lehrer in
Drochtersen und wohnhaft in Aantenwördenermoor ergreift das Mikrofon. Das ist
seine Welt. Ganz, ganz früher soll er schon einmal mit Rudi Dutschke in Berlin
zusammengetroffen sein.[4]
„Liebe Mitbürgerinnen, liebe
Mitbürger, ich habe das Gefühl, dass es hier nach einer Riesenmanipulation
stinkt. Ich habe, und liebe Freundinnen und Freunde, ich glaube in eurem Sinne
zu sprechen, den Eindruck, dass die Milchkönigin schon als Siegerin fest stand,
als noch gar nicht gewählt worden war. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass von
Friederike Winter am letzten Melde Tag um 22 Uhr noch keine Anmeldung vorlag. Merkwürdig auch, dass Gaby Melzer jeden Tag
eine Kanne Milch vom Wüst Hof holt. Frau Melzer, bezahlen Sie für die Milch
oder ist vielleicht der Königintitel des Fräulein Winter die Bezahlung? Haben
Sie denn nicht gemerkt, dass es Volkes Wille ist, dass eine Majestät aus dem
Moor nach Berlin fährt, dass die Moorkönigin
Anneliese Rieken ihren Platz auf der Grünen Woche hat und sonst keine! (Beifall,
Sympathiegetrampel auf der Tribüne) Liebe Leute merkt ihrs denn?? Die Macht
liegt beim Geld, die wohlhabenden Bauern und Bonzen bestimmen über das Ticket
in die Bundeshauptstadt. Das sollten, das werden wir nicht hinnehmen, liebe
Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir wollen, dass unsere Königin vom Volk direkt
gewählt wird. Jegliche andere Form der Monarchie wird von uns strikt abgelehnt.
Ich wende mich in aller Schärfe an den Tourismusverein Nordkolbingen nicht mit
der Bitte, nein, mit der Forderung: Hebt diese Unrechtswahl auf oder der
soziale, politische, ökonomische und auch noch ökologische Friede ist dahin.
Ich sehe schon aufgebrachte Gruppen redlicher Bürgerinnen und Bürger, die unter
dem Druck des erlittenen Unrechts zu den Mistgabeln greifen wie einst unsere
heroischen Vorfahren in den Bauerkriegen…“
„Aufhören!!, Aufhören!“
„Wann ich aufhöre bestimme immer noch
ich! Wir leben hier in einem Land, das zumindest auf dem Papier Rede- und
Meinungsfreiheit garantiert! Und solange wir das noch nicht abgeschafft haben,
bestehe ich auf Beachtung dieser Grundrechte!“
Das hörte sich eben aber nicht gerade
nach einem Verfassungsfreund an. Langholz, Langholz, du spielst mit deiner
Pension!
Bierglas flog in die Richtung des
Redners.
Conny Rathje will nicht mehr für die
Sicherheit der Jury garantieren. Immer mehr Moorer drängen zum Richtertisch.
Die Worte werden heftiger, verletzend, beleidigend. Drohungen werden
ausgesprochen. Conny Rathje flüstert mit Detje, Ehlers und Melzer. Sie
ergreifen ihre Unterlagen und folgen Rathje, dem Hausmeister, durch die
Umkleidekabinen ins Freie. Draußen ist
es dunkel. Rathje empfiehlt den Weg quer über den Acker zur Landesbrücker
Straße zu nehmen. Eure Autos könnt ihr morgen abholen.
Keiner weiß mehr, wo und wie es
begann. Aber als Conny Rathje wieder in seine Halle zurückkam, erkannte er sie
nicht wieder. Weiter oben auf der Tribüne standen Frauen und Mädchen kreischten
hysterisch oder guckten fassungslos zu, wie all die Männer, die noch vor
wenigen Minuten friedlich gemeinsam am Bierwagen oder nebeneinander auf der
Tribüne standen, ein hin und herwabberndes Knäul bildeten. Bald schon war ein
Zustand erreicht, der niemanden mehr darauf achten ließ, wem er seine Fäuste
aufs Fell trommeln ließ.
Henner Hagenah hatte sich
einigermaßen unbeschadet aus dem prügelnden Pulk rausarbeiten können. Auf der
dritten Bankreihe trat er auf etwas Weiches, eine Frau schrie auf. Henner war
mit seinem Stiefel auf Paula Heinsohns Hand getreten. Sie saß da unbeweglich in
ihrem „Mallör“ und wartete geduldig darauf, dass Fine mit ihrem Mantel aus dem
Auto zurückkommt.
„Nu pass doch op, wo du hinpeddst, du
Dösbaddel“, schrie sie. Dann erkannte sie, wem sie den Schmerz in der Hand zu
verdanken hatte. Henner Hagenah hatte noch etwas gut bei ihr wegen der blöden
Geschichte mit den 4 Enten von Pupmeier, die sich eines Abends in Paula
Heinsohns Stall verirrt hatten. Da sollten sie Paulas Ansicht nach auch so
lange bleiben, bis sie bei Meiers in Vergessenheit geraten wären. Dann sollte
sich wohl noch ein Plätzchen in der Tiefkühltruhe finden lassen. Leider hat der
Postbote Tiedemann die Enten im Stall gesehen, als er eine Nachnahme bei den
Heinsohns loswerden wollte. Wenige Minuten später sah er fünf schlachtreifen
Enten bei Pupmeiers, als er dort die Post reinreichte. Es waren die Enten, die
den Weg über die Kreisstraße wieder zurück in ihren Stall gefunden hatten.
„Schöne Enten“, meinte Tiedemann,
„bei Paula im Stall sind auch vier schöne Enten. Müssten bald geschlachtet
werden.“
Die Meiersche war ja nicht blöd.
Paula hatte in diesem Jahr keine Enten und vier Enten fehlten ihr nun schon
seit zwei Tagen.
„Bi´n besten Willen, so veel kann de
Voß ook nich an een Dach wech holen“, hat sie abends vor dem Fernseher noch
ihrem schlafenden Oodsche[5]
erzählt. Seit Jahren erzählt sie ihm immer alles, wenn er zwischen „Heute“ und
„Tagesschau“ im Sessel schläft. Das Gute daran ist, dass er sie nicht mehr am
Reden hindert, wie früher. Wie oft hat er gesagt: „Hör op tau schnacken, dor
versteihst du nix von.“ So kann sie sich mal aussprechen, ihm auch mal so
richtig die Meinung sagen. Zum Beispiel wenn er wieder einmal mit den
Stallstiefeln in der Küche war. Das Schlechte an dieser Methode besteht
eindeutig darin, dass sie nie eine Antwort bekommt, wenn sie eine Frage stellt.
„Olaf Tiedemann, Sie sind mein Zeuge,
dass da wo vorher keine Enten waren plötzlich 4 Enten sind.“ Oodsche traute
sich nicht wegen der Enten bei Paula vorzusprechen. Und bei der Polizei
anrufen, traute er sich auch nicht. Als seine Frau ihn dann aufgeregt fragte,
ob er denn einfach so auf die vier Enten verzichten wolle, fiel ihm nur ein zu
sagen:
„So viel Fleisch soll ja gar nicht
gesund sein, sagen die ja immer in Fernsehen.“
Oodsches Frau musste selber handeln,
wie meistens in Krisensituationen. Mit vor Angst fast zugeschnürtem Hals wählte
sie die Nummer des Friedeberger Polizeipostens. Henner Hagenah hörte sich die
Geschichte an und versprach, sich um die Meierschen Enten, die zurzeit bei
Heinsohns in Pension standen, zu kümmern.
Paula wollte nichts von Enten wissen.
„Wi hebt all lang keen Anten mehr,
bringt nix!“ teilt sie mit Unschuldsmiene dem ermittelnden Polizisten mit.
Der kann es ja nun gar nicht gut
leiden, wenn man ihn verlädt. Für solche Fälle hat er immer ein paar
Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch parat, die es in dieser Form gar nicht
gibt.
„Frau Heinsohn, ich weise Sie darauf
hin, dass der Diebstahl von Federvieh und Federvieh ähnlichen Haustieren
strafbar ist und nach den Paragraphen 33a und 72 ff. mit Freiheitsentzug
bestraft wird. Sollte ein Dieb allerdings bei der Wiederbeschaffung des
verschwundenen Eigentums behilflich sein und das Objekt keine erkennbaren
Schäden aufweisen, kann das Verfahren auf der Stelle eingestellt werden.“
Diese Methode hat schon häufig zum Erfolg
geführt und zeigte auch bei Paula Heinsohn Wirkung.
„Ach so!“
„Wie soll ich das verstehen, Frau
Heinsohn, dieses ach so?“
„Tscha, ach so heißt so viel, wie:
Ich könnte vielleicht bei der, was haben Sie gesagt? Wiederbeschaffung? Also
dabei könnte ich behilflich sein.“
Dann haben die beiden eine Tasse Tee,
natürlich mit Moorbrunnenwasser aufgebrüht, getrunken, und gemeinsam überlegt,
wie die Rückführung der Enten organisiert werden könnte.
Erna Meier war schon ordentlich auf
Krawall gebürstet, als sie Paula Heinsohn und Polizeihauptwachtmeister
gemeinsam ihre vier Enten auf den Hof hüten sah. Noch bevor sie los legen
konnte, sprach der Polizist:
„Glück gehabt, Frau Meier. Seit zwei
Tagen sind die Enten immer mit Heinsohns Gänsen in den Stall marschiert. Wenn
die draußen geblieben wären, Sie wissen ja, der Fuchs kennt keinen Urlaub!“
Und dann Paula: „Oh Erna, ick wull
die all hüt Morn an Bäckerwogn froogen, ob du vielicht veer Anten vermissen
deist. Mi dücht dat all, dat dat dien sünd. No de erste Nacht ha ick dacht, de
find wohl den Wech alleen trüch. Oober
obends weern se weller in mien Stall. Nu is ja good, datt diene verlorne
Schoop, ha, ha, Anten natürlich, weller trüch sind.“
„Futtergeld hat Frau Heinsohn
abgelehnt für die zwei Tage“, schaltet Hagenah sich noch einmal ein.
„Nee“, meint Paula, „dat versteiht
sick doch von sülbst ünner goode Nobers. Irgendwann brukt wi jau ook noch mool.
Nee, nee, för dat Göld kannst Oodsche beter ´n Schachtel Zigaretten köpen.“
Auf dem Weg zurück zum Polizeiauto
auf dem Heinsohnschen Hof verabschiedete sich Henner Hagenah mit den Worten:
„Frau Heinsohn, ich hoffe, dass sich
die Meierschen Enten nie wieder in ihren Stall verirren. Machen Sie es gut.“ Er
tippte zum Abschied mit zwei Fingern an den Schirm seiner Uniformmütze und
verschwand in seinem grün weißen Golf.
Ja, daran musste Paula Heinsohn
denken, als sie den Polizisten als die Person ausmachte, die ihr gerade auf die
Hand getreten war.
„Entschuldigen Sie bitte Frau
Heinsohn, hat es wehgetan?“
Paula macht ein Gesicht, das
deutliche Anzeichen von Schmerz zeigt.
„Noch piert dat ganz orntlich, Se
künnt oober ook pedden as so´n ollen Ackergaul.“
„Wie kann ich das bloß wieder gut
machen, Frau Heinsohn?“
„Eerstmool, wüllt wi nicht bi lütten
mool Paula und du seggen? Henner? Geiht kloor? Und denn, meen ick, künnt wie
dat mit twee vun Pupmeiers Anten verregnen. Denn sind wie uns fast quitt. Twee
Anten hest du denn ´n anner Mool noch goht bi mi.“
„Okay, Paula, ich akzeptiere!“
Sie gaben sich die Hand und als
Henner schon im Gehen war, meldet sich Paula noch mal.
„Du Henner, musst du nich dat
Towubahou dor ünnen beennen? De haut sick doch bi lütten noch de Köpp blutich.“
„Eigentlich schon, Frau Heinsohn.“
„Paula schasst du doch seggen, Hennneer!“
„Ja, stimmt ja Paula. Aber ich hab
schon seit vier Stunden Feierabend, ich muss nun mal nach Hause.“
„Ach so.“
Carl Christian Wüst und sein Schwager Norbert Suhrbier stehen
sich plötzlich im Getümmel gegenüber und fast hätten sie aufeinander
eingedroschen.
„Nobbi, wo ist Friederike?“
„Die habe ich am Ende vom
Tribünengang unter einer Feuerdecke versteckt. Charlotte, Gisela und Alex
stehen davor und passen auf. Ich habe ihnen gesagt, dass sie einen Rettungswagen rufen sollen. Vielleicht
kriegen wir damit Ruhe in den Laden. Polizei braucht viel zu lange von Stade.“
Was für eine geniale Idee. Sowie das
Martinshorn vom Schulhof zu hören war und die blauen Blitze hatte die Prügelei ein Ende. Alle Köpfe
drehten sich zu den beiden Sanitätern, die mit der Klapptrage in die Halle
hasteten.
„Hierher, hierher“riefen Carli und
Nobbi und geleiteten die Sanitäter zu dem Knäul am Ende des Ganges. Abgeschirmt
von den Familien Wüst und Suhrbier knien sich die beiden Helfer runter zu
Friederike Winter, die nicht versteht, was die Sanis von ihr wollen.
Muss man immer alles verstehen?
„Packt sie einfach nur auf eure
Trage, bringt sie ins Auto und fahrt sie dann bitte mit Blaulicht und Musik nach Hause zu ihren Eltern. Nicht
fragen. Die Geschichtsschreibung wird einst eure Namen mit der Vermeidung eines
Blutbades von einem bisher hier in der Elbmarsch noch nicht gekannten Ausmaß
erwähnen.“
Das klang unheimlich überzeugend. So
überzeugend, dass Friederike auf die Trage verfrachtet und wie besprochen mit
dem Auto in Richtung Stade abtransportiert wurde. Der soeben eingetroffene
Notarzt, sprang sofort wieder in sein Auto und verfolgte den Rettungswagen
ebenfalls mit Sirene und Blaulicht.
Nobbi und Carl Christian streuten
überall die Nachricht, dass es nichts Ernstes sei.
„Kleine Kreislaufschwäche.“
„Kreislaufkollaps!“
Die meisten verließen die Halle und
diskutierten den Abend am Bierwagen. Einige hatten keine Lust mehr auf Bier,
Bratwurst und noch mehr Prügel. Sie verließen die Veranstaltungen. Elfie
Großkreuz vom DRK war in ihrem Element. Sie und drei vier ehrenamtliche
„Schwestern“ plünderten die Erste Hilfe Kästen der Halle und versorgten die
Verwundeten der Prügelei.
Interessant: Ausgerechnet Woldi
Wichers steht da lachend am Bierwagen mit einem Arm in der Schlinge und trinkt
Bier mit Hermann Ohlrogge, dem er noch vor wenigen Minuten ein blaues Auge
verpasst hat.
Pack schlägt sich, Pack verträgt
sich!
Heller Herwein hat das 11. Fass
angezapft. Eine herrliche Veranstaltung. Gerhard Langholz, der Pädagoge mit den
Kontakten zu Rudi Dutschke, hat im Laufe der Nacht mehrfach die Weltrevolution
ausgerufen. Ohne mit seiner Frau
Rücksprache genommen zu haben, erklärte er die gemeinsame Ferienwohnung auf
Mallorca zu Volkseigentum. Hinnerk Holtkamp,
bekannt für seine Spürnase in Sachen Schnäppchen, wollte daraufhin gleich
wissen, wo man die volkseigene Wohnung denn buchen könne.
Die Letzten standen noch am
Bierwagen, als ihre eigenen Kinder schon mit dem Schulbus eintrafen.
Gerald Hauptmann, immer als erster
noch lange vor dem Eintreffen der Busse in der Schule, überblickte sofort die
Lage und erkannte, dass dieser Anblick
Jahre arbeitsreicher Präventionsarbeit zunichtemachen würde. Gemeinsam
mit Conny Rathje und den ersten Kolleginnen und Kollegen, die langsam
eintrafen, wurden die Busse wieder zurück dirigiert.
Ein Wasserschaden im Haupthaus macht
leider eine Revision der gesamten Heizungsanlage nötig. Alle Räume sind
betroffen und der Unterricht müsse für einen Tag ausfallen.
Das war die offizielle Begründung,
die auch der Schulelternratsvorsitzenden einleuchtete. Brenzlig wurde es nur,
als sie zum wiederholten Male anbot, einige Eltern zusammen zu trommeln, um bei
der Behebung eventueller Wasserschäden behilflich zu sein.
„Ein tolles Angebot, tolle Idee, Frau
Ahlf. Sie können vielleicht schon einige Eltern organisieren, die sich in
Bereitschaft halten. Ich werde Sie umgehend informieren, wenn die Schule auf
Ihre Hilfe angewiesen ist.“
Ja, das macht er immer ausgezeichnet.
Er ist eben ein talentierter Krisenmanager.
Dieser Tag der Deutschen Einheit, der
3. Oktober, wird den Nordkolbingern aus den unterschiedlichsten Gründen in
Erinnerung bleiben. Dabei halten sich gute und nicht so gute Erinnerungen
ungefähr die Waage. Ca. 400 Schulkinder aus Nordkolbingen erhielten unerwartet
einen zweiten freien Tag (+), Friederike Herma Winter darf mit zur Grünen Woche
nach Berlin (+), Hinnerk Holtkamp hat in dieser Nacht nicht mehr den Weg in
seine Backstube gefunden (-). Allerdings eine Gratiswurst (+) und die Aussicht
auf einen Urlaub in der ersten volkseigenen Wohnung auf Mallorca (+) glichen
seine Pflichtvergessenheit mehr als aus.
Anneliese Riecken wird von Enno auch geliebt, wenn sie nicht nach Berlin
fährt, hat er ihr jedenfalls noch in der Nacht ins Ohr geflüstert (+), Paula
Heinsohn hat nach 64 Jahren erstmals wieder das Gefühl des Einnässens gespürt
(-), Hella Rossmann fühlte sich von den Züchtern allein gelassen und
reflektierte in kleinem Kreis über einen Austritt aus dem Club der Kolbinger
Reit- und Fahrfreunde von 1912 e.V. (-), Jan Riecken hat eine Summe im
Gegenwert einer guten Milchkuh bei Helle Herwein am Bierwagen gelassen (-),
Helle Herwein machte einen Umsatz wie am Schützenfest Freitag (++), Klausi Fretwurst hat auch noch die 11
tiefgefrorenen Wurstpackungen losgeschlagen, deren Mindesthaltbarkeitsdatum
schon deutlich überschritten war (++).
Und dann ist da noch Gisela Wüst, die von Charlotte erfahren hat, dass Marga
Schütt und Thekla höchstwahrscheinlich ein Paar seien (+). Heino Buhrfeindt gehört zu der Gruppe der
Gewinner und Verlierer. Am Mittwoch nach der denkwürdigen Veranstaltung fand er
das Stück Krakauer in seiner Trompete (+). Das war zweifelsfrei gut. Als nicht
so gut allerdings stellte sich schon durch Geruchsprobe heraus, dass die Wurst
nicht mehr genießbar war (-). Auch Gaby Melzer kann die, ihre!, Veranstaltung
nicht ausschließlich auf der positiven Seite verbuchen. Viele Gäste glaubten, dass das Erscheinen von
Helle Herwein und Klausi Fretwurst auf ihre Initiative zurückgingen (was
definitiv nicht stimmte) (+). Positiv wurden auch die Größe und der
Unterhaltungswert der Veranstaltung bewertet. Für Gaby Melzer nicht kalkulierbar
war der Schaden, den sie möglicherweise durch das Wahlverfahren in der Nordkolbinger
Öffentlichkeit erlitten haben könnte (--). Kein schönes Gefühl – beim Einkaufen
zum Beispiel.
Suse Hellerich brauchte den ganzen 4.
Oktober für ihren Bericht. Die Redaktionskonferenz hatte ihr wegen der
ungewöhnlichen Veranstaltung eine Seite gegeben. Relativ schnell hat sie eine
Auswahl aussagekräftiger Bilder getroffen. Oben quer über alle Spalten die vor
der Jury in Reihe sitzenden 17 Majestäten mit deren Namen von links nach
rechts. Ein zweispaltiges Foto zeigt die Milchkönigin Friederike Herma Winter
lächelnd im Bett sitzend mit ihrer Krone auf dem Kopf. Ein aktuelles Bild vom
Abend war leider nicht möglich, weil die Redakteurin sich und ihre Ausrüstung
beim Ausbruch des Tumultes in Sicherheit bringen musste. Das Bild, das sie von
der zweiten Kolbinger Königin auf der Krankentrage gemacht hatte, war leider
unbrauchbar. Gut, dass das Tageblatt einen äußerst einsatzfreudigen freien
Mitarbeiter in Nordkolbingen hat. Guntram Hammersen suchte Familie Winter auf,
als es gerade zweites Frühstück gab. Nachdem er ein Mettbrötchen und eine Tasse
Kaffee zu sich genommen hatte musste die Choreografie für das Foto abgestimmt
werden. Damit das Foto auch zu ihrem spektakulären Abgang am Vorabend passt,
einigte man sich darauf, die Königin schon etwas rekonvaleszent im Bett zu
fotografieren. Außer diesem Bild hatte Hellerich noch ein Hochformat auf
dem Gaby Melzer mit Mikrofon abgebildet war. Im Hintergrund lassen sich
ganz gut die Gesichter von Helge Ehlers und Bürgermeister Oliver Detjen
erkennen. Wenn dann noch Platz sein
sollte, hätte sie noch ein wunderschönes Stimmungsbild von Werner Breckwoldt
wie er mit dem Oberkörper auf seiner Kesselpauke liegend schläft.
Der Artikel mit den Bildern, auch
Werner Breckwoldt hatte noch einen Platz gefunden, kam sehr gut. Dank des
vielen Platzes konnte die Redakteurin einen zutreffenden Stimmungsbericht
schreiben, in dem durchaus auch kritische Aspekte Berücksichtigung fanden. Gaby
Melzer und der Tourismusverein mussten sich zum Beispiel die Frage gefallen
lassen, ob das Auswahlverfahren ausreichend demokratisch und zeitgemäß sei. Lob
gab es für die Flexibilität der Organisation, für das überall erkennbare große
Engagement der Nordkolbinger für ihre Kandidatinnen. Die Wachtelkönigin musste
wieder einmal für einen kleinen Seitenhieb in Richtung Untere
Naturschutzbehörde herhalten und auch das Jugendschutzgesetz fand zur Freude
von Annegret Hölscher, der erzürnten Biologielehrerin, mit zwei Zeilen Erwähnung. Eine ausführliche
Passage über den Tumult nach Verkündung des Wahlergebnisses machte auch
deutlich, dass eine Mehrheit lieber die Moorkönigin Anneliese Rieken nach
Berlin geschickt hätte. Der Abtransport der soeben auserwählten Milchkönigin im
Rettungswagen bildete das dramaturgische I-Tüpfelchen in Hellerichs Artikel.
Noch gerade vor Redaktionsschluss kam
die Nachricht rein, dass sich die Touristikvereine im Landkreis des Proporzes wegen auf eine 5. Majestät von
der Geest geeinigt hätten. So konnte Suse Hellerich ihren Bericht mit der
Aussage beenden, dass neben der eigentlich illegalen Appelkönigin eines Altländer Obstbauern, der
offiziellen Altländer Blütenkönigin, der Kolbinger Landkönigin Nikki Schütt und der Milchkönigin Friederike
Herma Winter nun auch noch eine Spargelkönigin von der Geest zur Grünen Woche
fahren würden.
Nordkolbingen kehrte nur langsam in
seinen gewohnten Dornröschenschlaf zurück. Im Tageblatt erschienen noch einige Leserbriefe, an den Stammtischen
war der Wahlabend noch einige Male Thema. Bei Rieckens am Mehrzwecktisch
wechselte sich Bedauern über die verpasste Chance mit Erleichterung wegen der
entfallenen Verpflichtungen ab. Weihnachten stand vor der Tür und es gab
genügend andere Dinge, mit denen man sich beschäftigen wollte oder musste.
Nicht überall kehrte der Alltag ein.
Die Geerdts Zwillinge, sie hätten Kohl Hiesels Tochter Viola zu gerne auf der
Grünen Woche gesehen, entwickelten während eines einstündigen Fußmarsches von
der Neuhauser Disco nach Hörne eine grandiose Idee. Schon am folgenden Tag, es
war der Tag vor Nikolaus, hatten sie Tina von Bargen und Kalle Seefeld, zwei Vorstandsmitglieder der Landjugend, sowie
Viola zu sich eingeladen, um sie in ihren Plan einzuweihen.
Mutter Geerdts gefiel es, dass die
Zwillinge immer Freunde um sich hatten und sich so sehr in der Landjugend engagierten. Die Freunde
sollten sich wohl fühlen in ihrem Haus. Deshalb schleppte sie ein Tablett
voller Gläser, Apfelsaft und einer Schale mit getrockneten Apfelringen die zwei
Treppen hoch bis unter das Dach, wo sich die Jungen ihr eigenes Reich
eingerichtet hatten.
„Wenn ihr mehr wollt, holt euch das
aber selber. Zwei Mal am Tag kann ich nicht hier hochklettern.“
Ein Blick durchs Zimmer und dann der
bekannte Kommentar:
„Ein bisschen Aufräumen hätte auch
nicht geschadet.“
Kaum, dass sie wieder im Erdgeschoss
angekommen war, klingelt es.
„Ist ja zu nett, dass ihr mal wieder
die Jungs besuchen kommt. Den Weg kennt ihr ja.“
Ja den kannten sie. Das Dachgeschoss
der Zwillinge war der Dorfjugend gut bekannt. Hier konnte man ungestört sein.
Vater Geerdts verschwand oftmals wochenlang auf irgendwelche Baustellen
Arabiens oder in China. Mutter Geerdts mutete sich den Aufstieg höchstens
einmal täglich, in Zeiten längerer Unpässlichkeit sogar nur 14tägig zum
Wechseln der Bettwäsche zu. So waren die Zimmer von Jonas und Lukas Geerdts
eine nahezu erwachsenenfreie Zone, die, trocken und geheizt, dazu einlud,
ungestört Erfahrungen aller Art zu sammeln. Könnten die Tapeten reden, sie
hätten von unbeholfenen Knutschversuchen,
Zigarettenkonsum mit und ohne Zusatz, Anschauen verbotener Videos, Bier
und Schnapsverkostungen, und, ab einem bestimmten Alter sogar von Sex erzählen
können, weniger vom Anfertigen der Hausaufgaben oder vom Üben für
Klassenarbeiten.
Als Tina, Kalle und Viola etwas
atemlos in die ausrangierten Wohnzimmermöbel
der Familie fielen, hatten Lukas und Jonas schon aufgeräumt. Das heißt,
die Apfelringe waren gegen Kartoffelchips und der Apfelsaft gegen Bier
ausgetauscht. An die Apfelringe ging schon lange niemand mehr ran. Das hatte
ein Ende nachdem es Karlheinz Nagel einmal so schlecht ging, dass er beim
Heruntergehen auf die Treppe gespuckt hat. Er hat die Sauerei auf die Apfelkringel
geschoben, die tatsächlich noch rudimentär auf den Stufen zu sehen waren. Wenn
er etwas ehrlicher gewesen wäre, hätte er nicht verschwiegen, dass er heimlich
seine Cola mit größeren Mengen von Strathmanns Weizenbrand gestreckt hatte.
„Was gibt´s? Was gibt es, warum die
Geheimniskrämerei?“ Kalle guckt erwartungsvoll zu den Zwillingen. Lukas, der
schon immer lieber gesprochen hat als Jonas, ergreift das Wort.
„Also, es geht noch einmal um die
Grüne Woche und diese krasse Wahlveranstaltung am 3. Oktober in Friedeberg. Wir
finden es immer noch Scheiße, dass Rike Winter mitfahren darf und Viola und die
anderen hier bleiben müssen. Ganz abgesehen davon war die Wahl auch undemokratisch.“
„Ist ja nun mal gelaufen“, meldet
Viola Hiesel sich zu Wort.
„Darum geht es ja gerade, muss ja
nicht das Ende sein.“ Das war Jonas, ein Satz und das genügt dann auch erst
einmal.
„Wir bringen alle 16 nichtgewählten Majestäten
nach Berlin. Wir mischen die Grüne Woche auf. Wir erobern die Titelseiten der
Zeitungen und kommen in die Nachrichten, wir…“
„Eih Lukas, komm wieder runter. Hat
er heute schon ´was genommen“, fragt Tina Jonas.
„Nein, er meint das ernst und ich
auch“, gibt Jonas zurück, „lass ihn doch mal erzählen.“
Vier Flaschen mit Bügelverschluss
ploppen auf. Viola trinkt keinen Alkohol. Sie hat das Auto von ihrem Vater
ausgeliehen und musste ihm hoch und heilig versprechen, nichts zu trinken.
„Also, wir karren zwei, drei
Busladungen nach Berlin. Meinetwegen auch den Spielmannszug der Moorer, Freunde
und Verwandte der Majestäten.“ Lukas kam richtig in Fahrt. „Am besten an einem
Tag, an dem Angie oder Weil auf der Grünen Woche sind. Und dann zeigen wir
Berlin, dass die Kolbinger mehr zu bieten haben, als die Nikki Schütt und Rike
Winter. Natürlich alles top secret! Ist doch klar, kein …“
Allgemeines Kopfschütteln. „Quatsch,
kann gar nicht funktionieren!“ „Geheim?
Wie willst du das geheim halten?“
„Das ist das große Problem. Darüber
haben Jonas und ich fast die ganze Strecke von Neuhaus bis nach Hause
nachgedacht. Und wir haben die Lösung. Wir fünf und vielleicht noch Hella
Rossmann, weil die so gut Englisch und Französisch kann, dürfen unseren Plan
kennen. Alle anderen, besonders die Königinnen,
müssen wir zu einer Art Trostfahrt ins Blaue beschwatzen. Verlängertes
Wochenende im Harz oder Partywochenende an der Ostsee. Seht mal, alle sind doch
irgendwie enttäuscht und einige sogar wütend über das Ergebnis der Königinwahl.
Wir machen ein Programm mit Ballnacht und zu dem Ball müssen alle Majestäten in
ihren mehr oder weniger schönen Kostümen erscheinen. Von den anderen wird
„gepflegte Garderobe“ erwartet. Musik
müssen die „Five Bad Moore Boys“ machen, die ja ohnehin alle im Spielmannszug
sind. Wir verkaufen die Reise als Spaßersatz, weil wir bzw. unsere Majestät
nicht mit nach Berlin dürfen.“
„Spinnst du, die steigen in den Bus
und glauben, dass die Reise nach Timmendorf oder Quedlinburg geht und dann
steigen wir in Berlin aus. Das grenzt an Freiheitsberaubung oder Entführung.
Nee, ohne mich.“
„Lass mal, Tina, lass uns mal ein
bisschen rumspinnen. Vielleicht könnte es klappen. Wo liegen die Schwachstellen
dieses Planes?“ Kalle hat den Köder geschluckt. Viola kann sich aus alledem
noch keinen Reim machen.
„Welche Schwachstellen meinst du?“
„Jonas, wo bleiben wir mit den Leuten
in Berlin? Wer soll das alles organisieren? Da gehen Riesensummen Geld über den
Tisch, wer soll die Finanzen berechnen und verwalten? Wer übernimmt die Verantwortung, wenn sich
irgendwelche Spinner betrogen fühlen? Wie schaffen wir es, dass nichts
durchsickert? Mir fallen bestimmt noch
mehr Fragen ein, die mir jetzt noch ungelöst scheinen.“
Viola, die bis dahin relativ
unbeteiligt war, beginnt Gefallen an dieser krassen Aktion zu finden.
„Wir haben doch eine Königin, die bei
der Kreissparkasse arbeitet. Warte mal, ach ja, ich hab´s. Sarah Bauknecht, die
Kartoffelkönigin, die muss die Kasse machen.“
„Dann haben wir ja schon wieder eine
weitere Mitwisserin. Ich habe da so meine Bedenken von wegen Geheimhaltung“,
gab Tina zu bedenken.
„Null Problemo, sie sammelt das Geld
für Timmendorf oder Harz. Die braucht
doch nicht zu wissen, dass wir nach Berlin wollen. Wir müssen nur zwei Reisen
perfekt durchplanen: Eine nach Berlin und eine, die zu 100% gefaket ist. Das
würde ich mir schon zutrauen, wenn ich von euch Hilfe bekomme.“
„Okay, Viola, das hört sich doch
schon ganz gut an. Und du, Bruderherz, schreibst einen Aufruf in der Kolbinger
und für das Tageblatt. Ich bereite eine Informationsveranstaltung im
Kornspeicher vor. Ihr wisst ja, ich rede nicht gerne; aber, wenn es denn sein
muss, krieg ich das schon hin.“
Der und nicht gerne reden! Kalle will
schon die ganze Zeit etwas sagen, kommt nur nicht zu Wort.
„Müssen wir nicht zu allererst die
Majestäten für die Fahrt ins Blaue gewinnen?“
„Kalle hat Recht, wir müssen zuerst
die Königinnen, an einen Tisch bringen und sie überzeugen“, meint Tina Kalle
unterstützend.
Jonas hatte inzwischen seinen PC
hochgefahren und begann eine „to do – Liste“ anzulegen. Erst kurz vor
Mitternacht trennte sich das Verschwörungsquintett mit dem Vorsatz, alles noch
einmal bis zum nächsten Treffen zu durchdenken.
Bereits zwei Tage später traf man
sich wieder. Dieses Mal trennten sich die Freunde mit sehr konkreten
Arbeitsaufträgen. Schade, dass Annegret Hölscher, die letzte Klassenlehrerin
der Zwillinge an der Oberschule Nordkolbingen, ihre ehemaligen Schüler hier
nicht erleben konnte. Sie müsste umgehend ihre Beurteilung der Zwillinge total
revidieren. Was die beiden Jungen und ihre Freunde hier zeigten, war ein
Musterbeispiel für Teamfähigkeit, Ausdauer, Kreativität, Selbstständigkeit und Zuverlässigkeit. Niemand, der sie hier
hätte erleben können, würde glauben, dass Vater Geerdts noch vor zwei Jahren
juristisch gegen die Schule vorgehen wollte. Er hatte es nicht einfach so
hinnehmen wollen, dass seine während der kurzen Heimaturlaube immer ach so
lieben Jungen, sowohl im Sozialverhalten
als auch im Arbeitsverhalten den Anforderungen nicht oder nur mit
Einschränkungen genügten. Nach einem klärenden Gespräch mit der
Klassenlehrerschaft war er dann jedoch sehr glücklich, dass er noch kein Geld
in einen Anwalt investiert hatte.
Fine
Rieken blättert die Tagespost durch und sortiert nach „Altpapier“
und „lesen“. Bei den Mengen Papier, die Olaf Tiedemann Tag
für Tag in die Küche reicht, ist das gar nicht so leicht. Wenn Jan ungeduldig
wird, weil Fine zu den „Langsamlesern“ gehört, kriegt er zu hören, dass eben
alles seine Zeit braucht. „Du willst doch schließlich auch nicht, dass ich aus
Versehen den Hauptgewinn von einem Preisausschreiben in die Tonne schmeiß?“
„Machen wir denn überhaupt mit dabei,
ich mein bei´n Preisausschreiben?“
„Nöö, aber könnt ja mal sein.
Manchmal gewinnst ja auch ´was durch´n Zufallsakumulator.“
„Zufallsgenerator heet dat un nu her
mit de Post!“
Wenn Paula das gelbe Postauto
vorfahren sieht und Olaf Tiedemann wieder mit einem dicken Packen Reklame ohne
einen einzigen Brief aussteigt, geht ihr immer durch den Kopf:
„Keen Wuunner dat de Breewdreeger hüt
tau Dogs nich mehr mit´n Rad föhrn künnt.
Jümmer mit´n Barg Altpapier und ´n poor Breew ünnerwegens. Föhlst di jo
eher as´n Müllkutscher von Korel Meyer as´n Breewdreeger.“
Ja, Paula hat Verständnis dafür, dass
Olaf die Post nur noch mit dem Auto ausbringt.
„Jan,
nun kiek di bloot mool dissen Breew an. An Eure Majestät, Moorkönigin Anneliese Rieken .” Jan Riecken
grapscht sich den Brief, dreht ihn um und liest den Absender. „Eure Majestät
die Weißkohlkönigin Viola Hiesel, Eierviertel 7, 21730 Hörne.“
„Jan, die kenn ich. Weißt du, das ist
Kohl-Hiesels Tochter, die Hübsche von der Landjugend Bilge. Wat de wohl will
von uuse Anneliese?“
Anneliese hat heute bis zur 8.
Stunde, Nachmittagsunterricht. Das ist jetzt so an der Oberschule Nordkolbingen.
Der Brief liegt auf dem Mehrzwecktisch. Er liegt da vor dem Essen und er liegt
da auch noch nach dem Essen.
„Was da wohl drin steht“? denkt Fine
jedes Mal, wenn ihr der Brief ins Blickfeld kommt. Dann ist Kaffeezeit, der
Brief liegt immer noch da, inzwischen hat er schon ein paar kleine
Suppenspritzer, und Anneliese ist immer noch in der Schule.
„Was da wohl drin steht“? denkt Jan Rieken jedes Mal, wenn ihm der Brief ins Blickfeld
kommt.
„Was denkst du, Jan?“
„Ich denk, was da wohl drin steht und
was denkst du so?“
„Ich denk, auch was da wohl drin
steht.“
„Musst du immer dasselbe denken wie
ich, Fine?“
„Ja muss ich. Solln wir Jan?“
„Ja Fine, ich glaub wir müssen sogar.
Anneliese ist ja noch nicht volljährig und wer weiß, was da drin steht?“
„Ja wer weiß das schon. Ich weiß das
erst, wenn ich ihn gelesen hab. Und du?“
„Na los, guck schon rein!“
Hätten die Eltern Riecken auch nur
ansatzweise geahnt, dass sie gegen ein elementares Grundrecht verstoßen, dass
sie sich durch diese kleine Verletzung des Briefgeheimnisses nun in einen
Konflikt mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland begeben haben, sie
hätten die Finger von dem Brief gelassen. Das bisschen Warten bis Anneliese
nach Hause kommt wäre allemal leichter zu ertragen gewesen als die altklugen
Belehrungen ihrer Tochter, die gerade in dieser Woche die Grundrechte in der
Schule zum Thema in Gemeinschaftskunde hatte.
„Strafbar habt ihr euch gemacht!
Schämt euch. Ins Gefängnis könnt ihr
dafür kommen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland einfach so
missachten. Wenn das der Justizminister mitbekommt ist aber Schluss mit lustig!
Ab hinter Gitter!“
„Anneliese, is dat werklich so schlimm?
Du wirst uns doch nicht anzeigen?“
Spannungsgeladene Pause.
„Nee, werde ich wohl nicht. Sonst
komme ich noch ins Heim, wenn ihr in den Knast geht. Und nun lasst mich erst
einmal lesen.“
Das muss man Viola schon lassen, der
Brief war großartig geschrieben, als Serienbrief, nur die Unterschrift war in
Handschrift.
Sehr geehrte Majestät,
Moorkönigin zu Dröbermmoor,
Spaß beiseite, Hallo Anneliese. Mich
kennst du ja schon. Gemeinsam mit meinen Freunden Tina von Bargen, Kalle
Seefeld, Lukas und Tobias Geerdts und haben wir eine Idee. Wie du wohl auch,
waren wir überhaupt nicht glücklich mit dem Ausgang der Wahl. Aber wir wollen
uns auch nicht darüber ärgern, dass Nikki Schütt und Rieke Winter nun ein paar
schöne Tage in Berlin haben.
Nur dachten wir, was hindert uns
daran, dass wir uns ebenfalls ein schönes, langes Wochenende machen. Wir wollen
eine Reise mit allen 16 nicht berücksichtigten
Majestäten organisieren. Natürlich mit einer schönen Galaparty, alle
Königinnen in ihren Festgewändern, mit Wellness- und, wer es denn möchte, auch
Fitnessprogramm. Kalle hat auch schon ein kleines Ausflugs- und
Besichtigungsprogramm in Arbeit. Jede Majestät darf Freundinnen und Freunde
einladen. Die Gesamtteilnehmerzahl wird letztlich von der Anzahl der vorhandenen
Quartiere abhängen. Im Moment laufen Anfragen in Goslar, Bad Harzburg und
Quedlinburg.
Um deine Meinung und die der anderen
Königinnen zu erfahren und in die Vorbereitungen mit einfließen lassen zu
können laden wir zu einer Zusammenkunft am Donnerstag, 14. Dezember in
Hartwichs Fährkrug, Kolbingerhafen ein. Wir sitzen im Yachtzimmer. Bitte gib
uns kurz Bescheid, ob wir mit dir rechnen können.
Tschüßi bis Donnerstag!
Deine Weißkohlkönigin
Viola Hiesel
P.S.:
Bitte diese Einladung vertraulich behandeln!
Der Nachsatz mit der Geheimhaltung
war Jonas Idee.
„So bekommen wir unser Vorhaben am
schnellsten unter die Leute.“
So ganz Unrecht hatte er mit seiner
Theorie nicht. Paula Heinsohn melkt
nicht mehr draußen. Ihre beiden Ziegen haben es bis Mitte November draußen
ausgehalten. Nun stehen sie Tag und Nacht im Stall. Trotzdem ist es Paula nicht
verborgen geblieben, dass Anneliese wieder mit dem Laufen angefangen hat.
Irgendetwas ist hier doch im Werden. Das kurze, gemeinsame Ende vom Bäckerwagen
bis zur Pforte in Paula Heinsohns Gartenzaun musste ausreichen, um Licht ins
Dunkel zu bringen.
„Geiht mi jo nix an; oober Annelies
löpt all weller. Friederike is doch wohl nich utfohlen?“
„Jo, Paula, dat hest du richtich
sehn, se löpt all weller. Kannst du swiegen, Paula? Ick dröff gor nix
vertellen. Wenn Annelies dat gewohr ward, de ritt mi den Döz vun Hals.“
„Fine, mook mi nich argerlich. Hebb
ick eenmool öber irgend wat sludert, dat du mi vertellt hest?“
„Ne“, denkt Fine, „nich eenmool, tein
Mool oder noch beter, egentlich jümmer.“
Kaum, dass Paula von der Einladung
der Königinnen gehört hatte, brachte sie ihr Wissen auf die Spur. Jonas
Geerdts, hätt er es mitbekommen, er
hätte seine helle Freude gehabt. Schon am nächsten Vormittag kreuzten sich die geheimen Informationsströme
am Kanal, Höhe Tankstelle am Bäckerwagen von
Gerd Lühring. Lührings Angestellte Drewes hatte beim morgendlichen
Frühstück in der Backstube von der Einladung der Stutenkönigin in den Fährkrug
gehört. Diese Neuigkeit verbreitete sie bei jedem Stopp ohne den wichtigen
Hinweis zu vergessen:
„Von mir habt ihr das aber nicht.“
Von der westlichen Kanalseite hatte
sich Paula Heinsohns Indiskretion fast im gleichen Tempo bis an den Bäckerwagen vorgearbeitet. Leider hatte sich
der „Stille Post Effekt“ eingestellt. Nicole Müller kam nämlich mit der
Neuigkeit, dass eine Königin im Gästehaus von Hartwichs Fährkrug wohnen soll.
Hier konnte die Drewes vom Bäckerwagen für Klarheit sorgen. Schließlich hatte
sie ja den Brief mit eigenen Augen gesehen. So konnte Nicole Müller dann die
korrigierte Fassung wieder westwärts den Kanal hoch schicken, bis irgendwann
Gerda Schlohboom sagt:
„Weiß ich doch, hab´ ich dir doch gestern
schon erzählt.“ Die Fehlerquelle hat
also genau am Übergabepunkt von Gerda Schlohboom zu Hardekopfs
gelegen.
Überall in den Königshäusern Nordkolbingens
trafen die Briefe zur gleichen Zeit ein. Die Reaktionen waren sehr
vielgestaltig und reichten von Neugierde über verhaltenes Interesse bis hin zur
Ablehnung. Nach drei Tagen schon waren per E-mail, SMS und Telefon 14
Teilnahmebestätigungen für das Königinnentreffen an der Süderelbe
eingegangen. Es fehlte eine Rückmeldung
der Wachtelkönigin Beate von Lindern. Aus Gründen des Umweltschutzes hatte sie
grundsätzliche Bedenken gegen reine Vergnügungsfahrten der vorgestellten Art.
Statt die Abgase mehrerer Busse in die ohnehin schon mit Schadstoffen
überfrachtete Umwelt zu pusten hätte sie lieber ein Ziel gesehen, das sich mit
dem Fahrrad oder zumindest mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichen ließe. Nun
fügte es sich, dass ohnehin zum Wochenende die turnusgemäße monatliche
Zusammenkunft der „Freunde des Wachtelkönigs“ stattfand.
Gleich zu Beginn bat Beate von
Lindern um Ergänzung der Tagesordnung um den Punkt „Lustfahrt der Königinnen“.
Zu ihrer Überraschung waren die Reisepläne trotz der im Brief geäußerten Bitte
um Verschwiegenheit bereits allen Wachtelkönigfreundinnen und –freunden
bekannt. An ihr kann es nicht gelegen haben, Beate musste sich keinen Vorwurf
machen. Sie hatte, wie in den Brief erbeten, mit niemandem darüber gesprochen
und den Brief auch nirgendwo achtlos herumliegen lassen. Kurz vor Schluss der
Versammlung rief Ubbo Hartwig, selbsternannter Experte in allen Fragen, die mit
Vögeln und Umweltbelangen der Elbmarschen zu tun haben, den ergänzten
Tagesordnungspunkt auf.
„Beate, und nun kommen wir zu deinem
Punkt. Wenn du bitte einmal kurz darstellen würdest, was dich in dieser Frage
bewegt.“
Die Wachtelkönigin hielt ein
flammendes Plädoyer gegen die „Lustreise“, wie sie die Unternehmung in ihrem
Wortbeitrag nannte. Dass sie auf dem richtigen Weg war, sah sie am zustimmenden
Kopfnicken in der Runde. Ihren Beitrag schloss sie mit den Worten:
„Und deshalb bin ich grundsätzlich
gegen meine Teilnahme als Wachtelkönigin und Repräsentantin einer regionalen
Umweltzelle wie der unseren, dem Freundeskreis des Wachtelkönigs. Ich möchte
sogar noch einen Schritt weiter gehen und die Veranstaltung als solche in Frage
stellen, ganz unabhängig davon, wie viele Kilometer dafür verfahren werden.“
Ihr sehr emotionales und engagiertes
Plädoyer wurde von den Wachtelköniganhängerinnen und –anhängern mit kurzem aber
heftigem Knöchelklopfen auf die Tischplatte honoriert. Ein Anflug von Stolz
zeigte sich auf dem Gesicht der Wachtelkönigin begleitet von einer leichten
Rötung der Wangen.
„Danke, liebe Beate, das hast du ganz
großartig vorgetragen“, kommentierte Ubbo Hartwig den Beitrag der
Wachtelkönigin. „Allerdings ging mir die ganze Zeit durch den Kopf, obwohl der
Majestäten Trip aus ökologischer Sicht zu 100% abzulehnen ist, ganz außer
Frage, ob wir uns aus politisch ideologischen Gründen nicht doch beteiligen
sollten? Wo sonst treffen wir mit
unseren Zielen in Nordkolbingen auf eine so große Gruppe von Personen, denen
wir unser Anliegen deutlich machen können, sogar deutlich machen müssen.“
Zustimmendes Nicken in der Runde
außer von der Wachtelkönigin. Alle Blicke richteten sich auf sie. Beate von
Lindern war irritiert. Eben noch gefeiert wegen ihres kämpferischen Plädoyers
wurde plötzlich im Interesse des Ganzen, der großen Sache „Umwelt“ von ihr
erwartet, was sie nicht zu leisten bereit war. Ubbo Hartwig setzte nach:
„Sieh mal, Beate, könntest du dir
nicht in Hinblick auf unser großes,
übergeordnetes Ziel eine Teilnahme an der Reise vorstellen? Natürlich teilen
wir auch deine Bedenken. Es sind doch auch unsere.“
Pause. Schweigen. Neun Augenpaare
ruhen auf der Wachtelkönigin. Alle warten mit Spannung, was geschehen wird.
Beate von Lindern räuspert sich. Aha, gleich wird es losgehen.
„Also, das widerspricht nun ganz und
gar allem, wofür ich mich eingesetzt habe. In einer Sache kann ich Ubbo
allerdings zustimmen. Wir werden nirgendwo wieder so viele Menschen so lange
Zeit zusammen haben, um für unsere Sache zu werben und zu kämpfen. Ich könnte
mir vorstellen, mit zu ziehen, wenn wir bei dieser Reise nicht Eigeninteresse der Wachtelkönigin
sondern die Interessen des Wachtelkönigs
und der geschundenen Umwelt im Vordergrund stehen.“
Knöchelklopfen. Helle Herwein steckt
den Kopf durch die Schiebetür und fragt, ob es noch etwas sein darf.
„Bring uns noch einmal eine Runde,
wie gehabt. Geht auf meinen Deckel.“
Ubbo Hartwig hat einen Sieg im
Interesse der Umwelt errungen. Das ist schon eine Runde wert.
„Für mich bitte diesmal einen Pfefferminztee“,
korrigierte Beate von Lindern die Bestellung. Ubbo Hartwig setzt die
Versammlung fort.
„Ich rufe dann den Punkt
„Verschiedenes“ auf.“
Es meldet sich Veronika Eggermann zu
Wort, die jahrelang in verschiedenen ökologischen Wohnprojekten im Wendland
lebte und drei Jahrzehnte maßgeblich dazu beigetragen hat, dass nun auch andere
Bundesländer sich um die Endlagerung von Atommüll innerhalb ihrer Landesgrenzen
Gedanken machen müssen. Hätte es Stempelchen für Demo Beteiligungen
gegeben, sie wäre sicherlich die
Stempelkönigin des Wendlandes und der Elbtalauen geworden . Als sie an sich alle Anzeichen eines Burnouts
bemerkte, sie verspürte plötzlich keine Freude mehr an den endlosen
Diskussionen über Welt-, Beziehungs- und
vielen nichtigen, oft kleinkarierten Problemen ihrer inzwischen auch
meist schon jüngeren MitbewohnerInnen, kam ihr zu Pass, dass ihre Großmutter
ihr die kleine Kate am Elbdeich vermachte. Mit ihrem Mischlingsrüden, einigen
persönlichen Stücken und einem großen
Bündel grobgestrickter Kleidungsstücke hatte sie sich in ihrem 14 Jahre alten
Ford Fiesta kurzerhand auf den Weg nach Kolbingen
gemacht. Hier schlüpfte sie nahtlos in den bescheidenen Haushalt ihrer
Großmutter, was wegen ihrer anspruchslosen Lebensweise keine große Mühe bereitete. Mit meist ungewaschenen langen
Haaren, auffallendem Ökooutfit und immer den Geruch der alten Kate verbreitend
sorgte Veronika überall für Aufmerksamkeit.
Was hier in Kolbingen nicht selbstverständlich
war, verziehen ihr ihre Mitmenschen ihre offensichtliche „Andersartigkeit“ wegen
ihres immer freundlichen Wesens und ihrer Kolbinger Wurzeln.
Dass Veronika Eggermann ziemlich
schnell zu den Freunden des Wachtelkönigs stieß, verwundert nicht. Man kennt
dieses Phänomen zum Beispiel auch, wenn
ein schwieriger Schüler neu an eine Schule kommt. Man
kann ziemlich sicher sein, dass er schon in der ersten großen Pause mit
den schulbekannten Rowdies zusammensteht.
Menschen gleicher Strickart scheinen einander
über weite Distanzen zu wittern.
„Liebe Freundinnen und Freunde, mich
bedrückt da schon etwas seit einiger Zeit. Ihr wisst, dass es mir ein ganz,
ganz großes Anliegen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter in Wort,
Schrift und Bild sowie im täglichen Miteinander
durchzusetzen. Ich möchte jetzt nicht, dass ihr mich für albern haltet,
aber wenn ich konsequent mit mir und meinem Umfeld sein will, müssen wir uns
umbenennen.“
Ratlose Blicke Ubbo Hartwig und Henning von Ahn werfen sich einen
Blick zu, der deutlich ihre Meinung zu Veronikas Anliegen zum Ausdruck bringt.
Veronika bemerkt das nicht und
konkretisiert stattdessen ihr Anliegen:
„Ich meine, dass wir uns zukünftig Kreis
der Freundinnen und Freunde des Wachtelkönigs und der Wachtelkönigin nennen
müssen.“
Pause! Ubbo Hartwig bricht das etwas
zu lange Schweigen:
„Ein interessanter Ansatz, Veronika.
Vielleicht sollten wir deinen Vorschlag
im Rahmen der Herbstversammlung noch einmal aufgreifen. Du verstehst,
wir können jetzt nicht abstimmen, weil der Punkt nicht auf der Tagesordnung
war.“
Das sah Veronika ein. Der Rest der
Runde atmete erleichtert durch.
Es ist schon gut, so einen schlauen
Vorsitzenden zu haben.
Eigentlich deutete am frühen
Donnerstagabend des 14. Dezembers nichts
auf besonderen Betrieb im Fährkrug hin. Das Yachtzimmer war für 19 Uhr von der
Landjugend gebucht. Mehr als zwanzig Gäste lassen sich dort nicht unterbringen.
Hartwich hatte je eine Kraft am Tresen und eine zum Bedienen eingeteilt. Er
selbst stand in der Küche, um Bestellungen von der Abendkarte zuzubereiten. Bereits
um 18 Uhr zeichnete sich ab, dass er mindestens eine Bedienung mehr brauchte.
Die Gaststube und das angrenzende „Piratenkabinett“ boten schon lange keine Sitzplätze mehr, am
Tresen standen sie in Dreierreihe. Als eine Gruppe von etwa 12 Pferdezüchtern
um Paul von Thun in die Gaststube drängte, bereiteten Hartwich und seine Frau
im Eiltempo den kleinen Saal vor.
Paul von Thun schimpfte. Es war kein
Parkplatz mehr in der Nähe des Fährkruges zu bekommen und sie hatten fast 600
Meter von der Tennisanlage bis hierher bei strömendem Regen zu Fuß zurücklegen
müssen.
Nach dem Grund für den am Donnerstag
ungewöhnlichen Ansturm brauchten die
Wirtsleute und ihr Personal nicht zu fragen. Überall das gleiche Thema, alle
unterhielten sich über das geheime Königinnentreffen, das hier in wenigen
Minuten beginnen sollte.
Auch das Yachtzimmer begann sich sehr
zeitig zu füllen. Nach und nach trafen die Majestäten ein. Die Tische waren in
der Form eines offenen U angeordnet. Am Kopf saß das Organisationsteam aus Bilge,
Lukas Geerdts und Viola Hiesel in der Mitte. Die Seitenplätze des U´s konnten
von den eintreffenden Mädchen frei
gewählt und besetzt werden.
Samantha Meyer hatte irgendetwas
missverstanden und war als einzige Königin in vollem Ornat und mit dem Zaunkönigkrönchen
auf dem Kopf erschienen. Nachdem sie ihren Fehler bemerkt hatte, legte sie
Krone und Mantel doch noch schnell an der Garderobe ab.
Es klopft zart, alle Köpfe drehen
sich zur Tür. Glaubt man´s ? Im Türrahmen stehen Nikki Schütt und Rieke Winter,
die der Runde mit verlegenem Lächeln unbeholfen zuwinkt.
„Dürfen wir auch? Wir haben gehört,
dass sich hier heute alle Kolbinger Majestäten treffen. Da gehören wir doch
auch dazu; aber wir haben keinen Brief bekommen“, versucht Friederike ihr
Erscheinen zu erklären. Viola, die clevere Weißkohlkönigin aus Bilge, erfasste
sofort die Lage und erteilte den beiden in zuckersüßem Ton eine klare Absage:
„Tut uns leid. Das macht keinen Sinn,
wenn ihr dabei seid. Wir machen uns
heute Gedanken über einen Ausflug, an dem ihr ohnehin nicht teilnehmen könnt,
weil ihr ja in der Zeit auf der Grünen Woche sein müsst. Ciao, viel Spaß in
Berlin!“
„Echt cool gemacht, Viola“, meinte
Jonas, „hätte sonst keiner hier so hingekriegt.“
Der kurze Auftritt der Kolbinger
Landkönigin und der Milchkönigin sorgte für reichlich Gesprächsstoff bei den
wartenden Majestäten.
Von der Wachtelkönigin fehlte immer
noch eine Zusage.
18.45 Uhr, Beate von Lindern trat in
den Raum. Nun wurde es sehr wahrscheinlich, dass die Runde vollzählig werden
würde. Viola setzte kleine Häkchen hinter den erschienenen Majestäten und Punkt
19 Uhr fehlte nur noch ein Häkchen hinter dem Namen von Natalie, der Königin
der Nacht. Gerade wollte Lukas die Veranstaltung eröffnen, als Natalie in den
Raum trat, den nassen Schirm in die Ecke stellte, das etwas nasse Haar hin und
her schüttelte und mit einem Mix aus Deutsch und Französisch über das Sauwetter
schimpfte. Hella Rossmann, das Sprachenwunder vom Gymnasium Warstade, beugt
sich zur Radler Königin Hildegard Radlusz und flüstert ihr ins Ohr, was schon
viele immer vermuteten:
„Die kann gar nicht richtig
Französisch.“
Armer Lukas. Er war schon
aufgestanden um die Versammlung stehend zu eröffnen, als die Bedienung
hereinplatzte und fragt ob es denn schon etwas sein dürfte. Natürlich durfte es
schon etwas sein und so verzögerte sich der Start noch einmal um einige
Minuten.
Aber dann lief es wie am Schnürchen. Nach
Lukas Begrüßung und einer kurzen Begründung, warum sie so begeistert von einem
Ausflug waren, wechselten sich die
anderen vier ab mit der Verkündung von Plänen und bereits ermittelter
Informationen. Kalle Seefeld rundete die Projektskizze mit der Vorstellung
seines Sightseeing Programmes für den Harz ab und forderte die Zuhörerschaft
auf, nun Fragen zu stellen bzw. Anregungen zu machen.
Andauerndes Klopfen mit den
Fingerknöcheln auf die Tischplatten des Fährkruges signalisierte den Bilgern,
dass die Versammlung den Köder geschluckt hatte. Der Beifall verebbte und ein
erwartungsvolles Schweigen setzte ein.
Lukas erlöste die Runde.
„Gibt es irgendwelche Fragen oder
Anregungen? Ja bitte, Helga.“
„Ich hätte gerne gewusst, ob wir
nicht zu einer anderen Zeit fahren können. Ich meine nur wegen Urlaub. Also es
ist doch ziemlich kurzfristig?“
„Willst du das beantworten, Viola?“
„Ja, gerne. Zu unserer Idee gehört
schon, dass wir genau zu der Zeit Spaß haben wollen, wenn in Berlin die Grüne
Woche läuft, zu der wir ja aus bekannten Gründen nicht mitgenommen werden.
Außerdem brauchst du nach unserer Planung nur einen Tag Urlaub durch die Koppelung mit dem
Wochenende. Das bekommst du schon hin.“
„Sarah, du hattest dich noch
gemeldet?“
„Ja, ich habe zwei Fragen. Wie teuer wird die Reise? Und könnte
vielleicht noch einmal jemand genauer beschreiben, wie ihr euch das mit dem
Ball oder der Party gedacht habt? Ach ja, muss man an den Ausflügen
teilnehmen?“
„Kalle, vielleicht sagst du etwas zu
den Kosten.“
„Ich habe einmal überschlagen. Zwei
Nächte im Doppelzimmer macht ungefähr 70€. Anteil für An- und Abfahrt 20€ und ca. 10€ pauschal für Programm.
Außerdem kämen noch 25€ für die Party dazu für Getränkepauschale und eventuell
einen DJ falls wir keine eigene Musik mitbringen. Über den Daumen also 110 –
125€ insgesamt. Na ja, die Party oder der Ball soll schon etwas festlicher
sein. Cooles Outfit, Königinnen in ihrem Kostüm und so. Vielleicht auch ein
paar Spiele. Ihr könnt ja auch noch Vorschläge machen, die Planung steht ja
erst am Anfang. An den Ausflügen muss man natürlich nicht teilnehmen.“
„Monsieur, darf isch meine Ündschen
mitnehmen?“
„Kalle, sag mal schnell, was ist eine
Ündschen?“
„Die hat einen Köter. Ündschen,
kapierst du?“
Lukas kapierte.
„Aber natürlich darfst du deine Ündschen
mitnehmen, Natalie, aber für Mehrkosten musst du natürlisch selbst aufkommen.“
„Danke. Aber mach keine Witz mit
meine Sprache, nicht verohnepieppeln! Das kann isch niecht gut aben.“
„Tschuldigung, war nicht so gemeint.
Noch irgendwelche Fragen? Ja, Samantha.“
„Kann ich jetzt schon bezahlen?
Überhaupt, wer kriegt das Geld und bis wann muss man sich angemeldet haben?“
„Anmeldungen nehmen wir über E-Mail,
per SMS, per Post und per Anruf
entgegen. Wer sich angemeldet hat, bekommt von uns dann laufend Infopost mit
allen für euch nötigen Daten. Wir haben vorerst einen Bus mit 54 Plätzen
reserviert und noch eine Option für einen zweiten Bus. Übermorgen erscheint
auch noch ein Artikel im Tageblatt. Frau Hellerich will morgen noch ein
Interview mit uns machen. Nach dem Artikel werden wahrscheinlich noch einige
Anmeldungen kommen. Einen Bus bekommen wir bestimmt voll. Was meinst du,
Anneliese? Alleine aus dem Moor müssten doch schon 20 Personen mitkommen?“
„Ich weiß nur von meiner Mutter, dass
sie mitkommen will. Seit ihrer Hochzeitsreise nach Lüneburg und ein paar
Tagesausflügen mit den Landfrauen war sie nie los. Ach ja, vielleicht auch noch
Tante Paula, also Paula Heinsohn, wenn sie denn jemanden findet, der ihre
Viecher versorgt.“
Der Weg von der Gaststube zu den
Toiletten führt am Yachtzimmer vorbei. Wer, wie Viola direkt auf die Tür des
Yachtzimmers blickte, konnte eine interessante Beobachtung machen. Wer immer an
dieser Tür mit den zwei gläsernen Bullaugen im oberen Viertel vorüber ging,
stand einmal auf dem Hin- und einmal auf dem Rückweg für eine kurze Sekunde auf
Zehenspitze, um bei dem hastigen Blick in das Zimmer irgendetwas zu entdecken,
was in der Gaststube berichtenswert sein könnte.
Nachdem keine Fragen mehr aus der Runde kamen, schloss
Lukas die Versammlung. Zielstrebig
bewegten sich die Majestäten in den Gastraum. Als Viola, Lukas, Tina, Kalle und Jonas in die
Gaststube kamen, hatten sich die Majestäten schon ihren „Fanclubs“ zugeordnet.
Niemand war alleine hier. Sogar die Wachtelkönigin fand noch einen Platz am
Tisch von Ubbo Hartwig, Verona Eggermann und, man glaubt es kaum nach der
Vorgeschichte, Annegret Hölscher. Ein Stuhl an ihrem Tisch war frei geblieben.
Als wüssten alle in der Gaststube, dass der Stuhl einzig der Wachtelkönigin
vorbehalten sei, hat sich niemand zu den Freunden (später vielleicht auch
einmal „Freundinnen“ ) des Wachtelkönigs und der Wachtelkönigin gesetzt. Vielleicht war es aber auch der
Katenmuff aus den Klamotten von Veronika Eggermann. Warum hat sie sich wohl
noch nicht umbenannt in „Eggerfrau“, wenn ihr das doch so wichtig ist mit der
Gleichberechtigung der Geschlechter? Oder
war es vielleicht das starke Aroma des Pfefferminztees aus Marokko.
Garantiert aus biologischem Anbau.
Gerade mit letzterem habe ich so
meine Zweifel. Ich war doch gerade in Marokko. Pfefferminztee aus kleinen
Blechkannen und getrunken aus kleinen Gläsern habe ich gesehen. Von
Pfefferminztee aus biologischem Anbau
war nichts zu sehen.
Nikki Schütt drängt sich durch die
Reihen und hängt sich bei Kohl Hiesels Tochter ein, obwohl sie sich genau genommen erst zwei Mal richtig begegnet
sind.
„Ich beneide euch ja so, dass ihr diese Partytour macht,
Viola.“
„Lukas, komm mal eben, Nikki würde
gerne mit auf Partytour. Bist du sehr böse, wenn ich für sie nach Berlin
fahre?“
„He, he, he, soo war das doch nicht
gemeint.“
Viola befreite sich von Nikki.
„Dann sag das doch nicht!“
„Fuck you!“ Nikki steuert wütend auf
ihren Freund zu, packt ihn am Arm und zerrt ihn zum Ausgang.
„Hast du das gehört, Lukas? Die
Königin hat „fuck you“ gesagt. Ts,ts,
ts. Ich weiß nicht, ob das für unser geliebtes
Kolbinger Land die richtige Vertretung in Berlin ist. Lukas, ich glaube,
dass wir unbedingt nach dem Rechten sehen müssen - in Berlin!“
„Sie haben ja so Recht, eure
Majestät, wir müssen durch unsere wachsame Anwesenheit auf der „Grünen Woche“ der weiteren Verrohung
des Hochadels mit allen, ich betone, mit allen Mitteln entgegenwirken.“
Warum sind die beiden eigentlich noch
kein Paar, wo sie sich doch so gut verstehen?
„Habt ihr vielleicht Nikki irgendwo
gesehen? Ich suche sie und eben war sie doch noch bei dir, Viola.“
Friederike, die sich gerade etwas mit
Nikki angefreundet hatte, stellte sich auf Zehenspitzen, um vielleicht irgendwo
etwas von Nikki zu entdecken.
„Ja, sie war eben noch hier und hat
den Wiederholungstest zum Thema Zweisprachigkeit bestanden. Es ging ihr wohl
nicht so gut. „Fuck you“ hat sie fehlerfrei rausgezischt, hat sich ihren
Johannes geschnappt und feiert nun wohl zu Hause mit ihm.“
Friederike blickt in die grinsenden Gesichter von Viola
und Lukas.
„Muss ich das nun verstehen?“
„Musst nicht“, antwortet Lukas,
„aber, wenn du es verstehen willst, frag sie doch demnächst selbst einmal.“
Die beiden gingen lachend rüber zu
Jonas, Tina und Kalle, um ihnen von ihren jüngsten Kontakten zum Kolbinger
Hochadel zu berichten. Friederike fühlte
sich nun endgültig nicht mehr wohl auf dieser Veranstaltung und verließ den
Fährkrug. Ein bisschen unglücklich war sie schon, dass sie nicht zu den
Verlierern gehörte.
„Wie das wohl wird in Berlin“, ging
es ihr durch den Kopf, „mit der Melzer, Detje und Ehlers und Nikki. Den ganzen
Tag lächeln und Prospekte verteilen? Jetzt könnte ich vielleicht noch abdanken.
Das sagt man doch wohl? Abdanken, ja, und Samantha Meyer fährt für mich. Die
lächelt doch so lange bis ihr der kleine Zaunkönig, Pardon, die Zaunkönigin aus
der Krone fällt.“
Es war ein guter Abend im Fährkrug,
für die meisten jedenfalls und ganz besonders für Marcel Hartwich und seine
Frau Vera. Gut auch für die 16 Hoheiten und deren Gefolge. Wie damals schon
beim Wiener Kongress zeigte sich auch
hier im Fährkrug wieder, dass Feiern den
besten Nährboden zum Spinnen diplomatischer Netzwerke bieten. Netzwerke, die maßgeblichen Einfluss auf die
zukünftige Entwicklung der Dinge in Kolbingen nehmen sollten. Hier, bei Marcel
und Vera in der Gaststube spielten sich zum Teil sehr ergreifende Szenen ab.
Heino Buhrfeindt, der bis dato noch
keinen blassen Schimmer hatte, wem er die Krakauer in seiner Trompete zu
verdanken hatte, stand fröhlich mit Paul von Thun zusammen. Gerade hatten sie
Brüderschaft getrunken und von Thun, vor diesem Abend noch Hauptverdächtiger in
der Wurstaffäre, war nun Freund. Nicht nur, dass hier eine drohende Feindschaft
in Freundschaft mutierte. Diese Brüderschaft hatte eine nahezu historische
Dimension. Nicht ganz so, wie der Wiener Kongress, aber ein weiterer Schritt in
Richtung Überwindung der historischen Gräben zwischen den, wie Carl Christian
Wüst (MMB) immer sagt, Marschmellos und Moorpuggen.
Hier ging es so fröhlich und
ungezwungen zu. Da könnte sich der europäische Hochadel durchaus etwas
abgucken. Bald schon spielten weder die Familienabstammung, Adel, Moor, Marsch
oder Herkunftsort eine Rolle. So etwas hat es zuvor in den Deutschen Landen nur
einmal gegeben, damals, als es mit vereinten Kräften gelang, sich vom Joch des
Korsen Napoleon Bonaparte zu befreien.
In Friedeberg waren sie auch damals,
die Franzmänner. Sollen immer am Hafen und am Kornspeicher rumgehangen haben.
Weiß man eigentlich etwas über die Familien Pennecote und Duval? Hört sich doch ein bisschen
französisch an? Oder? Was haben Napoleons Soldaten in ihrer Freizeit gemacht?
Wenn sie sich mal gerade nicht um die Kontinentalsperre kümmern mussten?
Die Radlerkönigin plauscht mit der
Bienenkönigin und die Hannoveraner Königin amüsiert sich köstlich mit dem
Gefolge der Weißkohlkönigin. Natalie, die Königin der Nacht hatte ihr
„Ündschen“ auf der Tresen Ecke abgestellt
und betrieb, obwohl sie immer wieder betonte, nicht dienstlich hier zu
sein, kräftig Eigenwerbung in Harry Röndigs Freundeskreis. Besonders die
Zielgruppe der ledigen Männer bis 35 Jahre weckte ihr Interesse. Jedes kleine
Kompliment, jedes Bruderschaftsküsschen mit anschließendem „Roten“, „Bomi mit
Pflaume“ oder später für sie nur noch „Sangrita“ stellte eine
Zukunftsinvestition von nicht zu unterschätzendem Wert dar.
Die größte Freude widerfuhr dem
Freundeskreis des Wachtelkönigs (und später auch seiner Frau, vielleicht nach
der Herbstversammlung). Als die Wachtelkönigin Beate von Lindern einmal dahin
musste, wohin auch die Kaiserin von China zu Fuß hingeht, setzte sich
Ackerbauer und Windmühlenfreund Siegfried von Borstel aus Hohedeich auf den
freien Platz.
„Das kann ja heiter werden“, dachte
Veronika Eggermann und rührte mechanisch in ihrem zuckerfreien Pfefferminztee.
Und Recht sollte sie behalten, völlig
unerwartet. Als die Wachtelkönigin vom WC zurückkam, stießen die Freunde des
Wachtelkönigs gerade mit Siegfried an. Ubbo Hartwigs Stimme gab das Kommando:
„Ein dreifaches Kräck, kräck! Kräck,
kräck! Kräck, kräck!“
Veronika Eggermann entzog sich diesem
Zeremoniell und rührte und rührte. Es hatte schon ein wenig von Hospitalismus.
Die Wachtelkönigin fand freundliche
Aufnahme bei der Stutenkönigin ohne Deutschkenntnisse. Nein, die
Deutschkenntnisse von Natascha waren wirklich nicht sehr gut.
Ukrainisch soll sie ja sehr gut
können. Sagen sie zumindest. Igor, ihr Bruder übersetzt. Einmal hat Natascha
auch ohne Dolmetscher verstanden, als Beate („kannst Beate zu mir sagen“ hatten
sie schon hinter sich) sagte:
„Klitschko gutt!“
Natalia strahlte und, einen rechten
Haken und eine gestreckte Linke ausführend,
antwortete sie in fließendem Deutsch:
„Ja, Klitschko gutt! Boxchampion gutt!“
In diesem Moment ein weiteres
Ereignis von historischer Dimension. Siegfried von Borstel, der locker 280 ha
unter den Pflug nimmt, steht mit erhobenem Glas am Tisch der Umweltschützer
und bringt ohne Proteste seiner
Berufskollegen und seiner Diskussionspartner, oh, pardon Frau Eggermann, und
seiner Diskussionspartnerinnen einen Toast aus, den die umstehenden so schnell
nicht vergessen werden:
„Liebe Freunde des Wachtelkönigs, ich
sehe den Tag kommen, an dem ein Wachtelkönig mit seiner Wachtelkönigin im gemeinsamen Nest unter den Rotorblättern
einer Windkraftanlage Ei um Ei ausbrütet. Irgendwann wird nämlich auch in den
Amtsstuben in Brüssel oder Stade angekommen sein, dass der Wachtelkönig …“
„Und
die Wachtelkönigin!“ Einwurf von Veronika Eggermann.
„ja, sagte ich doch, also, dass die
beiden Tiefflieger sind und niemals mit den Rotorblättern in Konflikt geraten
werden. Auf eine gemeinsame Zukunft von Ackerbau, Windkraft und Wachtelkönig!“
„Und Wachtelkönigin!“
„Ja, sagte ich doch eben. Prost oder
Ubbo, meinetwegen auch ein dreifach Kräck, kräck! Kräck, kräck! Kräck, kräck!“
Die Bilger freuten sich. Besser hätte
der Abend für ihre Pläne nicht verlaufen können. Jonas ärgerte sich ein wenig,
dass er keine Anmeldeformulare für die Reise in den Harz dabei hatte.
„Ich weiß nicht, wie oft ich heute
schon gesagt habe, dass man sich noch nicht anmelden kann. Als ich das Samantha
Meyer auch sagte, beugte sie sich runter zu mir, gab mir ein Küsschen auf die
Stirn und sagte: „Macht nix, mein Süßer, Königinnen fahren doch wieso alle
mit.“ Ich fand sie echt cool, heute, die Zaunkönigin.“
Die anderen vier im Auto verdrehten
die Augen. Kalle:
„Jonas, hör auf, die hat´n Brett vorm
Kopp!“
Die nächsten 14 Tage einschließlich
der Weihnachtstage waren von hektischen
Aktivitäten gezeichnet. Zeitweilig glich die Dachwohnung der Geerdts
Jungen einem Büro. Nachbarn konnten den
Eindruck gewinnen, dass Viola, Kalle und Tina inzwischen bei den Geerdts zur
Untermiete wohnen würden. In einer Ecke lagen die Materialien für die
Harzreise, die nie stattfinden sollte. In der anderen Zimmerecke sammelten sich
die Unterlagen für Berlin. Auf den Ordnern stand HARZ I, HARZ
II, HARZ III und HARTZ IV. HARTZ IV hat Lukas beschriftet.
Seine Rechtschreibung ist auch an der Berufsschule nicht besser geworden. Die
Beschriftung der Berlin Ordner mit HARZ I – HARTZ IV war eine reine
Vorsichtsmaßnahme, falls Mutter Geerdts sich einmal in die Zimmer der Jungen
verirren sollte. Meist bleibt sie aber in letzter Zeit im ersten Stock stehen
und ruft hoch:
„Kann mal einer kommen und das
Tablett abnehmen.“
Meistens ging Tina. Mutter Geerdts
freute sich immer so, wenn Tina sagte:
„Oh, schon wieder die leckeren
Apfelkringel, Frau Geerdts. Sie müssen mir unbedingt noch verraten, wie sie die
immer so hinbekommen.“
Das Schöne war, dass Tina sich in den
Tagen an die Apfelkringel gewöhnt hatte und sie wirklich mochte. Das spürt eine
Mutter, wenn ihr ein echtes Lob entgegengebracht wird.
„Ja, die Tina ist ´ne ganze Nette“,
sagte sie schon manches Mal beim Frühstück zu den Jungen. Bei denen kam es dann
immer so an, als hätte ihre Mutter gefragt:
„Die Tina, wär das nicht eine für
einen von euch?“ Oder besser noch: „Schade, dass die Tina keine
Zwillingsschwester hat!“
Inzwischen waren zwei Artikel
erschienen, die das Reisevorhaben beschrieben. Suse Hellerich hatte sogar noch
kurz vor der Gemeinderatssitzung in Bilge einen kleinen Abstecher zu den
Geerdts gemacht. Es sei doch schöner, wenn man sich gegenübersäße als wenn es
nur per Telefon laufen würde. Das ganze Team war versammelt. Der Beginn des
Pressegespräches verzögerte sich dann allerdings etwas, weil Mutter Geerdts das
Tageblatt an der Haustür abfing und gleich um die Ecke auf die neuen
Stubenmöbel lotste. Da standen auch schon Kuchenteller, zwei Tassen und eine
Thermoskanne mit Kaffee. Sie war sehr aufgeregt. Mittags am Bäckerwagen konnte sie es nicht
für sich behalten. Zu ihrer Nachbarin gewandt fragte sie möglichst cool:
„Was soll ich denn der Zeitung auf
den Tisch stellen, Herta, etwas mit Sahne oder eher einen trockenen Kuchen?“
„Wieso Zeitung? Hast du die Zeitung
bei dir?“
„Ich sag´s doch, Frau Hellerich, du
weißt doch, die mit dem Lockenkopf, die auch über den Kindergarten geschrieben
hat, die kommt nach!!! uns, wegen der
Harzfahrt. Kannst sie ja auch nicht einfach so gehen lassen, kommt ja ganz von
Stade raus zu uns.“
„Fällt mir nu auch grad nichts ein,
was die von´ne Zeitungs nachmittags so essen. Weest wat? Dat Beste is wohl, du
nimmst een mit Klackemaschü[6]
un een drööget.“
So hat Frau Geerdts es dann auch
gemacht. Wofür Nachbarn doch oftmals gut sind.
Suse Hellerich erfasste mit einem
Blick über den Stubentisch, dass ihr Zeitmanagement gehörig in Unordnung
geraten würde, wenn sie sich auf dem Polstersofa niederlassen würde. Zwei
Tassen? In der Gruppe sind doch fünf
Jungen und Mädchen.
„Das ist sehr nett gemeint Frau
Geerdts, ich komme gerade vom Mittagstisch und habe nicht viel Zeit fürs
Interview. Wo finde ich denn Ihre Jungen und deren Freunde?“
„Nun setzen Sie sich man schon hin.
Zeit für ´ne Tasse Kaffee wird ja wohl noch sein. Ich kann Ihnen ja schon ein
paar Fragen beim Kaffeetrinken beantworten.“
Suse Hellerich erlebt diese Form der
Gastfreundschaft in Nordkolbinger Familien häufiger. Der Besuch der Zeitung
- auch typisch, sie ist dann nicht mehr
Suse Hellerich, sie ist „die Zeitung“ oder „das Tageblatt“ – kann nur noch durch
das Fernsehen oder den Besuch von Helmut Schmidt im Bilger Gasthof „Zwei
Eichen“ getoppt werden.
Die Rettung kündigt sich durch rasant
schnell näher kommendes Treppengetrappel. Lukas hatte den Dienstwagen des
Tageblattes vor der Haustür gesehen, als er nach dem Türklingeln einen Blick
aus dem Fenster auf den Hof warf. Als die Redakteurin dann aber nicht unter dem
Dach erschien, überfiel ihn eine Ahnung, die der Wahrheit sehr nahe kam.
„Guten Tag, Frau Hellerich, kommen
Sie mit, wir sind oben. Ich bin übrigens Lukas.“
„Vielleicht ein anderes Mal, Frau
Geerdts. Ich gehe dann mal mit hoch.“
In ihrem Bericht hat sie noch einmal
sehr ausführlich über die Motive der jungen Leute geschrieben. Als Zeugin der
doch etwas fragwürdigen Majestäten Wahl am Tag der Deutschen Einheit konnte sie
nur allzu gut nachvollziehen, dass diese verwundeten Seelen sich ein Ventil
schaffen mussten. Auch das Engagement dieser fünf jungen Menschen aus dem
Nordkreis fand eine angemessene
Würdigung. Zuletzt fehlte auch nicht der Hinweis, dass man sich online anmelden
könne über die Reiseseite im Netz mit
der Adresse www.queenstrip.de
Das war Jonas Idee, mit der Seite im
Netz. Frau Geerdts fand am schönsten an dem Artikel, dass ihre beiden Jungen
auf dem Foto so gut zu sehen waren.
Man kann es nie allen Menschen Recht machen. Harry Röndigs hat in der Zeitung
„Queenstrip“ gelesen. In Erwartung eines
erotischen Filmchens mit Königinnen, die sich ihrer Kleidung entledigen, gab er
mehrfach die genannte Internetadresse ein. Immer wieder landete er auf den
Seiten mit Anmeldeformularen und Reiseinformationen der Königinnenfahrt nach
Bad Harzburg. Als er die angegebene Kontaktnummer anrief, um zu fragen, was er
denn immer verkehrt mache, hatte er Jonas Geerdts aus Bilge am Apparat.
„Röndigs hier, Harry Röndigs,
Dröbermmoor. Mach ich hier etwas verkehrt oder habt ihr da etwas vergessen auf
die Seite zu bringen? Finde ich ja nicht gut, wenn etwas nicht in der Packung
drin ist, was draußen drauf steht.“
„Mach mal halblang. Weiß überhaupt
nicht, wovon du sprichst. Du meinst unsere Seite? Ist doch alles drauf, was du
brauchst zur Info und Anmeldung?! Kannst dich aber auch über Telefon anmelden,
wenn du das per Internet nicht raffst.“
„Hör mal, ich will mich nicht
anmelden, ich suche jetzt schon seit 20 Minuten den „Queenstrip“, den man unter
der Internetseite vermuten muss. Nix da! Kein Bild von einer Queen, schon gar nicht
von einer Queen, die stript! Nur Harzbilder.“
Jonas verstand plötzlich den
Lesefehler von Harry. Nein, da könne Harry lange suchen. Er habe lediglich das
Wort Königinnenausflug ins Englische übersetzt und dabei ist dieses Wort
herausgekommen. Zugegeben, wenn man anders denkt, kann man das Wort auch
anders lesen und verstehen.
„Verstehst du nun? Da findest du
keine nackige Königin und da sollte auch nie eine sein.“
„Ach so, Tschüß dann!“
„Type“, dachte Jonas, „aber komisch,
dass noch niemand anderes über die zweideutige Internetadresse gestolpert ist.
Und, typisch Moorer. Erst großes Gemecker und dann nur „Ach so!“. Keine
Entschuldigung. Einfach nur „Ach so!“
Riesenproblem!
Anmeldungen für die Reise erreichten
das Planungsteam per e-mail, online – diesen Weg wählten eher die jüngeren
Reiseteilnehmerinnen –oder auch per Post. Manchmal fanden Kalle, Tina, Viola und die Zwillinge
auch nur einen ausgefüllten Meldezettel bei sich im Briefkasten. Der Gipfel war ein kleiner gelber Zettel, auf
dem in ungelenker Handschrift stand:
„Ich komm auch mit! Otto“
Das konnte nur Otto Suhr sein, der
häufiger als Aushilfe bei Kohl –Hiesel arbeitet. Den Fall hat dann Viola weiter
bearbeitet.
Inzwischen haben sich schon 87 Personen angemeldet. Zwei Busse wurden
fest bei Primo Reisen in der Wingst gebucht. Eine Option für einen dritten Bus
konnten sie nicht geben. Deshalb hat Kalle schon einmal Kontakt mit der Firma Grell in Mittelstennahe
aufgenommen.
„Kein Problem“, war die Antwort,
„wenn ihr man zwei Tage vorher Bescheid sagt, damit ich einen Fahrer habe.
Eventuell müsst ihr aber einen von den alten Schulbussen nehmen. Geht das in
Ordnung? Ihr kriegt ihn auch günstiger.“
Von den Dingern kann Viola ein Lied
singen. Ausrangierte Linienbusse! Jeden Tag macht sie darin die Reise von Bilge
über die Dörfer nach Hemmoor und wieder zurück. Vielleicht könnte man den
Spielmannszug der Moorer, der sich komplett angemeldet hatte, in dem Schulbus
unterbringen. Denen ist es meistens ohnehin bald egal, wo sie sitzen.
Hauptsache es herrscht gute Stimmung und dafür konnten sie bestens selber
sorgen.
Nein, das war noch nicht das
Riesenproblem. Riesenprobleme sind
solche, für die es keine Lösung zu geben scheint. Und so eines hatten die
wackeren Bilger! Viola, verantwortlich für die Quartiere, hatte erst 60
Übernachtungsplätze für die Zeit ihres Berlinaufenthaltes. Aktuell fehlten noch 27 Plätze und die
Anmeldefrist war noch nicht abgelaufen. Gut, dass es im Hause Geerdts eine
Flatrate für Festnetzgespräche gab. Anderenfalls hätte Vater Geerdts bestimmt noch
einmal extra nach Schanghai gemusst, um die Telefonrechnung begleichen zu
können.
Und dann hat das Western Inn Hotel
eine Mail geschickt mit der Bitte, die Übernachtungen mit 40% anzuzahlen. Sarah
Bauknecht, die sie tatsächlich zum Einsammeln der Fahrtkosten gewonnen
hatten, hatte bei weitem noch nicht von
all denen, die sich angemeldet hatten, Geld auf dem Konto. Ein bisschen wunderte sie sich schon, dass
man ihr nicht zutraute, den Abschlag an das Hotel in Bad Harzburg zu zahlen.
Vielleicht müsste man sie doch bald
einmal einweihen. Bislang hat die Tarnung noch wunderbar geklappt. Ganz
Nordkolbingen geht von einer Reise in
den Harz aus.
Ein kleines Problem dürfte es noch
mit Bilges Gemeindepfarrer Henry Krohn geben. Er begleitet gerne Aktionen
seiner Jungen und Mädel von der Landjugend. Er hat sie auch immer zum Ende der
Konfirmandenzeit ermuntert, sich in der LJ zu engagieren. Nun ließen sich
wunderbar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: 1. An der Reise teilnehmen
und 2. sich mit seinem Amtsbruder und Studienfreund Dirk Olschewski in Bad
Harzburg treffen. Zuletzt hatten sie sich vor nun schon wieder 11 Jahren
während eines Seminares mit dem
weitgefassten Titel „Gottes Wort in aller Ohren“ im Kloster Loccum getroffen. Er durfte sogar bei Pfarrer
Olschewski im Haus wohnen und würde so endlich auch einmal dessen Frau und die
fünf Kinder kennenlernen.
Tina und Viola, die schon während der
Konfirmandenzeit ein besonders herzliches Verhältnis zu ihrem Pastor hatten,
erhielten von der Gruppe den Auftrag, Henry Krohn nach Abfahrt des Busses, in
etwa in Harburg, davon zu überzeugen, dass es in Berlin doch auch ganz schön
sei, und er dort bestimmt noch per Handy ein Quartier bei einem anderen
Amtsbruder finden würde. Wenn nicht, würde man schon noch ein Plätzchen für ihn
finden. Schließlich hat er ja auf diversen Freizeiten mit der kirchlichen Jugend immer wieder
gezeigt, dass er sogar noch viel besser mit einfachen Unterkünften leben kann,
als manch ein verwöhntes Nordkolbinger Kind.
Anfang des Jahres, zwei Wochen vor
Reisebeginn, entspannte sich die Lage in der Reisezentrale. Viola hatte fast
das komplette Jugendgästehaus Wedding anmieten können. Es ist in keinem guten
Zustand, Schulen fahren in der Regel nur einmal dorthin, aber es ist günstig
und liegt nicht weit vom Messegelände. Den Tipp, dort doch einmal zu fragen,
hatte sie auf der Internetseite der Berlin Touristik unter der Rubrik „Günstige
Übernachtungen“ gefunden. Der Januar ist nicht Reisezeit für Schulklassen. Und
wenn doch, dann gibt es einfach schönere Quartiere und näher an der Innenstadt
gelegen. Das Haus war fast leer und die Leitung hatte auch kein Problem damit,
erst sehr kurzfristig genaue Zahlen zu
bekommen. Die Teilnehmerzahl war inzwischen auf 135 gestiegen. Der dritte Bus
musste zum Einsatz kommen!
„Wird höchst interessant, wie sich
bei der Zusammensetzung dieser Reisegruppe, Viererzimmer für das Gästehaus
finden werden“, ging es Viola durch den Kopf. Ein bisschen Angst vor der
eigenen Courage befiel sie schon manchmal. Am Neujahrstag hätte sie die
Anspannung fast nicht mehr ertragen. Wenn Papa Hiesel den Morgen nicht so
schlecht drauf gewesen wäre, hätte sie ihm wohl alles erzählt. Aber mag man einem Menschen, der sichtbar
unter der Altjahrsabend Feier litt, noch zusätzlich mit seinen Problemen
belasten?
So blieb das Geheimnis gewahrt.
Inzwischen freuten sich 130 Nordkolbinger auf
die Reise nach Bad Harzburg und 5 auf die Reise nach Berlin. Und das Gute
daran: Egal, wer sich über was freut, spätestens ab der Ostumgehung von Hamburg
freuen sich dann hoffentlich 135 Nordkolbinger auf Berlin.
Hoffentlich!
Was geschieht aber, wenn die Stimmung
kippt?
Paula Heinsohn hat seit Tagen schon
den Ausschnitt aus dem Tageblatt auf dem Küchentisch liegen. Er sieht schon so
aus, dass die Hellerich im ersten Moment behauptet hätte, der Artikel könne auf
gar keinen Fall aus dem Tageblatt sein, weil die gar nicht auf Hochglanz
drucken.
Das ist natürlich übertrieben!
Aber, was immer sich in Paulas Küche
befindet, es verändert sein Aussehen von Tag zu Tag. Flüssiges wird fest,
stehen gebliebene Milch zum Beispiel, feste Dinge werden flüssig. So zum
Beispiel die Butter, wenn die Sonne
durchs Küchenfenster drauf scheint, oder die Familienpackung Möwenpick Eis, die
Paula gekauft hatte, weil sie unterm Strich ja deutlich billiger war, als die
kleinen Abpackungen.
Das leuchtet ein! Nur bringt der
Vorteil rein gar nichts, wenn man nicht einmal ein Gefrierfach im Kühlschrank
hat.
Auch der Zeitungsartikel hat sich
verändert; aber er ließ sich noch ausgezeichnet lesen.
Sie würde ja zu gerne mit Anneliese
und Fine in den Harz reisen. Vielleicht
die letzte Möglichkeit in ihrem Leben doch noch die Berge zu sehen. Und mit
Fine und Anneliese zusammen braucht sie auch keine Angst zu haben. Drei Tage
vor Abfahrt hat sie sich entschieden.
Obama hätte laut ins Moor gerufen:
„Yes, I can!“ Bei Paula hörte sich der Ruf ins Moor etwas anders an: „Jo, ick
mook dat!“
So unterschiedlich wie Obama und
Paula in einigen Dingen auch sein mögen. Hier sind sie sich doch sehr ähnlich.
Nun, wo die Entscheidung gefallen
war, ging es Paula Heinsohn erheblich besser. Jetzt musste sie rüber zu Jan,
der wegen seines Viehs nicht mit konnte, und ihn fragen, ob er sich die drei
Tage um ihre Tiere kümmern würde.
Für Jan Riecken war es eine
Selbstverständlichkeit Nachbarschaftshilfe zu leisten.
„Dor mook di man keen Kopp öber,
Paula, dat kann ick wohl ook noch wuppen. Komm man rin, wi sit grod in´ne Kök
und schnackt öbern Harz. Dor weer jüst
güstern wat in Fernsehen von´ne Luchse in Harz.“
„Sünd de wohl fahrlig, Jan, de Luchse
meen ick?“
„Nich so lang du nich alleen in Wald
rümstromern deist.“
„Nee, dat har ick eegentlich ook nich
vör, Dach Fine und Anneliese. Ick föhr nu ook noch mit. Passt ji ´n beeten op
mi op?“
„Nu sett die erstmool dahl. Hest du
di denn ook anmeld?“
„Nee,
dat mött ick morn mooken. Mit´n Breew, oder wie hebt ji dat mookt?”
„Das wird wohl alles zu spät, Tante
Paula. Wenn das überhaupt noch klappt dann nur online.“
„Jao, dann mook ick dat online. Hebb
ick ook all leest in Dachblatt. Und wo geiht dat? Onnlein heb ick nochj nie
nich mookt. Is dat mit Telefon?“
„Nee, da brauchst du Internet, Tante
Paula.“
„Und wo schall ick dat so schnell her
kreegen? Wo gift dat, Internet. Hebb ick nich bi Penny seehn und ook nicht bien
EDEKA in Friedebarg.“
„Kann man so nicht kaufen. Das geht
über Telefon und du brauchst einen Computer dafür, Tante Paula.“
„Ach so, denn ward wohl nix mit´n
Harz. Viellicht ook beter so von wegen de Luchse.“
„Nu lot dien Kopp man nich so snell
bommeln. Anneliese, de kann Internet und online. Dormit bestellt se ook
jümmer uuse neegen Klamotten. Dor
schrifst du op´n Schirm, wat du hebben wullst, und twee oder dree Dooch loter
bringt die Olaf Tiemann schon de Sooken in´t Huus.“
„Weer jo viellicht ook mool wat för
mi. Oober erstmool nich. Anneliese, mien Deern, wull du mi wohl hölpen?“
„Null Problemo. Gib mir eben noch
dein Geburtsdatum. Ach so, wie machen wir das mit der Bezahlung?“
„Ach, dat kann dien Internet wohl
noch nich, mool eben lütt beten Göld von
Dröbermmoor no Bilge joogen. Geiht wohl nich, oder?“
„Das geht, aber nur mit
online-banking.“
„Jo, Anneliese, dann mit
onnleinbennking.“
„Nee“, schaltet Fine sich ein, „dat
geiht nur mit Internet und wenn du mit de Spoorkass online banking afmookt
hest. Hest du oober nich, hest jo ook keen Computer.“
„Ach so. - Und keen Internet.“
„Ich schreibe einfach in das
Formular, dass du bar bezahlst.“
Und so geschah es! Anneliese hat
Paula online angemeldet, Paula hat zugesehen und immer nur den Kopf
geschüttelt.
„Wi schall dat denn klappen. Oober,
Annelies, wenn dat bi di klappt het, dann ward dat ook bi mi klappen. Ick mark
schon, wenn wi ut´n Harz trüch sind und de Luchse uns nich opfreeten hebt, möt
ick mie wohl doch mool´n , Computer oder Inline köpen.“
„Woför dat denn, Paula?“
„Na, sühst doch, taun anmelln, wenn
ick noch mool no´n Harz hin will, oder wenn Olaf Tiemann mie neege Klamotten
bringen schall.“
„Ach so!“
Das ist Fine so rausgerutscht. Sie
hat diese beiden Wörtchen in letzter Zeit zu oft gehört.
22. Januar, einen Tag vor der Abfahrt,
die Grüne Woche“ ist bereits von der Landwirtschaftsministerin
eröffnet worden. Konnte man im Fernsehen sehen. Carl Christian Wüst glaubte
sogar einmal ganz kurz Friederike im Bild gesehen zu haben. Vielleicht war sie
es doch nicht. Am nächsten Tag wollte er mit Nobbi und drei anderen MM- Leitern
in Fahrgemeinschaft nach Berlin. Dann könnte er sie ja fragen.
22. Januar, letzte Lagebesprechung
bei den Geerdtszwillingen. Lukas
übernimmt die Versammlungsleitung.
„Heute ist noch eine Anmeldung von Paula
Heinsohn gekommen. Mit ihr haben wir jetzt 146 Anmeldungen. Viola, kriegen wir
die noch unter?“
Viola nickt.
„Gehen wir noch einmal die
Haltepunkte durch. Hier sind die Listen der Mitreisenden und wo sie
zusteigen. Ich fahre mit dem Bus von
Bilge über Hohedeich und dann nehmen wir noch die 8 Züchter und Hella Rossmann
in Friedeberg auf. Dann ist unser Bus voll. Viola und Jonas, ihr begleitet den
Bus von Eriksheil über Kajedeich, Dröbermmoor
und dann treffen wir uns auf dem Penny Parkplatz in Kolbingerhafen.
Kalle und Tina, ihr begleitet Bus 3 von der Kirche Eriksheil über Friedeberg
und kommt dann ebenfalls nach Stopps in Aantenwörden und zwei Mal Stader Straße
in Kolbingerhafen zum Penny Markt. Abfahrt dort gegen 9 Uhr.
So, quartiere sind alle da, die Bestätigungen
hat Viola. Ab Raststätte Hamburg Stillhorn geht in allen Bussen einer von uns
ans Mikro und sagt den Leuten, wo es lang geht, wenn sie es nicht schon gemerkt
haben bis dahin. Dann erste Pause auf dem Autohof Öjendorf vor der Abfahrt nach
Berlin. Hier können sich die von uns trennen, die nicht mit nach Berlin wollen.
Und dann ist da noch etwas. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn wir Henry Krohn
nichts vorher sagen. Viola und Tina, könntet ihr ihn vielleicht heute Abend
noch aufsuchen. Er muss ja zu Hause sein, weil er doch immer freitags um 18 Uhr die Seniorenandacht[7]
macht. Morgen Nachmittag beziehen wir
unsere Quartiere und fahren dann mit unseren Bussen nach Mitte. 22 Uhr wieder
zurück. Dann treffen wir uns mit den Königinnen und besprechen den Sonnabend,
unseren großen Auftritt. Noch etwas vergessen? Vergesst nicht eure Sachen, die
ihr morgen braucht. Viola, du hast noch etwas auf dem Zettel?“
Viola räuspert sich.
„Ich muss euch noch etwas sagen.
Heute Morgen wäre ich fast aus den Latschen gekippt. Da begrüßt mich Hannes,
unser Schulbusfahrer und sagt für alle in den nächsten Reihen, ob ich denn
morgen auch mit nach Berlin wolle. Er solle den Grell Bus fahren.“
„Und, was hast du gesagt?“
„Ich habe gelacht und gesagt, nun
fahren wir also auch schon nach Berlin. In Bilge haben einige gemeint es ginge
nach Timmendorfer Strand. Das kommt alles von Jonas und Lukas, die einige
Dumpfbacken veräppeln. Und die erzählen den Quatsch dann weiter. Ne Hannes, da
hat deine Chefin dich wohl verladen. Ich habe die Reise mitorganisiert und ich
weiß, dass du uns in den Harz bringst.
Und dann hat der kleine Schlichting aus der 5. Klasse, der immer bei den Großen
zuhört, gesagt: „Stimmt, meine Eltern fahren da auch mit.““
„Ist ja noch einmal gut gegangen. Auf
geht’s!“
Dreißig Minuten später klingelten
Tina und Viola an der Haustür von Pastor Henry Krohn, den sie übrigens seit der
gemeinsamen Israel Reise vor drei Jahren duzen dürfen. Henry Krohn freute sich
über den Überraschungsbesuch der Mädchen und lud sie gleich auf eine Tasse Tee
ein. Gut, dass seine Frau heute nicht im Hause war. So war die Situation schon
heikel genug. Während der Pastor noch zwei Tassen aus dem Schrank organisierte
begann er bereits die Konversation.
„Was verschafft mir die Ehre eures
Besuches? Hat es etwas mit unserer Fahrt morgen zu tun? Wenn ihr am Sonntag
noch eine kleine Morgenandacht in das Programm einbauen wollt, habe ich damit
kein Problem.“
So ist er, der Gemeindepastor von
Bilge. Dann bemerkte er aber an den Gesichtern der Mädchen, dass da irgendwo
bei ihnen der Schuh drückte.
„Ein ernstes Problem?“
„Ja, schon“, kam es fast zeitgleich
von beiden Mädchen.
Und dann erzählten sie Henry, was sie
bedrückte. Der Pastor schüttelte immerwährend sein weißes Haupt und glaubte
zeitweilig nicht richtig zu hören. Als Viola und Tina ihren Bericht
abgeschlossen hatten, platzte es aus dem sonst so beherrschten Gottesmann ungefiltert heraus:
„Sagt mal, spinnt ihr total, halb
Nordkolbingen wollt ihr verarschen? Und was soll ich dabei tun? Soll ich jetzt
schweigen? Du sollst nicht lügen spricht der Herr! Ganz abgesehen davon, dass
ich morgen eine Verabredung in Bad Harzburg bei meinem Amtsbruder habe. Soll
ich da nun hinfahren und ihr fahrt nach Berlin? Oder soll ich mit nach Berlin?
..“
„Ja, Henry, du sollst mit nach
Berlin, unbedingt! Wir sind ja nur hier, weil, weil wir ja von deiner
Verabredung in Bad Harzburg wissen.“
„Und wir glauben, dass du nur
deswegen mit wolltest, um deinen Freund zu treffen. Auf Berlin hast du doch
überhaupt keinen Bock, oder?“
„Ob ich Bock habe oder nicht ist doch
egal. Was habt ihr euch dabei nur gedacht? Und, alles gut durchorganisiert?
Busse, Quartiere? Alles klar? Finanzen stimmen?“
Henry Krohn wurde mit jeder Frage
jünger. Viola und Tina kannten diese
Anzeichen bei ihm aus anderen Situationen. Sollte er vielleicht doch mitkommen
wollen?
„Alles passt. Wir haben zweigleisig
geplant. Harz nur zum Schein. Für Berlin steht aber alles. Ich habe das alles
nach dem Planungsraster gemacht, das wir damals für die Irlandreise hatten.“
Henry Krohn begann sich über „seine“
Mädchen zu freuen.
„Sie haben doch ´was gelernt bei
mir“, dachte er während es in seinem Hirn bereits an Strategien für den
nächsten Tag arbeitete. Nach einer kleinen Pause in der er kopfnickend auf
seine zehn Fingerkuppen starrte, die sich nach keinem erkennbaren Muster
rhythmisch berührten, war er wieder da. Tina sagte später im Freundeskreis:
„Und was nun kam, war ein echter Henry Krohn.“
Der Pastor hob den Kopf und sah seinem
Besuch in die Augen.
„Ich bin dabei! Aber nur unter einer
Bedingung.“
„Welcher Bedingung? Raus damit!“
„Es bleibt so geheim wie eure
Berlinplanung, dass ich vorher von Berlin wusste. Ich werde mich erst einmal
ganz fürchterlich über euren Betrug im Bus auslassen, wenn ihr der
Reisegesellschaft die Wahrheit über das Reiseziel mitteilt, und
selbstverständlich meine sofortige Heimreise ankündigen. Ihr müsst dann mit
Engelszungen auf mich einreden und mir sogar eine Andacht in den Messehallen
versprechen. Das wird mich dann umstimmen und ich habe mich bis dahin verhalten,
wie man es von einem Diener Gottes erwartet. Natürlich kann ich meine Gemeinde
nicht im Stich lassen. Na, ja, ihr wisst schon. Das kriege ich hin und reden
ist ja mein Job.“
Tina, die Henry am nächsten saß,
sprang auf, nahm den Pastor in den Arm.
„Danke, danke, danke Henry, du bist
ja so etwas von cool. Ist er doch Viola?“
Henry Krohn genoss die Freude der
Mädchen, er genoss das Gefühl gemocht zu sein und es erfüllte ihn auch ein
wenig mit Stolz, was für patente junge Menschen aus seinen Konfirmanden
geworden waren.
„Vor vierzig Jahren wäre ich
vielleicht auch auf die Idee gekommen einen derart verrückten Plan umzusetzen“,
dachte er noch nachdem die Mädchen gegangen waren und er sich bereits wieder mit
der Vorbereitung der Seniorenandacht beschäftigte.
In den Abendstunden machte sich eine ungewohnte Geschäftigkeit in
vielen Nordkolbinger Häusern bemerkbar. 146 Taschen, Rollkoffer Hand- und
Brieftaschen mussten gepackt werden.
Paula Heinsohn hatte nur den
mittelgroßen braunen Pappkoffer mit den beiden Schnappschlössern, mit dem sie
einst vor gut vierzig Jahren von Kehdingbruch nach Dröbermmoor gekommen war um Hinrich
Heinsohn, den Arbeiter der Straßenmeisterei
mit Nebenerwerbslandwirtschaft zu ehelichen. Die Ehe war nur von kurzer
Dauer und glücklich. Für eine andere, also eine hier in Dröbermmoor ganz
normale Entwicklung, war sie einfach zu kurz. Nach nur wenigen Ehemonaten
trugen ihn seine Kollegen ins Haus. Schon etwas verrückt. Da arbeitet der Mann
im ganzen Landkreis und dann kommt er vor der eigenen Haustür zu Tode. Hätte er
den Unfall überlebt, hätte er wahrscheinlich bis zum heutigen Tag gegrübelt,
was er beim Fällen der alten Esche am Kanal hätte anders machen sollen.
„So einer war er“, ging es Paula
durch den Kopf während sie die verrosteten Schlösser versuchte mit zwei, drei
Tropfen Salatöl wieder etwas gängiger zu bekommen.
Geblieben ist ihr die Erinnerung an
einen liebenswerten und fleißigen jungen Mann und, nachdem Hinrichs Mutter
endlich einmal gestorben war, auch noch die kleine Landwirtschaft mit den 3ha
am Moorpatt.
Nur wenige Kilometer weiter in
Kajedeich war der Koffer bereits gepackt. Allerdings rang Schorsch Beckmann mit
sich, ob seine Tuba ihn in den Harz begleiten sollte oder nicht. Mehrmals hatte
er das Rieseninstrument neben seinen Koffer gestellt und dann doch wieder in
die Schlafstube gebracht. Letztendlich
blieb sie dort auch am nächsten Morgen stehen. Das Ding war einfach zu sperrig
und, das muss man einfach einmal sagen, auch zu wertvoll, um sie während der
langen Fahrt in einen ungeheizten Bus
Kofferraum zu verstauen.
Schorschi besann sich auf seine
Anfänge bei der Schützenmusik und kramte aus einer Kiste mit alten
Erinnerungsstücken seine Pikkoloflöte hervor, mit der einst seine Musikerkarriere in Dröbermmoor begonnen
hatte.
Und dann gab es noch einen besonders
pfiffigen Musiker, der sich den Abend vor der Reise ausdauernd mit seinem
Instrument befasste. Heino Buhrfeindt, der Trompeter. Wir erinnern uns, der mit
der Krakauer im Mundstück. Lange hatte
er gegrübelt, wie er eine widerliche Wiederholung wie die Wurstattacke
verhindern könnte. Auf dem Weg von der Arbeit hatte er die Lösung. Eine
Wurstsperre muss er einbauen, damit nicht wieder irgendein Spaßvogel die
Sauerei mit der Krakauer oder
irgendeiner anderen Wurst in einem unbeobachteten Moment wiederholt. Es war ja so einfach! Ein kleines
Restholzstückchen auf Rohrdurchmesser schnitzen und immer dann, wenn das
Instrument nicht benutzt wird, eben einbauen. Was sich zu diesem Zeitpunkt als
genial einfach zeigte, sollte sich später in Berlin als folgenschwere
Fehlkonstruktion erweisen.
Anneliese Rieken hatte alles gepackt,
als sie in der Dämmerung den folgenschweren Entschluss fasste noch einmal den
Moorpatt rauf und runter zu joggen. Das sagte sie zumindest.
„Jan, war da nicht eben ein Moped zu
hören?“
Fine Riecken ging ans Fenster,
schob die Gardine beiseite aber da, wo
sie hinsah, war kein Moped. Da war nur Moor.
Ihr Blick ging über den Küchentisch.
Jan musste drei Tage alleine zurechtkommen. Das hat es seit ihrer Hochzeit
nicht gegeben. Selbst als Anneliese auf die Welt kam, musste er nicht auf seine
Fine verzichten. Die Wehen setzten ein
und Jan führte Fine behutsam aus dem Haus, verfrachtete Fine und ihre Nottasche
in den uralten 190ger Diesel, ein zuverlässiges, anspruchsloses Auto, bis
heute. Keinen Piep gab der Anlasser. Jan ohnehin schon ganz fickerig wegen
Annelieses Geburtstag, haute verzweifelt mit den Fäusten aufs Lenkrad. Fine
behielt kühlen Kopf. Sie arbeitete sich aus dem Auto, griff ihre Tasche vom
Rücksitz und bewegtes ich zurück zum Haus.
„Warte, warte! Du sollst doch nichts
mehr tragen. Was soll das hier überhaupt werden?“
„Hausgeburt!“
Während Fine sich aufs Bett packte
holte Jan Paula von nebenan. Mit Babys hatte Paula keine Erfahrungen. Aber sie
hatte schon mancher Kuh beim Kalben zugesehen und auch manches Mal mit einem Strick um die Beine des Kalbes kräftig
nachgeholfen, wenn es sich noch nicht bereit zeigte den unumkehrbaren Schritt
auf den Globus zu tun. Einen Strick
hatte sie nicht dabei, als sie die Schlafstube betrat. Sicher hatte sie
gedacht, dass Jan schon schnell einen besorgen würde, wenn Andreas nicht so
wollte, wie die Natur es nun einmal vorgesehen hat. Andreas sollte Anneliese
heißen, wenn sie ein Junge geworden wäre. Jan hatte sich total auf Andreas
eingestellt. Gott sei Dank hatte Fine die Geburt eines Mädchens nicht ganz
ausgeschlossen und für sich beschlossen, dass Andreas Anneliese heißen sollte,
wenn er ein Mädchen würde. Wie aus seinem Andreas eine Anneliese wurde hat Jan
nicht mehr mitbekommen. Jan, für den Tiergeburten reinste Routine waren, kippte
aus den Puschen, als sich Annelieses Kopf nach einer äußerst schmerzhaften Presswehe
zeigte. Er kam erst wieder zu sich, als die beiden Frauen den Geburtsvorgang
für abgeschlossen erklärt hatten. Später
dachte er manchmal für sich, ob Anneliese nicht doch vielleicht Andreas
geworden wäre, wenn er ein bisschen besser aufgepasst hätte statt ohnmächtig zu
werden. Im nächsten Moment schaffte er
sich selbst, manchmal sogar im Selbstgespräch, Entlastung.
„So´n Quatsch, hätte doch auch nichts
geändert, wenn ich nicht eingeduselt
wäre. Wenn Anneliese vertauscht worden wäre, dann wäre die Lage natürlich ganz
anders, dann hätte er schon aufpassen können. Aber womit denn vertauschen? Weit
und breit keine andere Mutter und kein Baby.“
Ja, daran dachte Fine, als sie drei
Tagesrationen Pellkartoffeln, Zwiebeln, Speck und Eier auf dem Tisch sah. Als
Fine ihren Jan fragte, was er denn am ersten Tag allein zu Hause essen wollte,
sagte er :
„Ach Fine, Bratkantüffeln mit
Zibbeln, Speck un´n poor Spegel Eier.“
„Und wat schall ick di för den
tweeten Dach hinstellen?“
„Noch mool Bratkantüffeln mit Zibbeln, Speck un´n
poor Spegel Eier.“
„Is dat dien Ernst? Und an´n dritten
Dach?“
„Dor kannst mi eegentlich dat sülbe
hinstelln. Bratkantüffeln mit Zibbeln, Speck un´n poor Spegel Eier.“
„Oh Jan, ward di dat nich tau veel?“
„Kann ick di noch nich seggen, is jo
dat erste Mool, dat ick dree Doch achternanner Bratkantüffeln mit Zibbeln,
Speck un´n poor Spegel Eier eeten will.“
Ja, so ist er, ihr Jan. Also hatte
sie ihm drei Schüsseln mit den gleichen Zutaten gepackt und vor den Schüsseln klebten diese kleinen gelben Zettel auf denen Freitag, Sonnabend
oder Sonntag stand. Jan kam in die Küche und schaute über Fines Schulter auf
seine drei Tagesrationen und durchschaute Fines System ohne auch nur einmal
nachzufragen.
„Warst schon trech kommen und wenn
nich dann röpst du Paula.“
„Paula? De föhrt doch mit na´n Harz.“
„Stimmt ja, Jan, oober denn kannst
immer noch bi denn Dönerbäcker Bül in
Kolbingerhoben anröpen. De bringt di dann so´n Döner oder wat du sünst bestillt
hesst.“
Dann schlug die Haustür zum Hof auf.
Anneliese hinkte mit schmerzverzerrtem
Gesicht, gestützt von Enno in die Küche. Mit einem herzzerreißenden Aufstöhnen
ließ sie sich auf einen Stuhl gleiten.
„Ich bin über eine von diesen Scheiß
Birken Wurzeln auf dem Moorpatt gestolpert, dann schief aufgekommen und
umgeknickt. Oh Mann, das piert! Gut, dass Enno gerade zufällig vorbei kam.“
Wer glaubt denn schon an solche
Zufälle im Zeitalter von Internet und Handy?
Fine versorgte den Fuß mit einem Kühlkissen
und später einem Verband.
Enno musste nach Hause, was er als nicht allzu
schlimm empfand. Schließlich hat er ja Anneliese die nächsten drei Tage im Harz
von morgens bis abends, und, wenn alles nach Plan läuft, auch die Nächte über.
Der Fuß begann im Laufe der Nacht
unter dem Verband anzuschwellen. Ein unangenehmes Pochen im Fuß sorgte für längere Zeit ohne Schlaf. Dazu kam
die große Sorge, ob sie denn am nächsten Tag reisen könne.
Freitagmorgen, der Reisetag
Die Geerdts Zwillinge hatten sich
schon von ihrer Mutter verabschiedet, als sie noch einmal zurückgerufen wurden.
„Wartet, wartet, ich habe noch etwas
vergessen!“
Schnell verschwand sie noch einmal
ins Haus und kam gleich wieder zurück.
„Hier, Jonas, das sind Apfelkringel.
Die gibst du bitte Tina. Die mag die doch so gerne.“
Und hätte sie gesagt: "Ich mag
die doch so gerne (die Tina)", es hätte auch gestimmt.
Tina wurde von ihrem Bruder mit dem
Auto nach Eriksheil gefahren. Unterwegs sammelten sie Kalle ein, der mal wieder
viel zu leicht angezogen an der Bushaltestelle in Bilgerdorf stand und vor
Kälte bibberte. Irgendjemand hatte vergessen, ihm mitzuteilen, dass Winter ist.
Glücklicherweise stand der geheizte Bus schon an der Kirche. Die kleine Gruppe
Eriksheiler, unter ihnen Samantha Meyer und Zaun Meyer mit Frau, saßen
vollständig im Bus. Genau genommen übervollständig. Bei der Zählprobe hatte
Tina eine Person zu viel an Bord. Sie wusste schon seit zwei Tagen, dass
Samantha sich nicht angemeldet hatte. Tina und Viola wollten sie auflaufen
lassen. Tina verlas die Namen der angemeldeten Reise Teilnehmerinnen aus
Eriksheil. Käthe Süssmuth war der letzte Name. Tina hob den Kopf und fragte in
den Bus:
„Habe ich jetzt alle
aufgerufen?“
Durch einen flüchtigen Blick auf die
Zaunkönigin nahm sie deren Verunsicherung wahr.
„Ich, also du hast mich nicht
vorgelesen.“
„Du bist auch nicht auf der Liste,
hast du dich denn nicht angemeldet?“
„Nein, ich dachte weil ich Königin
bin und ..Das Geld habe ich aber mit.“
„Tut mir leid, musst wohl hier
bleiben.“
ZaunMeyer stand von seinem Sitz auf
und bekam schon wieder einen roten Kopf. Seine Frau versuchte ihn ganz sanft
wieder ins Polster zu ziehen.
„Lass das! Was soll denn der Mist?
Ich denke wir machen da eine Königinnen Party im Harz. Da können wir doch
Samantha nicht einfach nach Hause schicken. Samantha, bleibe einfach sitzen.“
„Was meinst du Kalle, soll ich noch
einmal mit Viola sprechen?“
Kalle nickt nur. Tina sucht ihr Smartphone, das die unangenehme
Eigenschaft besitzt immer gerade dann, wenn man es braucht, sich im
entlegensten Winkel ihrer Umhängetasche zu verstecken. Endlich gefunden und
aktiviert folgt eine bühnenreife Vorstellung.
„Ich bin´s. Hallo Viola, wir haben
hier ein kleines Problem, Samantha sitzt im Bus und sie hatte sich nicht
angemeldet. Aussteigen will sie auch nicht. Pause Hm,hm,hm Pause hm, hm Bis
nacher!“
Alle Blicke waren auf Tina gerichtet.
Sie steigerte die Spannung durch eine kleine Pause, räusperte sich einige Male.
„Viola hat keinen Schlafplatz,
müsstest dir mit jemandem das Bett teilen oder im Bus schlafen. Sie will noch
telefonieren. Da gibt es irgendwo 7 Kilometer von Bad Harzburg noch eine
Pension, die gestern noch zwei Zimmer frei hatte. Willst du?“
„Los, Mädel, das machst du“, kam es
von ZaunMeyer.
Samantha jagten Gedanken und Bilder
durch den Kopf. Sie wusste genau mit wem sie das Bett gerne teilen würde und mit wem auf gar keinen Fall. Sie wusste auch,
dass sie auf jeden Fall dabei sein wollte. Die Pensionsgeschichte mochte sie
überhaupt nicht. Vielleicht ZaunMeyer und seine Frau fragen? Nee, die dreht ab,
kann das ja jetzt schon nicht gut haben, dass uns eine wirklich rein
geschäftliche Beziehung verbindet. Es wird sich eine Lösung finden!
„Ich komme mit!“
Die Eriksheiler im Bus klatschten
Beifall. Sie gehörten ausschließlich zum Freundeskreis der Zaunkönigin.
Der Sohn von Diakon Minners sprach
mehr zu sich selbst, was viele dachten,
sich aber nicht zu sagen trauten.
„Kannst mit unter meine Decke.“
„Oh, ist lieb Michel, mal sehen, was
sich da im Harz sonst noch ergibt.“
Samantha hatte schnell wieder zu
ihrer bekannten Selbstsicherheit zurückgefunden.
„Viola, ich bin es noch einmal. Sie
kommt mit“, und zum Fahrer gewandt: „wir können!“
Bus 3 war auf dem Weg nach Berlin!
Als Fine, Anneliese und Paula mit
ihrem Gepäck auf der „Gummikarre“ zum Treff an Dürkes Tankstelle losschoben,
hatten sie schon einiges hinter sich.
Paulas Handtasche erwies sich
reichlich zu klein. Tempotaschentücher, Puderdose, Pillen, Brille,
Haustürschlüssel, Portemonnaie, Handschuhe und Mütze, Klopapier,
Personalausweis, 4711 Parfüme 300 cm³,
Vorratsflasche. Damals noch in der Drogerie in Friedeberg gekauft. Die Drogerie
ist schon lange weg. Paulas 4711 gibt es immer noch. Die Handtasche ging nicht
zu und auf dem Küchentisch lagen noch vier Butterbrotpakete, 16 hartgekochte
Eier, vier Fleischklopse zwei Bananen
und zwei große Elstar. Die Eier mussten weg, weil die schon ziemlich lange
lagen. Die Frikadellen standen noch vom Vortag in der Speisekammer. Paula lag
schon im Bett, als ich wieder die Luchse in den Kopf kamen. Die Großkatzen
ließen ihr keine Ruhe, bis sie die Idee mit den Klopsen hatte. Sie stand extra
noch einmal auf, um die Klopse auf den Küchentisch zu stellen. So würde sie sie
nicht vergessen. Eine Frikadelle würde sie immer in der Handtasche tragen. Für
die Luchse im Harz. Zum Ablenken. Als sie wieder unter der Decke lag, befiel
sie erneut Unruhe.
Was ist, wenn die Luchse nun gerade
durch den Frikadellen Geruch angelockt würden? Die riechen ja gut, die
Frikadellen. Sie beruhigte sich etwas bei der Idee doch immer alle vier Klopse
in der Handtasche mit sich zu führen. Genug, um einen oder zwei Luchse so lange
abzulenken, bis sie sich in Sicherheit gebracht hätte.
In dieser Nacht vor der Reise in die
Berge hatte Paula einen Traum, den sie Fine und Anneliese und einer anderen,
die sie gar nicht kannte, später zwischen Stade und Buxtehude erzählte:
„Ick
wer in´n Wald, ganz alleen, und dann keem mie dor´n Luchs op´n schmoolen
Patt entgegen. Ick wull woll wechloopen, oober dat güng nich. Dat wer so, as
wenn ick fastbacken wür. Dat is mien End har ick dacht. Und dann kummt dat
Diert jüst so as´n grooten Kooter, schnurrt
und riebt sick dat Fell an miene Been. Dat weer so wat vun seut.
Plötzlich kunn ick mie weller rögen und ick kraul em daat Fell. He schnurrt und
schnurrt. Dor fallt mi de Luchsfrikadellen in miene Handtasch in. De Luchs har
all miene Klopse opfreeten un keek mie an, as wull he seggen: Giff mie mehr,
giff mie mehr davon. Ick sech tau em: Nix mehr dor, mien seute Katt. Dor faucht
dat Ös und bit in miene Han´n. Op´n Schlach weer ick hellwach, Klock twee in´ne
Nacht, Sweet op de Stirn und möt erstmool no Tante Meier. Op´n Wech trüch bin
ick dann in´ne Köök un heb nokeken, ob de Luchs miene Frikadellen von Disch
holt hett. Hett he oober nich. Nu hebb ick se noch för de Luchse in Haarz.“
Für das Platzproblem fand Paula keine schöne aber dafür praktische
Lösung. Sie nahm die Jutetasche mit dem langen Umhänge Gurt, die sie immer zum
Bohnen pflücken benutzte. Die Tasche hätte eigentlich noch einmal in die Wäsche
gemusst. Dafür reichte die Zeit aber nicht mehr. Nachdem Paula alles in der
Umhängetasche verstaut hatte, was mit musste, Handtasche und Proviant,
schnappte sie ihren braunen Pappkoffer, schloss die Haustür ab und begab sich
rüber zu Rieckens.
Anneliese von Dröbermmoor hatte nach dem
Wecken kaum stehen können. Wenn ihr dicker Fuß den Boden auch nur leicht
berührte, schoss der Schmerz durch den Unterschenkel hoch. Jan Rieken guckte
sich seine Tochter an und murmelte:
„Dat ward nix.“
Anneliese begann zu weinen. Irgendwie
hatte sie auch schon das Gefühl, „dat dat nix ward.“
Mutter Fine wollte nicht aufgeben.
Seit Weihnachten freute sie sich nun schon auf die Reise in den Harz. Sie holte
die abgegriffen Erste Hilfe Kiste. Anders konnte man den alten Schuhkarton mit
dem Salamander drauf nicht nennen, Hausapotheke wäre reichlich daneben, also
nur so, von der Begrifflichkeit, nicht vom Inhalt.
Voltareen war noch da. Hatte Vadder
vom Doktor in Friedeberg, dem Mann von Sabena Fokken Pätzel, verschrieben
bekommen, als Paula ihm auf den Fuß getreten war. Natürlich nicht Paula
Heinsohn. Bei Rieckens hatten die Kühe noch Namen und Paula, eine sechsjährige
Kuh mit mittlerer Milchleistung, hatte
in froher Erwartung des Melkgeschirrs eine Hinter Klaue auf Jan Rieckens Fuß
abgestellt. Durch sein Geschrei aufgeschreckt wandte sie Kraftfutter malmend ihren Kopf mit
den sprichwörtlich großen Kuhaugen kurz nach hinten, um sich dann, nachdem sie
keinen Grund für die Aufregung ausmachen konnte, wieder dem Kraftfutter
zuzuwenden. Das war vor vier Jahren.
Irgendwann hat Paula dann mal ihre Hinterhand angehoben und Jan Riecken konnte
wieder frei entscheiden wann und wohin er gehen wollte. Nur gut auftreten
konnte er nicht mehr. Was nützt da die Freiheit?!
Er ging zum Doktor, der ihm den
Gummistiefel vom Fuß schnitt und die Schwellung mit Voltareen behandelte.
„Rest können Sie mitnehmen, wir sehen
uns am Donnerstag zum Verbandswechsel.“
Hinnerk Holtkamp wollte sich nach der
nächtlichen Bäckerei gerade zur Ruhe begeben. Er hatte es sich zur Gewohnheit
gemacht, vor dem Gang hoch zu seiner Schlafstube noch einmal kurz vor den Laden
zu treten. Genau in dem Moment begegnet ihm Jan Rieken vor der Ladentür. Mit
einem zerschnittenen Gummistiefel in der Hand, Voltareen in der Hosentasche,
mit einem Gummistiefel am Fuß und auf seiner Arbeitssocke über dem verbundenen
Fuß humpelt er in den Laden.
„Wenn du schon mal in Friedeberg
bist, bring doch bitte noch ein Paket von dem guten Stuten mit“, hatte sie
(natürlich war Fine gemeint!) ihm mit auf den Weg gegeben.
Während der Heilungsprozess für Jan
Riecken noch nicht spürbar bereits einsetzte, hastete die Sprechstundenhilfe von
Dr. Pätzel von einem Fenster zum anderen um den Stallgeruch aus der Praxis zu
lassen.
Aus der Geschichte kennt man, dass
ganze Kleinigkeiten, Zufälle die
irrwitzigsten Folgen haben. Wäre
Kolumbus damals nicht in die verkehrte Richtung gesegelt, würden wir vielleicht
heute noch nichts von Amerika wissen. Glück für die Menschheit! Oder, hätte der
kleine Schwächeanfall von Frau Hitler, geb. Pölzl, am 7.5.1889 in Braunau nur vier Minuten länger
angedauert, wäre der kleine Adolf in der Badeschüssel ertrunken. Pech für die
Menschheit.
Was hat das nun mit Familie Riecken
in Dröbermmoor zu tun.
Hätte Fine Riecken die halbvolle Tube
Voltareen damals nicht aufgehoben, wäre es ein Pech für Anneliese. Hätte Jan
Riecken damals, nach dem Tritt von Paula, den fast noch neuen Gummistiefel, den
der Doktor nicht zerschnippelt hatte, nicht aufgehoben, wäre Annelieses Reise
bereits zuende gewesen, bevor sie
angefangen hätte. Als weder einer von Annelieses noch von Fines Schuhen über
den geschwollenen Fuß von Anneliese passen wollte, erinnerte sich Jan an dem
einsamen, einzelnen Gummistiefel unter der Werkbank im Schuppen. Glück im
Unglück, es war der richtige Stiefel, der damals unversehrt mit Jan den Heimweg vom Doktor nach Dröbermmoor
antrat! Glück für Anneliese!
Fine, die sich immer darüber aufregte, dass
Jan nichts wegschmeißen kann, musste zugeben, dass sie sich in diesem Fall über
Jans Sammelleidenschaft freute.
„Siehst wohl, Fine, irgendwann kannst
allens noch mool bruken. `n oole Schruw, krumme Noogels, ´n olle Blechbüchs oder nu denn verwaisten
Gummisteebel.“
Jan und Fine freuten sich, als
Anneliese vorsichtig ein paar Schritte durch die Küche probierte. Es
funktionierte. Anneliese konnte, was sie allerdings noch nicht wusste, nach
Berlin fahren und Jans Gummistiefel durfte mit.
Nach dem Frühstück kam Paula ohne
Anklopfen in Rieckens Küche, wie immer.
„Künnt wie?“
Es war noch Zeit genug, aber
Paula hatte noch mehr Angst davor, den
Bus zu verpassen, als Angst vor den Luchsen.
Jan blickte der Gruppe mit den drei
Frauen hinterher. Fine schiebt die Gummikarre mit dem Gepäck und Paula stützt
die hinkende Anneliese. Dann blieben sie stehen.
„Geht wohl doch nicht mit Anneliese“,
denkt Jan und überlegt schon, ob er losgehen soll, um sie zurück zu holen. Dann
aber war er beruhigt, als er sah, dass Anneliese oben auf dem Gepäck saß und
sich zum Treffpunkt schieben ließ.
Der Bus aus Dröbermmoor traf als
letzter beim Penny Markt ein. Es hatte eben seine Zeit gebraucht, bis allein
die 27 Mitglieder des Spielmannszuges und ganz besonders deren Instrumente
einen Platz gefunden hatten. Es sind ja nicht nur die Pfeifen mitgereist.
Vor den Ein- und Ausstiegen der
wartenden Busse befanden sich kleine Rauchergrüppchen. Die Aussicht, vielleicht
die nächsten 2 Stunden auf die gewohnte Dosis Nikotin verzichten zu müssen, hat
selbst diejenigen wieder an die frische Luft gebracht, die erst vor wenigen
Minuten, unmittelbar vor Betreten des Busses, die letzte Kippe hinter sich
geworfen.
Eigentlich sollte es nun gleich
weiter gehen. Aber, kaum, dass der Bus aus Dröbermmoor hielt und die Türen sich
geöffnet hatten, stolperte eine Gruppe von Hardcore Rauchern aus dem Bus. Die
Reise bis hierher hatte gerade 4 Minuten gedauert. Auch die Fahrer nutzten den
Stopp für eine letzte Zigarette vor der Fahrt. Die Reiseleitung aus Bilge
nutzte die nicht vorgesehene Pause, um noch einmal die Listen abzugleichen. Aus
dem Bilger Bus erklang fetzige Blasmusik. Typisch Henry Krohn! Kaum dass er im
Bus saß, hatte er schon seine Posaune ausgepackt und los ging es. In
Aantenwörden hat sich Paul von Thun durch den Gang bis zum Posaune spielenden
Pastor vorgearbeitet, um für sich und seine Züchterfreunde den Radetzky Marsch
zu wünschen. Kein Problem für Henry Krohn, ein Meister des Improvisierens.
Noten gibt es in der Schule. Pastor Krohn konnte schon lange darauf verzichten.
Die letzten Rauchwölkchen verteilten
sich bis zur Unsichtbarkeit, Finger schnipsten Kippen auf den Grünstreifen und
der letzte Raucher betrat gerade seinen Bus als ein aufgemotzter Golf mit
wummernden Bässen neben der Bustür hielt. Aus der Beifahrertür wand sich Harry
Röndigs, in der Hand hatte er eine kleine Tasche – sie konnte wirklich
höchstens das Allernotwendigste
aufnehmen.
„Kann ich noch mit? Ein Notfall!“
Was für ein Notfall mag das sein,
dachte Lukas, der diesen Bus begleitete.
„Ich muss unbedingt mit. Ich bezahl
sofort und ich schlafe irgendwo, müsst
euch um nix kümmern.“
Harrys Bruder schien das Ergebnis der
Verhandlungen schon zu kennen. Ohne abzuwarten, ob Henry denn mitfahren
dürfte, gab er eine kurze Kostprobe der
Pferdestärken seines getunten Flitzers. Der Motor heulte auf, kleine Kieselchen
pfiffen durch die Luft und das Wummern der Bässe verklang irgendwo weiter
hinten im Gewerbegebiet, dort, wo der Happy Midnight Club auf Klärchen Adami,
die Putzfrau, wartete.
Samantha Meyer hatte eine Sekunde überlegt, ob
sie umsteigen sollte. Es war eine Sekunde zu lange. Der Prinz war schon
davongeritten.
Harry fand Asyl im Bus und war nur
glücklich, dass es noch so eben geklappt hatte. Da spielte es auch keine Rolle,
dass er der einzige Moorer im Bus war. Ein zweiter Kontrollblick durch den Bus
gab ihm noch eine weitere, eine traurige Gewissheit: Natalie saß nicht in
diesem Bus.
„Was wäre denn, wenn die „Königin der
Nacht“ gar nicht an der Reise teilnimmt? Noch könnte er aussteigen“, geht es
ihm durch den Kopf.
Vor ihm saß Hella. Hella Rossmann,
die Hannoveranerkönigin. Die müsste es doch wissen.
Volltreffer!
„Die ist zusammen mit ihrem „Ündschen“
in den Bus vor uns eingestiegen. Ludolf Tausendfreund, der „Club Manager“ und
noch zwei seiner Mädchen sind hier in Kolbingerhafen zugestiegen.“
„Danke!“
Harry Röndigs atmete tief durch. War
die Rennjagd von Aantenwördenermoor zum
Pennymarkt doch nicht vergebens gewesen. Heute wäre nämlich eigentlich sein
„Happy Midnight“ Tag gewesen. Sein Bruder, der ihn immer wegen der Clubbesuche
aufzog, hatte auf dem Rückweg von der Nachtschicht im Helgolandhafen eine für
Harry elementar wichtige Entdeckung gemacht. An der Eingangstür des bereits
geschlossenen Clubs hingen mehrere mit großen Computerbuchstaben beschriebene Zettel, auf denen zu lesen war:
„Wegen Betriebsausflug bleibt der
Puff heute geschlossen!“
Dennis Röndigs bremste ab, legte den
Rückwärtsgang ein und holte sich einen der Zettel vom Glas der Tür. Das
entsprach seinem Humor. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie diese Botschaft
am Frühstückstisch aufgenommen werden würde.
Später kursierten die abstrusesten
Gerüchte durch Kolbingerhafen, wer denn Urheber dieser Schriftstücke sein
könnte. Am verrücktesten war die durch nichts bewiesene Behauptung von Henning
Hinsch, es sei die alte Apothekerin gewesen, die dahinter gekommen sei, dass
Ludolf Tausendfreund neuerdings die Kondome mit Mengenrabatt über einen Online
Handel einkaufen würde. Das war
natürlich völliger Quatsch, weil, wie Tausendfreund überall beteuerte, in
seinem Club keine Kondome benützt würden.
Eine Aussage, die es völlig unbeabsichtigt,
auch wieder in sich hatte.
Ludolf Tausendfreund tat zumindest
sehr aufgebracht und sprach wegen der Zettel auf den Scheiben von
verleumderischer Sachbeschädigung, einem Tatbestand, den das Deutsche
Strafgesetzbuch so nicht kennt. Das störte den Clubmanager aber nicht im
Geringsten.
Hörte sich doch gut an. Oder? Verleumderische
Sachbeschädigung!
Henner Hagenah auf der Wache in
Friedeberg hat sich lange gewehrt, die Anzeige so aufzunehmen. Erst als
Tausendfreund ihn fragte, ob seine Frau vom Besuch im Club (natürlich nicht in
Uniform, rein privat), damals Aschermittwoch 2006, wisse, hatte Hagenah den
Quatsch aufgeschrieben. Wohlwissend, dass man sich in Stade am Gericht wieder
kräftig über den Dorfscheriff von Friedeberg amüsieren würde.
Aber das spielte sich ja alles erst
in der Zukunft ab. Harrys Problem war ein Problem der Gegenwart. Seit Natalie
im Club angefangen hatte, vor einem guten Jahr, hatte Harry sich an die
Freitagsbesuche im Club gewöhnt. Er hatte sich sogar so daran gewöhnt, dass er
als treuer HSV Fan die Übertragung des Endspiels in der Deutschen Meisterschaft
zwischen dem HSV und dem 1. FC Nürnberg noch vor der Halbzeitpause
abbrach. Es war ein Freitag und eine innere, eine biologische Uhr sagte Harry,
dass es doch noch Wichtigeres als Fußball gebe.
Und nun kam sein Bruder heute Morgen
in die Küche. Es war ein Freitagmorgen, Harrys Freitag.
„Mensch“, schoss es ihm durch den
Kopf, „Natalie ist ja Königin. Die fährt doch mit in den Harz.“
Dennis hatte seinen Bruder schon ewig
nicht mehr so schnell gesehen. Mehr als Pyjama und Zahnbürste konnte Harry
nicht eingepackt haben. Mit der kleinen, schlaffen Tasche in der einen Hand und
seiner Jacke in der anderen Hand kam er in die Küche zurück, nahm zwei grüne Geldscheine aus der alten Brot Dose im
Küchenschrank.
„Los, bring mich sofort nach !!!
Penny. Vielleicht schaffe ich es noch.“
Damit hatte Dennis nicht gerechnet.
Bruder Harry tat ihm fast schon ein wenig leid.
Sie haben es dann ja, Gott sei
Dank, noch geschafft. Manchmal haben
eben auch kleine Gehässigkeiten, wie der Puffzettel auf dem Küchentisch, noch
ihr Gutes.
Hätte Lukas dieses alles gewusst, er
hätte nicht mehr darüber gerätselt, was
Harry mit „Notfall“ gemeint hatte.
War doch ein Notfall, was denn sonst!
Die Busse rollten in sicherem Abstand
voneinander über den Obstmarschenweg, die Ostumgehung von Stade und weiter auf
die 15 Kilometer A 26. Ab Horneburg wurde der Verkehr zähflüssig und in
Neukloster standen sie zum ersten Mal. Die Stimmung war in allen drei Bussen
gut, wenn auch unterschiedlich. Im Bilger Bus machte Henry Krohn im wahrsten
Sinne des Wortes die Musik. Der absolute Wahnsinn, was so ein Stück Blech, in
erster Linie geschaffen zur Begleitung
getragener Kirchenmusik, in der Lage ist zu produzieren, wenn es so richtig in
Urlaubsstimmung gerät. Selbst die unmusikalischen Mitreisenden, die es nach Pastor
Krohn gar nicht gibt, wippten im Rhythmus mit. Vor der roten Ampel an der
Mitsubishi Werkstatt in Neukloster schwang plötzlich der ganze Bus mit. Als Henry
Krohn das bemerkte bekam er einen Lachanfall.
Die Posaune verstummte. Noch lachend kommentierte er die Situation.
„Das hat die alte Tröte noch nie
erlebt, einen ganzen Bus in Schwung, oh pardon in Swing gebracht.“
Lukas, der nach seiner Konfirmation
immer einen großen Bogen um die Kirche gemacht hatte, musste zugeben, dass
Henry den Pastor zu Hause gelassen hatte und echt coole Musik machte. Hoffentlich spielt er gleich weiter. Das
lenkt ab von der Aufgabe, die ihm in Kürze bevorstand.
Kalle und Tina hatten es im Gegensatz
zu Lukas richtig friedlich in ihrem Bus. Es gab angeregte Gespräche auch über
den Gang rüber und ein reger Austausch von erlesenem Reiseproviant entwickelte
sich. Ist das vielleicht die Ruhe vor dem Sturm? Tina und Kalle, die sich eine
Bank teilten, berieten sich flüsternd, wie sie gleich agieren wollten.
Flüstern ging bei Viola und Jonas im
Bus gar nicht. Höchstens Selbstgespräche, weil man sich dabei ja nicht hören
können musste, schließlich weiß man ja, was man sich gerade sagen wollte. Im
Moor Bus gaben die Moorer den Ton an. 27
minus 7 Spielleute wollten sich während der
Fahrt unterhalten. Kann man ja eigentlich nichts gegen haben. Die
Sitzverteilung war aber leider so, dass die Gruppe der 7 Schülerinnen und
Schüler, die mit ihren erwachsenen Kameradinnen und Kameraden mitreisen
durften, genau zwischen zwei Zehnerblöcken von Erwachsenen saßen. Solange die Stimmbänder es mitmachten, dachte niemand
daran, vielleicht einmal die Plätze zu tauschen. Peer Schloboom hatte Cola und
Korn für Mischung im Handgepäck. Leider hatte die Plastikbecher im Flur stehen
gelassen, als er sich die Schuhe zugebunden hatte und nach einem Blick auf die
Uhr schnell seinen Koffer griff und zur Bushaltestelle eilte. Als sie in Heimfeld die A7 unterfuhren,
probierte er erstmalig, die Mischung im Mund hinzubekommen. Eine leichte
Bodenwelle sorgte für den Bruchteil einer Sekunde für eine gute Durchmischung;
leider aber auch für ein unangenehmes Verschlucken. Was eben noch ziemlich gut
gemischt darauf wartete heruntergeschluckt zu werden, schoss beim Husten ungebremst gegen die Rücklehne
vor ihm und leider auch gegen Paulas Nacken, die sich gerade zu Fine
rüberbeugte.
„Kannst du nich oppassen, du Swien?“
„Trocknet doch wieder, Tante Paula.
Schuldigung.“
„Jo, und wenn dat drööch is, dann
backt miene Klamotten an Hals. Und dann wull ick die noch seggen, ick bün nich
diene Tante. Mit soon Rülpskopp will ick nich verwandt ween.“
Oh, oh, Paula musste schon ganz schön
verärgert gewesen sein, wenn sie unter echter Tante und unechter Tante einen
Unterschied machte. Normal sind alle älteren Frauen, Mütter und mehr, für die
Moorkinder Tanten, wenn sie irgendwo zum Bekanntenkreis der Eltern zählten.
Peer Schloohohm war mit seinen 48 Jahren
eine Generation jünger als Paula und wohnte noch dazu nur zwei Häuser weiter
neben Paula. Gerhard Langholz, unangefochtener Rechtschreibexperte und Fachmann in allen Benimmfragen vom ersten
bis zum letzten Haus am Kanal in Dröbermmoor, versicherte Peer später während
eines Halts auf einem Rastplatz, dass er sich keine Vorwürfe zu machen brauche.
Übrigens, damit hier keine Zweifel aufkommen, gibt es auch bei den Männern, die
dann aber Onkel oder in der Mehrzahl Onkels heißen. Richtig bodenständige Moorer
ohne Fremdeinflüsse von zugewanderten Städtern oder ohne jene Zuwanderer aus
den verlorenen Ostgebieten[8]
würde man heute wohl häufiger typische Moorer Sprachbeispiele wie zum Beispiel:
„Geh mal nach die Onkels und frach mal nach die Uhr“, sagen hören.
Vor 70 Jahren kein Problem. Jedes
Moorkind wäre zu der klönenden Männergruppe hinüber gelaufen und wäre mit der
Uhrzeit zu Muddern zurückgekommen.
Heute würden die meisten Kinder wiederkommen
und der Mutter berichten, sie hätten nicht einen ihrer Onkel dort gefunden und
die Herren, die sie um deren Uhren gebeten hätten, hätten sie nicht
rausgerückt.
Später, viel später, als Paula sich
einmal kurz die Beine auf dem Gang vertreten musste, hatte Peer noch einmal
eine Mischung im Mund angesetzt und es hat gut geklappt.
Dieter Schmarje und Heino Buhrfeindt
hatten schon vor Jahren das Autofarbenroulette entwickelt. Auf einer
selbstgebastelteten kleinen Drehscheibe wurde eine Farbe ermittelt. Immer, wenn ein Auto dann in der
Farbe gesichtet wurde durfte der, der das Auto zuerst gesehen hatte, „Prost“ sagen und zwei kleine
Küstennebelfläschchen wurden umgehend zu Leergut. Für den Fall, dass die Farben
Schwarz, Weiß und Grau dran kommen sollten, hatten sie den Einkaufstrolly von
Heinos Oma randvoll mit Mini Küstennebel und, weil bei Edeka und Penny zu wenig Vorrat war, auch
einigen Zwölferpacks „Kleiner Feigling“ gepackt. Der Zufallsgenerator blieb auf
Pink stehen. Da wussten beide, dass sie auf der Hinfahrt in den Harz niemals
fröhlich werden würden.
Anders als beim Kegelausflug mit der
Farbe „Schwarz“. In Bremervörde waren schon 49 Fläschchen leer und in Bad
Zwischenahn mussten sie sich gegenseitig helfen, die Schraubverschlüsse zu
öffnen. Dabei haben sie dann schon manch ein schwarzes Auto übersehen. Geschadet
hat es ihnen nicht. Sie konnten auch so schon nicht mehr die edle
Bundeskegelbahn im Hotel Seeperle testen.
Es war schon ein bisschen blöd am
nächsten Tag, dass sie die ganze Rückreise nicht mitreden konnten, sie hatten ja nicht mitgekegelt. Und Küstennebel
gab es auch fast gar nicht mehr. Es waren einfach zu viele schwarze Autos am
Vortag!
Aus dem Radio kam die Durchsage:
„Besonders im westlichen
Niedersachsen sei mit Küstennebel zu rechnen!“
Heino stößt Dieter in die Seite und
meint nur:
„Schön wär´s!“
„Jo“, sagt Dieter, ohne verstanden zu haben, was Heino da eben
hatte mit der Radiodurchsage.
Paula Heinsohn hatte Hunger bekommen
als sie von ihrem Traum mit den Luchsen und vor allen Dingen von ihren
Luchsfrikadellen erzählte. In Harburg war sie dann der festen Überzeugung, dass
sie bestimmt nicht alle Frikadellen brauchen würde. Musste schließlich ja auch
passen, dass die Luchse gerade da sind, wo Paula Heinsohn aus Dröbermmoor im
Harz den Bus verlässt. Der Bus fuhr
gerade in einer langen Linkskurve die Autobahnauffahrt hoch, als Paula die
Tupperdose mit den Klopsen aus ihrem Bohnenbeutel gefischt hatte. Paula hat lange überlegt, ob sie noch eine
von ihren Luchsfrikadellen opfern sollte.
„Fine machst ook wohl een?“
„Lot man, Paula, ick bruk eher mool´n
Schiethuus. Givt doch woohl so wat an` e
Autobaahn?“
„Sech Bescheed, wenn du een sühst,
kann ick ook bi lütten ganz gau bruuken.“
Unruhe hinten im Moorer Bus. Gerhard
Langholz, 37 Jahre Erdkundelehrer bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Sommer, hatte bemerkt, dass der Busfahrer und, so
stellte er nach kurzer Kontrolle fest, die beiden anderen Busse sich auch
verfahren hatten. Das war eben ganz sicher die Raststätte Stillhorn. Hier
stimmte etwas ganz und gar nicht. Langholz erhob sich und arbeitet sich durch
den Gang nach vorne. Paula Heinsohn konnte nach einem Rempler gerade noch ihre
verbliebenen Luchsfrikadellen auffangen.
„Pass doch op, wo du hinpeddst! Oh,
Schulligung, Herr Lehrer, har ick gor nich sehn, dat Se dat wern.“
„Schon gut, wir sind falsch, wir
fahren nach Lübeck.“
„Fine, wi beeden sünd doch nich
falsch, oder?“
„Nich, dat ick wüsst. Un no Lübeck
wüllt wie ook nich. Hei tütert all´n beeten, de Schoolmeester. Het em wohl keen
vertellt, dat de Reis no´n Harz hin geiht.“
„Frollein Hiesel, Frollein Hiesel!“
„Es geht los Jonas, mach dich
bereit.“
„Wir fahren falsch, Frollein Hiesel,
da ist eine Ausfahrt, da können wir umdrehen.“
„Beruhigen Sie sich, Herr Langholz,
es ist schon alles in Ordnung. Gehen Sie ´mal auf Ihren Platz. Ich sag da
gleich etwas zu.“
„Ja, aber…“
Viola nahm das Mikrofon aus der
Halterung. Tock, tock! Fff, fff. Probe bestanden.
„Merkwürdig, dass in diesem alten
Schlurren noch das Mikro funktioniert. Willst du sprechen Jonas?“
„Nee, mach du mal.“
„Bitte alle mal herhören. Ich muss
euch etwas beichten. Herr Langholz hat ja bereits bemerkt, dass wir in die
falsche Richtung fahren. Er hat Recht und auch nicht. Wir sind auf dem Weg nach
Berlin und das wiederum ist richtig.“
Und dann erzählte sie die ganze
Wahrheit, alles, was bis hierhin geheim geblieben war. Ganz nebenbei, eine
Sensation, die in der allgemeinen Aufregung keiner richtig wahrgenommen hatte.
Es wurde laut, alle redeten miteinander, Fragen wurden durch den Bus gestellt,
Gerhard Langholz sprach davon, dass die Sache noch ein Nachspiel haben würde.
So etwas könne man mit ihm nicht machen. Als die erste Erregungswelle etwas
abflaute, nutzte Viola die Chance zum Reden.
„Wir machen gleich auf dem Autohof
Öjendorf eine Pause und werden noch einmal mit den anderen sprechen. Wer dann
nicht mit nach Berlin will, bekommt sein Geld zurück und kann direkt vom
Autohof mit dem ÖPNV zurück bis Koldingerhafen oder Friedeberg.“
Paula und Fine rauchte der Kopf.
Anneliese, zwei Reihen weiter hinten im Bus, fand den Coup der Bilger nur cool.
Keine Frage, Berlin und Grüne Woche ist doch allemal besser als Harz.
„Fine, heb ick dat nu richtich op de
Reech? Wi föhrt nich no´n Haaz?“
„Richtich!“
„Und wi föhrt nu ook nich mehr no
Lübeck?“
„Richtich, Paula.“
„Und wullt du mit den ÖVdingsbums no
Huus?“
„Eegentlich schon, oober ick weet gor
nich as wie man dat mookt mit denn ÖV… Wi sünd nu all in Hamborch. Jan kann uns
ook nich afholen. De hört dat Telefon eerst, wenn hei sein Middachsloop achter
sick het. Wenn hei sick dann in´n Woogen set, is hei taun Melken nich mehr
trüch in Dröbermmoor.“
„Ach so.“
Pause
„Du Fine, givt dat in Berlin Luchse?“
„Ick glöv nich.“
„Denn loot uns man doch mit no Berlin
föhrn. Machs noch´n Klops. De bruuk ick jo nu nich mehr.“
Die drei Kolbinger Busse rollten auf
den Autohof und kamen nebeneinander zum Stehen. So wie die Türen sich öffneten,
quollen die Kolbinger förmlich aus ihren
Bussen. Die drei Gruppen mischten sich bunt durcheinander, es wurde überall
heftig diskutiert. Berlin war mit Abstand das am meisten gesprochene Wort. Zigarettenrauch ließ die Sonne wie durch einen leichten Nebel
scheinen.
Henry Krohn ging von Gruppe zu
Gruppe, um seinen Unmut über diese Täuschung kund zu tun. Er lief Lukas, der sich gerade erfolgreich
aus einer Gruppe um Samantha Meyer gelöst hatte, direkt in die Arme, die
Posaune wäre ihm um Haares Breite aus der Hand gerutscht.
„Kommen Sie mit zu dem Picknick Tisch
da drüben. Dann geben Sie mit der Posaune Signal, damit ich zu allen sprechen
kann.“
Sie erkletterten beide den Tisch und
der Pastor trötete ein Signal, wie gewünscht. Erwartungsgemäß verstummten die
Gespräche und die Köpfe drehten sich zu den beiden Kolbingern auf dem Tisch.
„Kommt ein bisschen näher ran, ich
will mit euch reden.“
Und noch einmal ließen die verfahrenen
Kolbinger sich erklären, was sich ihre fünf ReiseleiterInnen gedacht hatten.
Geschickt beschrieb er, was für einen Eindruck sie mit dem Spielmannszug und 16
Majestäten in ihrem royalen Outfit auf der Grünen Messe hinterlassen würden. Er
beruhigte auch alle, die Angst davor hatten, dass sie unter einer der vielen
Berliner Brücken nächtigen müssten. Und natürlich alles ohne Mehrkosten. Es
gibt ja auch Einsparungen, weil die geplante Party mit den Königinnen ja nun
auf der Grünen Messe stattfinden soll.
„Aber dafür kostet es viel Eintritt
in die Messe zu kommen.“
„Nein, wir haben die Tickets frei
über Petra Tiemann und Kai Seefried. Die haben ihre Freikartenkontingente aus
dem Niedersachsen Karten Pool für Landtagsabgeordnete zusammen getan. Wir
kommen alle über die Freikarten rein.“
Anhaltender Beifall. Pastor Krohn
ergreift das Wort.
„Als Mensch und als Seelsorger kann
ich diese Täuschung von über hundert erwachsenen Menschen nicht akzeptieren.
Was für ein Vertrauensbruch. Ich werde diese Reise hier abbrechen und unter
Protest zurückreisen. Selbst, wenn ich den ÖPNV benutze, komme ich noch zeitig
zum Sonntagsgottesdienst nach Bilge zurück. Schade nur, dass ihr meine Predigt
verpasst. Kannst ruhig ein schlechtes Gewissen haben, Tina. Ich werde über Ehrlichkeit im Miteinander, über Vertrauen
predigen und ich werde für eure verirrten Seelen beten.“
Es war ganz still. Nur wenn die
Tabakwolken Geräusche gemacht hätten,
hätte man etwas anderes als Autobahnlärm gehört. Viola drängt sich vor den
Tisch.
„Henry, es tut uns sehr leid. War
nicht gut, dass wir nichts gesagt haben. Aber sonst wäre es doch keine
Überraschung für die da in Berlin und für unsere Königinnen, die sich doch alle
so viel Mühe gegeben hatten. Kannst du es dir nicht noch einmal überlegen. Wir
können doch mitten auf dem Messegelände eine Andacht abhalten. Wir 140
Kolbinger und vielleicht noch Messebesucher. Katholen ..
„Katholiken!“
„Ja, die meine ich ja und Muslime
auch. So richtig Ökonomisch! Das wär´s doch!?“
„Also, wenn ich eine Andacht für alle
Konfessionen halte ist sie ökumenisch und nicht ökonomisch, liebe Viola.
Müsstest du eigentlich doch wissen, so kurz vor dem Abi. Gut finde ich euer
Verhalten immer noch nicht. Die Idee mit der Andacht hat mich aber etwas
versöhnt. Wollt ihr das denn, mit der Andacht meine ich?“
Soviel Zuspruch hatte Henry Krohn
noch nie bei der Ankündigung eines Gottesdienstes erfahren.
Erst die ersten Takte von „Geh aus mein Herz und suche Freud“ aus Henry
Krohns Posaune sorgten für Ruhe.
Inzwischen verfolgten schon einige
Reisende, die gar nicht zur Gruppe gehörten, mit großem Interesse, was sich
dort abspielte. Gerade hatte Henry Krohn darüber abstimmen lassen, ob die Reise
nach Berlin, in den Harz oder nach Hause gehen sollte.
„Sagen Sie mal“, fragte eine Frau im
besten Alter ausgerechnet den Spaßvogel Jonny Kreiboom, „was sind Sie für ein
Verein?“
„Wir sind der „Monarchistische Verein
für Demokratische Lebensweise bis ins kleinste Glied“. Bei uns geht gar nichts
ohne Mehrheitsbeschluss. Heute machen wir mit unseren 16 Königinnen eine
Ausfahrt. In unseren Statuten steht, dass wir immer dann die Reise für eine
Abstimmung unterbrechen müssen, wenn es von einem Mitglied beantragt wird. Er
da oben, das ist unser Vereinsseelsorger, der mit dem Messingteil, der wollte
nun gerade abgestimmt haben, ob wir nicht doch lieber in den Harz fahren
sollten.“
„Ach so.“
Man musste nicht aus Dröbermmoor
kommen, um diesen kurzen, immer passenden Kommentar über die Lippen zu bringen.
Heini Holthusen, der alles gehört
hatte, kriegte seinen Mund nicht wieder zu. Hatte er vielleicht irgendetwas
nicht richtig mitbekommen als er sich mit Paul von Thun über die letzte
Stutenschau[9]
unterhalten hatte?
„Georg“, sagte die fremde Frau zu
ihrem Mann, „wollen wir auch mal abstimmen, ob wir immer noch zu deiner Mutter
fahren wollen?“
„Erstens gehören wir nicht zu diesem
Spinnerverein und außerdem würde die Abstimmung 1:1 ausgehen und nach meinen
Statuten entscheidet dann der Fahrer!“
„Dann lass mich jetzt mal fahren. Mir
gefällt der Verein.“
„Mir auch!“ Das war noch einmal Jonny
Kreiboom, der es nicht lassen konnte, seinen Senf dazu zu geben.
Die Abstimmung war gelaufen. Wären so
viele Kolbinger mitgefahren, wie es einmal DDR Bürger gab, das Ergebnis wäre
sogar noch einen Tick besser als alle Ergebnisse, die Erich Honecker und Walter
Ulbricht jemals für sich zurechtgebastelt hatten. Nur, dass hier kein bisschen
manipuliert worden ist. Einige wenige Kolbinger hatten nicht mitgestimmt, weil
sie unentschlossen waren. Eine einzige Gegenstimme. Gerhard Langholz ließ sich
gerade vom Busfahrer seinen Koffer aus dem Gepäckfach suchen. Das war gar nicht
so einfach, weil einige Musikinstrumente beiseite geräumt werden mussten.
Lukas machte die Ansage, dass noch 10
Minuten Zeit sei, die Toilette aufzusuchen. Dann würden sie weiterfahren.
Die meisten Reiseteilnehmer bewegten
sich zum Raststätten Gebäude. Karlheinz Nagel wartete ein wenig bis alle weit
genug weg waren und pinkelte dann zwischen die Busse. Einer von seinen rauchenden Freunden hätte ihm
eigentlich sagen müssen, dass man das hier nicht macht.
Raststätte an einer Europastraße ist
doch wohl etwas ganz anderes als Schützenfest im Moor.
Es hat ihm aber niemand etwas gesagt,
obwohl einige andere auch noch zwischen die Busse gegangen waren.
Wahrscheinlich nur zum Gucken, was Nagel
da zu suchen hatte.
Hatte Lukas nicht von 10 Minuten
gesprochen? Hier zeigte sich ein
weiteres Mal, dass Kolbinger sich nicht nur nach Herkunft aus Marsch oder Moor
unterscheiden. Lehrer Bergmann hatte seit langem schon mit Sorge beobachtet,
dass die meisten Kolbinger Kinder trotz
fester Rechtschreibregelungen, ihre ganz individuellen, eigenen Regeln
hatten. Und nun das hier! Die ersten, das war die Schülergruppe aus
Aantenermoor, kam schon nach 7 Minuten mit neuen Cola Dosen und Chips Tüten zum
Bus zurück. Das Gros der Reisegesellschaft trottete gemächlich zwischen der 12.
Und 15. Minute zurück. Fine Riecken und
Paula Heinsohn traten als letzte nach 18 Minuten aus dem Drehkreuz der
Raststätten Tür. Irgendetwas regte sie maßlos auf. Anneliese hatte sich schon
Sorgen gemacht und eilte den beiden entgegen.
„Wo bleibt ihr denn?“
„Ach Anneliese, bloß weg von hier.
Paula hatte Ärger mit dem Klomann.“
Paula hatte nämlich mitbekommen, dass
Fine eine Münze auf den Teller des Klomannes geworfen hatte, was der aus
einiger Entfernung leicht auf
Zehenspitzen wippend mit einer kaum spürbaren Verbeugung des Dankes quittierte.
Paula, die das mitbekam, machte zwei Schritte zum Teller, griff sich ein 1 Euro
Stück.
„So wiet kommt dat noch! Du wullst
denn Keerl doch nix geben. Mien Klosettschüssel har Bremsspuren und dat Lokuspapier keem ut miene Tasch. Hier,
nimm dien Geld trüch.“
Fine, die das Unheil schon in Gestalt
des Klomannes auf sie zueilen sah, zog ihre Hand zurück. Sie wollte am liebsten
nichts mit der ganzen Sache zu tun haben.
„Meine Dame, Sie haben soeben etwas
von meinem Teller gestohlen. Geben Sie mir das Geld bitte wieder.“
Er griff nach Paulas Hand. Als er sie
festhielt, umklammerte sie die Münze nur
noch heftiger, zog zurück. Vom SB Restaurant guckten schon einige neugierig
rüber, was da wohl vor sich ging. Paula
schlug dem Klomann mit ihrer freien Hand auf dessen behaarte Pranke.
„Finger wech!“
„Geld her!“
Fine wusste nicht mehr ein noch aus.
„Komm, Paula, lass uns gehen.“
Schön wär´s. Der Kerl klammerte und
ohne ihn mit zu nehmen hätten sie niemals in den Bus einsteigen können. Drei
Damen mit prallgefüllten T-Shirts, deren Aufschrift sie als Mitglieder(innen?)
des Skatclubs Bad Schwartau auswiesen, blieben stehen und verfolgten das
ungleiche Gerangel zwischen Paula und dem Kloriesen mit den behaarten Händen.
„Foot mi nich an, Finger wech! Nu
kommt mi dat oober doch tau dull, bi lütten. Bring du eersmool Lokuspapier op
dien Schiethuus, denn kannst man ook glieks de Bremsspuren in de tweete Kabin
wechmooken und dat Waschbecken het ook all lang keen Lappen mehr tau Gesicht
kreegen. För denn Swienstall wull du ook noch Geld hem? Schomen schast du di!
Und nu wech mit dien Han!“
„Sehen Sie nicht, Sie tun der alten
Dame weh.“
„Ja, und sie hat ja Recht. Gehen Sie
erstmal das Damenklo putzen, bevor wir hier über Geld reden.“
Die dritte Skatschwester schaltet
sich ein. Inzwischen hat sich schon eine Menschentraube um die Kolbinger Frauen
gebildet.
„Na, hörst du schlecht? Loslassen!
Wir kommen aus Bad Schwartau und gucken uns das nicht länger an!“
Der Klomann gibt klein bei, löst den
Griff um Paulas Hand und zieht sich unter dem Beifall der Umstehenden zurück.
Im Rausgehen legt Paula Fine den Euro in die Hand.
„Hier Fine, dien Euro.“
„Wieso´n Euro? Ick heb doch nur
twinnich Cent op den Teller smeten.“
Die beiden Frauen mussten noch beim
Einsteigen darüber lachen, dass sie nicht nur Fines Geld zurück hatten, sondern
den Toilettenmann auch noch um 80 Cent „beschissen“ hatten.
Mit dieser Geschichte hat sich Paula
Heinsohn bei allen ReiseteilnehmerInnen unsterblich gemacht. Wann immer jemand
der Berlinreisenden später von der Grünen Woche erzählte folgte kurz über lang
die Story, wie Paula Heinsohn aus Dröbermmoor dem Klomann in Öjendorf die
Leviten gelesen und ihm am Ende auch noch einen Euro geklaut hat.
Der Moorer Bus war komplett bis auf
Langholz. Der stand immer noch neben dem Bus und neben ihm stand sein Koffer.
Viola steckt noch einmal den Kopf raus.
„ Herr Langholz, wollen Sie wirklich
hier allein zurück bleiben? Wir gehören doch alle zusammen. Kommen Sie mit.“
Gegen diese Charmeoffensive der Bilger Weißkohlkönigin war letztlich kein
Kraut mehr gewachsen. Heimlich hatte Langholz ohnehin schon seinen Entschluss bereut.
Irgendwie wollte er dabei sein. Nicht
ohne Grund hatte er sich zur Teilnahme an der Reise in den Harz gemeldet.
„Na gut, wenn sie es wünschen,
Frollein Hiesel.“
Langholz steigt in den Bus und begibt
sich unter dem Beifall der Mitreisenden zu seinem Platz.
Der Bus rollt an. Paula hat dem
Schulmeister aus Dröbermmoor etwas mitzuteilen.
„Schoolmeester, oh pardong, Herr
Lehrer, brauchen Sie die Tage noch´ne neue Unnerbüx?“
„Wie meinen?“
„Kiek mool rut, dor, wo eben noch´n
Schoolmeester un een Koffer stünn, dor is nu nur noch´n Koffer. Anholln!“
Jonas sprang aus dem Bus und holte
den Koffer rein.
Sarah Bauknecht, die
Kartoffelkönigin, simst ihrem Freund Theo, der leider wegen Wochenenddienst im
Pflegeheim nicht mit konnte:
„Theo, wir fahren nicht nach Lodsz, wir fahren
nach Berlin!“
Theo, der natürlich das Lied von
Vicky Leandros kannte, konnte sich aus dieser Short Message keinen Reim machen,
und fragt zurück:
„Habt ihr was genommen?“
„Nein, im Ernst, wir fahren zur Grünen
Woche nach Berlin. Später mehr. Dein Spatz.“
Nächster Stopp an der Raststätte
Stolpe im Grenzbereich von Mecklenburg Vorpommern und Brandenburg. 45 Minuten Pause, Zeit genug für private
Geschäfte und, wenn man es dann wollte, eine warme Mahlzeit. Fine Riecken, die
fast nie auswärts isst, es sei denn auf einer Hochzeitsfeier, hat sich schon
die letzten 70 Kilometer vorgenommen, dass sie Anneliese und Enno zum Essen
einladen wollte. So viel gab das Reisebudget her, es musste ja nicht gleich das
teuerste Gericht sein. Paula wollte kein Geld für Essen ausgeben so lange sie
noch Proviant hatte. Da waren immer noch zwei Luchsfrikadellen und die 16 Eier,
die sie gestern Abend noch schnell gekocht hatte. Nein, das Geld konnte sie
schon mal sparen. Schließlich konnte zu diesem Zeitpunkt ja auch noch niemand
vorhersehen, welch Kosten noch auf sie zukommen würden.
Viel wichtiger war ohnehin erst
einmal der Besuch der Sanitäranlagen. Beim Verlassen des Sanitärbereiches
wollte Paula 20 Cent auf den Teller der Klofrau legen. Hatte sie sich auch
verdient, es gab nichts an den Toiletten auszusetzen. Ganz im Gegenteil. Eine
Pracht, die sogar die Ausstattung von Hartwichs Fährkrug übertraf, ganz zu
schweigen von ihrem Klo zu Hause in Dröbermmoor. Hier konnte man wirklich mit
gutem Gewissen 20 Cent auf den Teller legen. Die Münze schon in der Hand,
überlegte Paula Heinsohn sich die Sache noch einmal, als sie sah, dass die
Klofrau gerade ihren Beobachtungsposten neben dem Teller verließ.
„Kannst jo nie nich weeten, wann du
mool 20 Cent bruuken deist.“
Fine Riecken und Enno haben sich
Curry Wurst mit Pommes geholt, dazu ein großes Glas Coca Cola. Vor einem halben
Jahr wäre Anneliese noch mit von der Partie gewesen. Seit sie Königin geworden
ist und sich der Konkurrenz der 15 anderen Kolbinger Majestäten damals in der
Dreifachturnhalle der Oberschule Nordkolbingen in Friedeberg gestellt hatte,
hatte sie ihr Essverhalten komplett umgestellt. Was dabei herausgekommen ist,
kann sich sehen lassen und Enno beobachtete mit zunehmender Nervosität, dass
sich plötzlich auch andere Jungen für Anneliese interessierten.
Auch auf dem Weg vom Bus in die Raststätte zog
Anneliese die Blicke auf sich. Sie genoss diesen Zustand, der ihr früher so
nicht bekannt war. Was sie allerdings erst viel später realisierte, war, dass
die meisten Menschen hier an der Raststätte erst auf die humpelnde Anneliese
und dann auf den Gummistiefel an ihrem rechten Fuß schauten. Das wurde ihr
spätestens bewusst, als sich ein kleines Mädchen vor ihr aufbaute und fragte,
warum sie nur einen Gummistiefel an hätte.
Anneliese hatte nicht einmal mehr
Verlangen nach dem Essen, das sie auf den Tellern von ihrer Mutter und Enno
sah. Sie wollte nicht mehr zurück in die Zeit vor dem Beginn der Monarchie in
Dröbermmoor. Anneliese war vollauf zufrieden mit ihrem Salatteller und einem
Glas Wasser.
Zufrieden war auch Paula Heinsohn,
die sich zu den Dreien dazu gesellte. Sie hatte sich ein Glas Leitungswasser
geben lassen und auf die Frage: „Darf es sonst noch etwas sein?“ auf Moorer Art
knapp aber entschieden mit: „Nö!“ geantwortet. Nun saß sie bei den Rieckens mit
am Tisch, auf die ausgebreitete Serviette fiel die Eierschale vom nunmehr schon
dritten Ei. Nicht einmal ihr eigenes Salz brauchte sie. Es stand ja ein
Salzstreuer auf dem Tisch. Alle zwei, drei Minuten fragte sie in die Runde:
„Will viellicht een vun jau´n Ei?“
Irgendwann erbarmte Anneliese sich und Paula Heinsohn
grabbelte so lange in ihrem „Bohnenbüdel“ bis sie ein Ei für die Königin
erwischte.
Überall um die Moorkönigin herum
saßen Kolbinger an den Tischen und nahmen eine warme Mahlzeit ein.
Die vier Mädchen aus Aantenermoor hatte
Kontakt zu einer dänischen Schulklasse bekommen und versuchten unter
Dauergekicher ihr erlerntes Englisch so anzuwenden, dass die dänischen Jungen
zumindest eine ungefähre Ahnung von dem
mit nach Dänemark nehmen konnten, was die Kolbinger Mädchen nach Berlin
führte. „Green Week“ gehörte auch ins Programm der fröhlichen Dänen. Zum
Abschied noch ein Gruppenfoto auf mindestens 15 Smartphones, der Austausch von
e-mail Adressen und Handynummern, die bei den Dänen „Mobile Phone“ heißen. Man
sieht sich vielleicht in „Börlinn“, bye!
„War der nicht süß, dieser Knud? Guck
mal, ich hab´ ihn hier auf dem Handy.“
Edwin Buhrfeindt hatte das Treiben um
die Dänen mit gemischten Gefühlen aus sicherer Distanz neben dem Getränkeautomaten
beobachtet. Gemischte Gefühle, weil sich kein Däne für ihn interessierte und
die Däninnen, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, schon gar nicht.
Außerdem traute er sich nicht mehr als „Yes“ und „No“ auf Englisch zu sagen,
obwohl er genauso viele Jahre Englisch
in der Schule gehabt hatte, wie die Mädchen. Und dann wurmte ihn noch eine
Sache. Im Gegensatz zu Enno, der zu
Anneliese gefunden hatte, war seine heftige Zuneigung zu Nadine Müller da
drüben ein Geheimnis, das er nur mit sich selbst teilte. Was fand die bloß
„süß“ an dem Dänen?
Ausgelassene Fröhlichkeit war am Ende
der Selbstbedienungsstrecke unter dem Schild „Truck-Stop“ zu beobachten. Hier
konnten Trucker umsonst Kaffee trinken und heute das Tagesgericht „Eisbein mit
Sauerkraut“ satt und zum Vorzugspreis bekommen.
Und wer steht da mitten drin zwischen
all den LKW Fahrern aus Polen, Holland und Deutschland – vielleicht war auch
noch ein Litauer dabei?
Natalie, die „Königin der Nacht“ aus
Kolbingerhafen!
Als sie den Gastraum betrat, blickte
sie einmal in die Runde und entschied sich für die Gesellschaft der Trucker.
Zielstrebig hatte sie die Männeransammlung am Ende des Selbstbedienungsbuffets
angesteuert, stellte die Tasche mit ihrem Hund auf den Stehtisch neben zwei
Kaffeepötte.
„Meine Erren, darf isch s'il vous plaît lassen meine
Ündschen bei Ihnän?“
Ohne eine
Antwort abzuwarten verschwand sie hüftschwingend in Richtung der Toiletten. Manch
ein Kapitän der Landstraße, egal welcher Nationalität, kam mit den Augen vom
Kurs ab. Erst als Mademoiselle Natalie hinter der Tür verschwunden war, nahmen
die Trucker die Konversation mit dem Hund in der Tragetasche auf. Hier erwies
es sich als äußerst vorteilhaft, dass das „Ündschen“ über gute Grundkenntnisse
der wichtigsten europäischen Sprachen verfügte. Zumindest hat es alles dankbar
in sich hinein gefressen, was ihm in den unterschiedlichsten Sprachen
dargereicht wurde. Während Mademoiselle sich erleichterte, wurde das „Ündschen“
schwerer und schwerer. Zum Schluss verweigerte es Pommes und nahm nur noch
Wurststückchen zu sich.
Sowie
Natalie zurück war, war sie auch schon wieder im
Mittelpunkt des Interesses. Geschäftstüchtig wie sie nun einmal war, verteilte
sie Visitenkarten vom „Happy Midnight“ in Kolbingerhafen.
„Meine Erren, iehr fiendet miesch an der Färre Kolbinger - afen – Gluckstadt.
In Kolbinger-afen inter die Penny Market“
Versteht sich von selbst, dass Natalie in der Pause satt wurde und weder
für Essen noch für eines der Getränke zahlen brauchte. So ist das eben unter
Freunden.
Arry, pardon, Harry war auch so ein stiller Beobachter wie Edwin
Buhrfeindt, obwohl Natalie doch eigentlich wissen musste, wie lieb er sie
hatte. Sie hatte sich nicht zu ihm an den Tisch gesetzt.
„Trucker oder zumindest LKW-Fahrer müsste man sein“, dachte der Maurer
aus Aantenwördenermoor. Er war sich nicht hundertprozentig sicher, ob das die
gleichen Berufe waren.
Was Harry nicht wusste: Schon sehr bald sollte er Gelegenheit bekommen,
in den Mittelpunkt des Interesses von Natalie zu rücken.
Es wurde Zeit aufzubrechen. Paula Heinsohn schob die Eierschalen
zusammen und suchte nach einem Lappen zum Tisch abwischen.
„Loot man Paula, Disch abwischen mookt de hier sülbens. Wi mööt nur uus
Geschirr doröber in denn Woogen stellen.“
„Ach so.“
Auf dem Weg zurück zum Bus stützt Anneliese sich etwas mehr bei Enno
auf, als eigentlich nötig wäre. Als Fine und Paula an ihnen vorbei gezogen
waren, ergab sich die Gelegenheit zum Austausch kurzer aber dafür sehr
intensiver Zärtlichkeit. Edwin, der mit den Mädchen aus Aantenwördenermoor
hinter den beiden buswärts ging, stellte sich vor, dass Nadine und er so
miteinander ..also, meinetwegen auch mit einem Gummistiefel. Nur eben auch
einmal so, wie Enno und Anneliese.
Keine Chance! Zumindest im Moment noch nicht.
Auch keine Chance hatte der holländische Trucker, der Natalie die Tasche
mit dem Hund zum Bus trug. Mehr als ein hingehauchtes „Mercie, Monsieur“ war
nicht drin. Vielleicht brauchte er auch erst einmal für die nächsten 500
Kilometer nicht mehr.
Großes Glück für die Reiseleitung! Zwar nicht nach 45 Minuten dafür aber
nach einer Stunde waren alle Busse abfahrbereit. Alle Namen auf den
Teilnehmerlisten hatten ihr Häkchen bekommen und die Busse rollten von der
Raststätte weiter zur Bundeshauptstadt, weiter nach Berlin.
Es war schon auf dem Berliner Ring, als die Königin der Nacht für Unruhe
um sich herum sorgte.
„Oh, meine arme Ündschen, bist du kronk? Igitt, so eine Sauerei, hat mal
jemand Küchenrolle oder Tempos?“
„Siehst du, die ist keine Französin, die spricht akzentfrei Deutsch.“
So leicht konnte man Hella Rossmann mit ihren drei Sprachen nämlich nichts
vor machen.
Jetzt schlug Harry Röndigs große Stunde. Er hatte auf der Raststätte
einen freien Platz im Bus von Natalie ergattert. Sofort eilte er seiner Königin
zur Hilfe. Es störte ihn auch nicht die Sauerei, die ihm unter die Augen
kam. Das Hündchen hat sämtliche
wohlgemeinten Aufmerksamkeiten der Trucker Runde in und um seine Tragetasche verteilt. Harry
machte es überhaupt nichts aus, die Reste von Currywurst und Pommes Frites zu beseitigen. Auch das Hündchen hatte etwas abbekommen.
Obwohl es am ganzen Leibe zitterte, wedelte es schon wieder mit dem
Schwänzchen, als Harry ihm das Fell reinigte.
„Harry, du bist ein Schatz. Wenn ich eine echte Königin wäre, würde ich
dich jetzt fragen, ob du mein König werden willst.“
Sie gab ihm einen Kuss mitten auf den Mund und bot ihm den Sitz neben
sich an, der bis dahin für das „Ündschen“ reserviert war, das plötzlich wieder
ein Hündchen geworden war.
„Natalie, du hast eben Harry zu mir gesagt. Sonst hast du immer Arry
gesagt und das Ündschen ist jetzt ein
Hündchen. Kannst du richtig gut Deutsch?“
„Was soll das Theater. Jetzt haben es sowie so alle mitbekommen. Ich
komme aus Itzehoe und mein rischtiger, äh, richtiger Name ist Sabine Klöfkorn.
Mein Hund heißt eigentlich Hannibal aber, weil „Annibal“ sich so bescheuert
anhört, habe ich ihn immer nur „Ündschen“ genannt. Hast du gehört, mein
Ündschen, ich glaube ich nenne dich ab jetzt wieder Hannibal, wie Oma.“
Von Oma hatte Sabine Klöfkorn seinerzeit Hannibal übernommen, als das
Altenheim zusagte, dass Oma kommen könne; aber ohne Hannibal. Dabei hatten sie
Hannibal nicht einmal gesehen. Der Name Hannibal implizierte automatisch bei
halb- bis gebildeten Menschen eine Größe, der dieses Tier tatsächlich in
keinster Weise entsprach. Sabine Klöfkorn hatte sich, wie sie ihrer Oma später
berichtete, bei der Heimleiterin den Mund „fusselig“ geredet.
„Da hat Oma mich dann gefragt, nimmst du ihn, Sabine?“
„Wenn mein Chef nichts dagegen hat, kommt er zu mir. Da erlebt er
wenigstens ein bisschen mehr, als bei dir.“
Ludolf Tausendfreund hatte nichts gegen Hannibal und was der Kleine mit
dem großen Namen bei Sabine mehr erleben würde, blieb für Oma Klöfkorn offen.
Sie ging ins Heim, Hannibal wurde „Clubmitglied“ im Happy Midnight.
„Weißt du, Arry, oh nee!! Harry, ich bin richtig glücklich, dass ich
mich hier nicht mehr verstellen muss.“
Hätte Paula, die ja im anderen Bus saß, die Wandlung von Natalie zu
Sabine Klöfkorn mitbekommen, sie hätte sich sehr darüber gefreut, dass es „ein
End hat mit de Schnodder Nees“ und sie nicht mehr immer das Gefühl haben
musste, sie müsse nach einem Tempo Taschentuch suchen, wenn sie Natalie
sprechen hört.
Die Freude sollte Paula Heinsohn dann aber noch zu einem späteren
Zeitpunkt erfahren.
Dieter Schmarje und Heino
Buhrfeindt haben ihr eigenes Regelwerk
für das Autofarbenroulette leichtfertig abgeändert. Nachdem sie von Assel bis
zum Autohof Öjendorf nur zwei pinkfarbene Autos gesehen hatten, von denen genau
genommen eines eher rot war, kam ihnen die Änderung des Fahrtzieles sehr
gelegen.
„Weißt du, Dieter, eigentlich ist das
ja nun eine andere Reise, als in den Harz. Sollen wir nicht für Berlin eine
neue Farbe wählen?“
Dieter, der schon die Befürchtung
hatte, dass all die kleinen Feiglinge und Küstennebel ungetrunken auf die
Rückreise müssten, fand die Idee gut. Der Pfeil auf der Drehscheibe stoppte bei
hellgrün.
„Du, Heino, ich glaub´ du bist da
eben mit deiner Manschette rangekommen. Würd mal sagen, das ist so wie gebrannt bei „Mensch ärgere dich
nicht“.“
Heino, der aus Erfahrung wusste, dass
man nur von hellgrünen Autos auch nicht richtig fröhlich werden konnte, stimmte
Dieter zu, dass bei „gebrannt“ ein weiterer Versuch drin sein muss.
„Weißt du noch, wie wir einmal dieses
Nato oliv hatten und dann bei Lüneburg eine Kolonne Bundeswehr mit 53 Autos
kam? Da hatten wir doch auch geglaubt, dass gar nichts mehr laufen würde.“
Der Pfeil blieb beim zweiten Versuch
auf Gelb stehen. Auch nicht „so doll“; aber besser als Pink allemal.
„Aber mit Postautos?!“
„Klar mit Postautos!“
Auf dem Ring hatten sie schon 14
gelbe Autos und zwei gelbe LKW´s gesehen. Für die LKW´s mussten auch noch zwei
Feiglinge geleert werden. Es waren ja sonst nicht so viele gelbe Autos zu
sehen. Immerhin hat es bis zum Ring gereicht, dass die beiden wider besseren
Wissens aus voller Kehle sangen: „Ja, wir sind mit`m Radel da, ja wir sind
mit`m Radel da.“
Und dann?
Ganz plötzlich war die Busfahrt
zuende. In Sichtweite des Messeturmes hielten die Busse vor dem Western Inn
Hotel. Die Gruppe trennte sich fürs
erste. Am Abend waren alle zur Erkundung von Mitte verabredet. Die 60 Kolbinger,
die Hotelbetten hatten, stiegen aus, die anderen, die überwiegende Mehrzahl
fuhr in den Bussen weiter zum Jugendgästehaus Wedding. 80 Kolbinger standen
dichtgedrängt in der Eingangshalle des Jugendgästehauses. Der Herbergsvater
stand etwas erhöht auf einem Treppchen und begrüßte die neuen Gäste. Leider
hatte er nicht viel Zeit. Letzte Nacht hatte es Ärger mit einer Gruppe der
Katholischen Knaben Berufsschule Ebbinghaus bei München gegeben. Nach dem
gemeinsamen Abendgebet waren die begleitenden Patres noch einmal um die Ecke
gegangen ein Gläschen Wein zu trinken. Die Knaben, die eigentlich im Bett sein
sollten, gingen auch noch einmal um die andere Ecke ein Bier zu trinken. Sie
waren sehr gut vorbereitet auf den Dialog mit dem Herren, weniger gut auf den Umgang mit dem Alkohol.
Die Folge war, dass die meisten von ihnen sich selbst nicht wieder erkannten.
Das ging so weit, dass einer, der Xaver hieß, zu seinem Spiegelbild sagte:
„Kanns angehn, doss du im verkehrten Stuberl bischt, I hab di noch nie gsehen.“
Abgesehen davon, dass die Flure
verdreckt waren, die wenigen anderen Gäste im Schlaf gestört wurden sind noch
ein Doppelbett, ein Waschbecken und eine Tür zu Bruch gegangen. Für diesen
Abend hatten die Patres eine Beichte und anschließende Exerzitien angeordnet.
Gemeinsam mit dem Herbergsvater sollte dann erarbeitet werden, wie der Schaden
wieder bereinigt werden könnte.
Also standen Lukas, Kalle und Tina
plötzlich mit einer Schale voller Zimmerschlüssel alleine vor der
Reisegesellschaft und sollten sehen, wie sie die Kolbinger Herde auf die Räume
verteilen. Gott sei Dank war der erfahrene Henry Krohn zur Stelle. Er arbeitete
routiniert wie der Viehauktionator Poppe aus Kutenholz.
„Ich habe hier ein wunderschönes
Viererzimmer mit Bad und Toilette. Gibt
es eine Vierer Gruppe? Ja, Michel? Fang! Treffen hier in einer Stunde!“
Und so gingen die ersten Zimmer
schnell weg. Schwierig wurde es mit dem Rest. Da gab es Dreiergruppen, zu denen
niemand dazu wollte, Jugendliche verschiedenen Geschlechts und Lehrer Gerhard Langholz, der immer wieder betonte,
dass er aus Gründen, die er nun wirklich nicht vor allen nennen müsse, nur in
einem Einzelzimmer schlafen könne. Am Ende bekamen sie noch weitere Zimmer und
das wohl schwierigste Problem dieser Reise war gelöst. Zufrieden blickte Henry
auf seine jugendlichen Reiseleiter. In seiner Hand ruhte der letzte Schlüssel
und er hatte nur noch eine Person, männlich, erwachsen mit heiliger Schrift im
Gepäck und Posaune unterzubringen.
Wie mag es wohl der anderen Gruppe im
Western Inn ergangen sein? Hatte Sabine Klöfkorn ein Zimmer für sich, Hannibal
und Natalie alleine? Haben die drei, die in Wirklichkeit ja nur zwei waren,
vielleicht Harry Röndigs, ihren größten Fan aus Aantenermoor aufgenommen?
Die
Moorkönigin Anneliese Riecken musste ihre Gemächer mit der Königinmutter
Fine und einer Gemeinen, Paula Heinsohn aus Dröbermmoor teilen. Das dritte Bett
im Viererzimmer blieb leer. Es hätte das Bett des Prinzgemahls sein können.
Wegen noch nicht vollzogener Ehe musste der Zukünftige, Enno von Allwörden,
nach der strengen Etikette bei Hofe sein Nachtlager mit Edwin Buhrfeindt,
Dieter Schmarje und Heino Buhrfeindt, Vetter zweiten Grades von Edwin, teilen.
Das Zimmer der drei Frauen war klein,
aber freundlich hell. Zwei sogenannte Stockbetten standen an den Längswänden.
Hinten befand sich noch eine Tür, die zu einem Bad mit Toilette führte. Nicht
so schön war, dass das Bad noch eine Tür zum Nachbarzimmer hatte. Es musste von
beiden Zimmern genutzt werden. Schön war wiederum, dass Enno im Nachbarzimmer
eingezogen war. Das wusste aber keiner, bis …
„Is jo man lütt as ´n Kälberbox. Und
keen schall denn booben schloopen? Anneliese, du wohl!?“
„Ne, Tante Paula, das geht nicht mit
meinem Fuß.“
„Fine, ick kum dor nich rop, und wenn
doch, ick kum dor nie nich weller doohl.“
„Ick kann dor ook nich rop. Mie ward
jo all swinnelig, wenn ick nur no booben kieken do.“
Pause.
„Ich habe eine Idee. Ich schlafe hier
unten und Tante Paula und du Mudder, ihr wechselt euch ab.“
„Und wo schall ick hin, wenn se an´ne
Reech is? Is jo nich mool ´n Stoohl in düsset Karbuff.“
„Kannst ja auf dem Klo sitzen. Nee,
keine gute Idee.“
„Fine, ick glöw, ick frooch den
Busföhrer ob hei mie hüt Nach noch trüch föhrt. So geiht dat nich. In Haaz weer
dat bestimmt beeter. - Na, ja, bis op de Luchse.“
Nein, das wollte Anneliese auf gar
keinen Fall. So bot sie, die verletzte Majestät aus Dröbermmoor den beiden
Damen an, es doch einmal mit einem der oberen Betten zu versuchen. Und, wie
heißt es doch so schön, wo ein Wille ist auch ein Weg. Mit etwas Vorsicht hatte
Anneliese die Leiter zum oberen Bett bezwungen und dann auch den Abstieg
unbeschadet überstanden.
Sie ließen ihre Sachen in den Taschen
und Koffern. Für die zwei Nächte genügte es, wenn sie ihr Waschzeug auspackten.
Eine gute Stunde rollten die aus dem
Western Inn vor. Das gemeinsame Abendprogramm konnte beginnen. Vorher aber noch
Besprechung für alle im großen Speisesaal des Gästehauses. Lukas machte einige Ansagen zum nächsten Tag
und erläuterte das Abendprogramm.
„Jonas und Kalle begleiten euch zum
Potsdamer Platz. Da könnt ihr euch
eineinhalb Stunden umschauen bis euch die Busse wieder abholen. Plant bei
allem, was ihr heute noch macht, ein, dass wir morgen unseren großen Auftritt
auf der Grünen Woche haben. Die Jugendlichen gehen bitte bei den Erwachsenen
mit, die die Aufsicht für sie übernommen haben. Für die Planung und
Fertigstellung von Spruchbändern hätte ich gerne alle Majestäten hier. Ist
alles klar soweit?“
Die Kolbinger begaben sich in die
Busse und, siehe da, sie saßen nicht mehr, wie auf der Herreise. Das machte die
Anwesenheitskontrolle für Jonas und Kalle natürlich viel schwieriger.
Eine ungewohnte Ruhe im Haus. Lukas
machte eine Bestandsaufnahme. Alle Majestäten waren hier geblieben, halt, eine
fehlte. Sehr schnell stellte sich heraus, dass die Zaunkönigin entweder keinen
Bock auf Planung hatte oder, was wahrscheinlicher war, nicht gerafft hatte, was
Lukas da gesagt hatte. Außer den Königinnen
waren noch geblieben: Enno, Pastor Krohn und Schorsch Beckmann, der vom
Spielmannszug als stellvertretender Tambourmajor gewählt worden war, weil der
richtige Chef, Kuddel Witt wegen der erwarteten Geburt seines zweiten Kindes
nicht mitreisen konnte. Schnell wurden einige Tische zusammen geschoben und
alle konnten sich ansehen. Anneliese hatte leichte Schmerzen im Fuß. Gut, dass
sie ihr Bein hochlegen durfte und nicht mit in die Stadt brauchte.
Nun erwies es sich als sehr
vorteilhaft, dass die fünf Baljer schon so gut vorgeplant hatten. Lukas eröffnete die Sitzung.
„Also, damit es ganz klar ist, das
Motiv für unseren Auftritt morgen ist, wie ich euch schon heute Mittag in
Öjendorf erzählt hatte, dass wir deutlich machen, dass unser Landkreis mehr zu
bieten hat als Appel-, Blüten-, Land- oder Spargelkönigin. Nach unserem Plan bilden wir gleich nachdem
wir durch den Eingang Nord auf die Freifläche kommen unseren Zug. Vorweg gehen
Jonas und ich mit dem großen Transparent „Ferienregion Kolbingen an der
Unterelbe“. Hinter uns marschiert der
Moorer Spielmannszug, das zu organisieren ist deine Aufgabe Schorsch. Am besten
besprecht ihr euch nachher noch kurz. Und, die Brüder sollen heute keinen
Quatsch machen, wir brauchen morgen wirklich gute Musik. Hinter der Musik sollen dann die Majestäten
marschieren. Jede führt eines der Schilder da drüben mit, auf denen ein touristisches Highlight zu lesen ist. Tina
kannst du bitte einmal ein Schild zeigen. Gut so, hier zum Beispiel
„Naturfreibad Hohendeich“ und dahinter sehe ich noch „Fahrrad Land Kolbingen“. Hinter den Königinnen kommen alle anderen
mitgereisten Kolbinger und schwenken diese Tücher mit den Farben
Nordkolbingens.“
„Wo habt ihr denn die vielen Tücher
her?“ Das war Anette Kober, die
Bahnkönigin.
„Die hat Violas Vater gesponsort.
Wenn ihr genau hinseht, bemerkt ihr ganz fein aufgedruckt den Schriftzug „Kohl
Hiesel Bilge“. Wichtig ist, dass wir
dicht beisammen bleiben und, Schorsch, ganz wichtig, es muss unbedingt mit der
Musik klappen. Herr Krohn, Sie wollten noch etwas sagen?“
„Ja zwei Dinge, wir wollen die
Andacht nicht vergessen und wäre es nicht schöner, wenn die Musiker eine Gasse bilden, in der die Königinnen
laufen?“
Der Vorschlag mit den Musikern wurde
durch allgemeines Kopfnicken angenommen. Auch Schosch Beckmann sah keine
Probleme, seinen Spielmannszug gassenförmig marschieren zu lassen. Das Thema
Andacht wurde auf den nächsten Tag vertagt. Man wolle sich vor Ort einen
geeigneten Platz aussuchen und spontan entscheiden. Henry Krohn hatte kein Problem mit diesem Vorschlag:
„Mir ist es eigentlich egal, wann und
wo ich eine Andacht aus dem Ärmel schütteln, mach das ja nicht zum ersten Mal.
Apropos Ärmel, ich marschiere in vollem Ornat. Ist doch in Ordnung?“
Es gab keine Widersprüche.
Sarah Bauknecht und die Pudelkönigin
Cindy Roth, die schon die ganze letzte Minute miteinander tuschelten, fragten
an, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn man heute schon die Schilder den Majestäten
zuordnen würde. Ein Vorschlag, der ungeteilten Zuspruch fand. Sofort setzte das
große Stuhlscharren ein und die Majestäten bewegten sich zu den Schildern.
Hildegard Radlusz hatte schon „ihr“ Schild „Fahrrad Land Kolbingen“ in der
einen Hand. In der anderen Hand hielt sie „Flora Fauna Habitat“ hoch und rief:
„Frau von Lindern, hier, dieses Schild ist
doch etwas für Sie.“
Die Wachtelkönigin freute sich.
Passender konnte es nicht kommen. „Tor
nach Schleswig Holstein“ hatte sich die Fährkönigin bei Hella Rossmann
eingetauscht, die dafür das Schild „Hannoveraner Zuchtgebiet Kolbingen“ erhielt. Natalie, die
ja jetzt auch Sabine Klöfkorn heißt, griff sich das Schild „Als Gast kommen,
als Freund gehen“ und Kohl Hiesels Tochter durfte „Regionale Spezialitäten“
über dem Kopf tragen. „Kultur Land Kolbingen“ mit dem roten Kornspeicherlogo
gelangte in die Obhut der Bienenkönigin und „Naturfreibad Hohendeich“ ging an die Kneipkönigin Coolwater. Anette
Kober, wie passend, wollte für „Kolbingen – Land in Bewegung“ werben. Die Stutenkönigin, Natascha Mircowa, verstand
nichts, von dem was um sie herum geschah. Sie machte trotzdem mit und bekam
„Badeparadies Krautsand“ in die Hand gedrückt. Cindy Roth hatte noch die Wahl
zwischen „Kolbingen – maritime Perle“, „Land unter weitem Himmel“ und
„Kreativregion Kolbingen“. Letzteres nahm sich dann die Knitting Queen Liesel
Struck. Sarah Bauknecht wollte von
Natascha das „Badeparadies“, das die aber nicht heraus rücken wollte, weil sie
nicht verstand, dass Sarah ihr erklären wollte, dass doch zur Stutenkönigin
viel besser „Kolbingen – Leckereien aus
den Bäckereien“ passen würde. Letztlich hat sich Natascha den für sie
unverständlichen Argumenten gebeugt und einem Tausch der Sprüche zugestimmt.
„Ja“ oder „Nein“, was ihr Hinnerk Holtkamp beigebracht hatte, erwies sich in
dieser Situation als eindeutig zu wenig, sorgte sogar zwischenzeitlich nur für
zusätzliche Verwirrung.
„Gibst du mir nun das Schild?“
„Ja!“
„Dann lass doch los!“
„Nein!“
„Bist du bescheuert?“
„Ja!“
Erst hier begriff Sarah, dass sie es
ja mit der Königin zu tun hatte, die zwar zwei Sprachen fließend konnte, von
der jedoch keine Deutsch war.
Anneliese, die nicht so schnell war wie die
anderen, musste mit „Kolbingen – Majestäten Land“ vorlieb nehmen. „Traditionsregion Kolbingen“ wurde von Melanie Pickenpack, der
Antikkönigin, repräsentiert.
Am Ende blieb „Kolbingen – Maritime Perle“ verwaist
an der Wand. Anfangs glaubten die Kolbinger Mädchen noch, dass ein Schild mehr
als nötig gefertigt worden sei, bis Viola bemerkte, dass die Zaunkönigin gar
nicht anwesend war. Also würde Samantha Meyer morgen die „Maritime Perle“ durch
die Messehallen tragen.
Lukas ging während dieses
Königinnen Durcheinanders noch einmal
gemeinsam mit dem Pastor und Schorsch
Beckmann durch, was alles am morgigen
Tag zu bedenken sei. Treffpunkt aller Reiseteilnehmer wurde um 10 Uhr im
Jugendgästehaus vereinbart.
In der Ebertstraße hielten die zwei
vollbesetzten Busse mit den Kolbinger
Berlinbesuchern. Von einem kleinen Mäuerchen aus wandte sich Jonas
zwischen zwei Ampelphasen an seine Landsleute.
„Genau hier treffen wir uns in
eineinhalb Stunden wieder. Ihr habt alle diesen Punkt auf dem Plan, den wir im
Bus an euch verteilt haben.“
Paula Heinsohn befand sich im
permanenten Alarmzustand, seit sie im Bus realisiert hatte, dass sie und Fine
Riecken völlig auf sich allein gestellt sein würden. Sie kramte in ihrem Bohnenbüdel. Alles kam
ihr in die Hand vom hartgekochten Ei bis zur Familienflasche 4711. Als sie den
Plan endlich in Händen hielt musste sie feststellen, dass so ein Stadtplan noch
viel konfuser als das Schnittmuster war. Und lesen konnte man auch nichts ohne
Brille noch dazu bei diesem Licht.
„Fine, ick glöw wie set uus doohl
hier und töft af bis de Busse trüch kummt.“
„Pst! Ick möt mie konzentriern!“
„Ach so.“
Jonas war schon fast fertig.
„Also noch einmal. Links runter, wo
ihr die Hochhäuser seht ist der Potsdamer Platz mit dem Sony Center. Lohnt sich
da einmal durchzulaufen. Wer etwas gehen möchte läuft die Ebertstraße rechts
runter, vorbei am Holocaust Mahnmal zum Brandenburger Tor und wenige 100 Meter
dahinter zum Deutschen Bundestag. Viel Spaß und passt auf, dass niemand
verloren geht!“
Im Nu hatten sich die Kolbinger
Grüppchen die Ebertstraße rauf und runter auf den Weg gemacht. Fine Riecken
wollte sich eigentlich zusammen mit Paula an die jungen Leute hängen. Zwei von
ihnen waren nämlich gerade letzten Sommer auf Abschlussfahrt in Berlin. Sie
hätte nicht versuchen sollen, Paula den Stadtplan erklären zu wollen. Als sie
ihre Bemühungen ergebnislos abgebrochen hatte, standen sie alleine, wo man sich
bis eben noch inmitten der Kolbinger Reisegesellschaft befand. Allein in einer
Lichterflut, die es in Kolbingen annähernd so
vielleicht nur im Industriegebiet zwischen Bützfleth und der Elbe zu
sehen gibt, umgeben von Verkehrslärm der Ebertstraße. Paula hakte sich bei Fine
ein und man konnte beiden ansehen, dass sie sich in diesem Moment nichts
sehnlicher wünschten als ihr Zuhause in Dröbermmoor.
„Warst jo rammdösich hier in düsse
Stadt. Wie hold de Merkel und all de annern Politikers dat bloot ut? Dach un
Nacht! Fine, wenn wi jemools trüch tau uuse Hotel finnen deit, dann blivt wi
morn in´t Hotel. Pass op, dor kummt een mit´n Rad ohne Licht.“
Fine Riecken wollte nicht nach
Dröbermmoor zurückkehren, ohne noch ein paar mehr Eindrücke als diese hier von
der Ebertstraße. Ein zwei Mal im Jahr bewegt sie sich ja auch alleine durch Stade und jedes Mal hat sie bisher
wieder zur Bushaltestelle oder zum Parkplatz gefunden.
„Paula, soveel anners as in Stood is
dat hier ook nich, viellicht ´n lütt beeten grötter. Wi geiht eerst Mool no de
hohen Hüüs dor mit dat DB booben. Süht ut, as weer door´n Boohnhoff. Dor schall
doch wat tau kieken ween, hett Jonas tauminst secht.“
Der Mensch braucht eben nur jemanden,
der die Richtung vorgibt. Und es ist schließlich nicht das erste Mal auf diesem
Globus, dass ein Mensch in Krisensituationen, wie dieser, mit Erstaunen seine Führungseigenschaft entdeckt
und anfängt, dieses bislang unbekannte Talent neugierig aus zu probieren. Genau
an diesem Punkt befand sich Fine Riecken
jetzt. Wenn das hier kein Strohfeuer war,
drohten der kleinen Familie Riecken im fernen Dröbermmoor an der Elbe in den
nächsten Wochen erhebliche Strukturveränderungen.
Jan Riecken, der zu dieser Zeit all
sein Vieh und das von Paula noch dazu versorgt hatte, lag schlafend am Kanal in
Dröbermmoor vor dem Fernseher und ahnte noch nichts von den weitreichenden
Folgen dieser Harzreise, die nach Berlin ging.
Zielstrebig steuerte Fine Riecken die
große Kreuzung am Potsdamer Platz an. Die Fußgängerampeln waren hier auch nicht
anders als die neue Ampel im Zentrum von Kolbingerhafen. Halt! So ganz stimmte
das nicht! Paula, die an der Kreuzung die irritierende Vielfalt von grünen und
roten Lichtern auf sich wirken ließ, machte eine interessante Entdeckung.
„Fine, hest du dat ook all bemarkt?“
„Wat?“
„De lüttje Kerl op de Ampel süht anners
ut as in Kolbingerhoben, hett´n Hoot op´n Kopp und …“
„Dat is een ut´n Osten, von´ne DDR. Dat
weer doch dat Taugeständnis doormools in´n Vertdrach mit de DDR. De wull´n doch
partout wat vun de Errungenschaften des Sozialismus in die Bunnesrepublik
röbber retten. An End weer dat dann düt Ampelmännchen und de greune Piel an de
Ampel. De Piel is fast öberall verswunnen ober de lütte Kommunist op de Ampeln
is öberall op´n Vörmarsch. In Stood löpt ook all een vun de.“
„In Friedebarg und Kolbingerhooben
hebt wi oober noch keen Kommunisten, oder?“
„Tauminnst nich op de Ampeln.“
„Good so, soveel holl ick nämlich
nich vo´ne Kommunisten und eern Sozialismus.“
„Greun, Paula, wi mööt!“
Auf der anderen Straßenseite tauchen
die beiden Frauen aus Kolbingen ein in die Glitzerwelt von Geschäften, Cafes,
Restaurants, Passagen, Kinos … Eine Welt, wie sie sie höchstens bislang einmal
im Fernsehen wahrgenommen hatten. Paula stößt Fine in die Rippen:
„Kiek di denn mool an. De sit dor
mit´n Pott Münzen und, wat steiht dor op sien Pappdeckel?“
Paula baut sich unmittelbar vor dem
jungen, ungepflegten Mann auf und liest laut vor:
„Bin obdachlos und habe keine Arbeit.“
„ Is dat so slimm, junger Mann?“
Der junge Mann blickt stumm vor sich
hin. Paula denkt bei sich, wenn der Kerl nix gegen Landleben hat …
„Wenn du op´n Dörpen leben wullt und
goot tau miene Jitten[10]
büst, mi´n beeten tau Hand geihst, givt bi mi in Dröbermmoor immer wat tau
eeten und n`n Platz taun Schloopen. Is doch wat, oder?“
Keine Reaktion.
„Fine, weest wat? Dat is´n ganz, ganz
armen Dübel. Hett keen Aarbeit, keen Wohnung und blööd[11]
op de Oohrn is hei ook noch und hei secht nicht witt und nich swatt[12].“
Fine hat Mitleid und packt dem armen
Obdachlosen, der taub und stumm ist, ein 50 Cent Stück in die Schachtel. Paula
kramt in ihrem Bohnenbüdel und das erste, was ihr in die Finger kommt, ist
nicht ihr Portemonnaie, sondern eines der verbliebenen 12 hartgekochten Eier.
Und so geschah es wohl erstmalig in der Millionenstadt Berlin, dass einem
Obdachlosen direkt vor seinen erstaunten Augen ein Ei in seine Geldschachtel
gelegt worden ist.
„Kannst ruhig eeten, is vun de letzte
Week. Ick wünsch di wat! Ach Fine, man good, dat wi in Dröbermmoor leevt.“
„Door sechst du wat, Paula.“
In einem riesigen, gläsernen Innenhof
stehen viele Menschen beidseitig an einem roten Teppich. Manchmal fährt eine
Limousine vor, piekfeine Frauen und Männer steigen aus und eilen freundlich
lächelnd über den roten Teppich in das große Kino. Weil die beiden Frauen nicht
so richtig gucken konnten sind sie weiter zu den Rolltreppen im hinteren
Bereich gegangen. Fine zieht Paula gegen deren leichten Widerstand auf eine
Rolltreppe. Auf halber Strecke kommt auf der Gegenspur nach unten ein Männlein
mit Baseball Käppi und langen, dunkelblonden Haaren entgegen. Ständig macht er
Faxen.
„De hett se doch nich all!“ denkt
Paula.
Und dann ist er auf gleicher Höhe mit
ihr, glotzt sie an, grapscht mit den Händen in ihre Richtung und schreit:
„Buhhhh!“
Was hat sich die arme Paula verjagt.
Irgendwie hat sie den Kerl schon einmal gesehen. Vielleicht bei Markant in
Kolbingerhafen oder in der Apotheke? In kurzem Abstand hinter dem Verrückten
entdeckt sie die Gruppe von Jungen und Mädchen aus Aantenermoor, die ganz
aufgeregt von Treppe zu Treppe auf Paula einredeten, dass da vorne Otto sei.
„Tante Paula, hast du Otto gesehen?
Der fährt hier vor uns runter. Otto Waalkes, weißt doch. Der Ostfriese.“
Und dann waren sie weg die Kolbinger.
Otto Waalkes! Paula guckt hinter dem Käppi hinterher.
Otto Waalkes aus dem Fernsehen, hier?
Wenn ich das am Montag am Bäckerwagen
erzähle, das glaubt mir kein Schwein!
Im nächsten Moment ging ein Ruck durch ihren
Körper. Sie hatte das Ende der Rolltreppe vor lauter Gucken und Denken
vergessen und wäre beinahe lang hingeschlagen.
„So wiet kummt noch, dat ick wegen
düssen Blödmann uut Ostfreesland op de Nees fall!“
Vorsichtshalber haakt sie sich wieder
bei Fine unter. Im Möwenpick Cafe waren noch ein paar Plätze frei. Nach den
ersten Eindrücken hatten Fine und Paula sich eine Pause verdient. Kaum saßen sie, als ein
schmucker junger Mann am Tisch erschien und nach ihrem Wunsch fragte.
„Kaffee, Paula? Zwei Tassen Kaffee
bitte!“
„Espresso?
Latte Machiato? Cafe o Lait? Cappucino, die Damen?“
“Haben Sie nicht auch Kaffee nuer
so?”
„Nuuerso Kaffee haben wir nicht in
unserem Sortiment. Ich könnte Ihnen aber Kaffee schwarz oder mit Milch und
etwas Zucker bringen.“
„Junger Mann, dat is doch jüst dat
sülbe, as „nur so“, verstoht se?“
„Wir nehmen zwei Tassen schwarz mit Milch und Zucker.“
Fine hat die Situation erfasst und
Initiative ergriffen. Sie fing an, sich auf dem Hauptstadtparkett wohl zu
fühlen. Erstaunlich, wie schön warm das hier unter dem Glasdach mitten im
Januar ist. Hätte Paula nur einen kurzen Blick auf die Karte geworfen, sie
hätte noch umbestellt. Ihr Kaffee „nur so“ kostete hier nämlich 5,50 €. Dafür
gibt es bei Bäcker Lühring in Kolbingerhafen nämlich schon ein Stück Torte und
Kaffee satt.
Es war ein schönes Gefühl einmal von
den Füßen zu kommen. Für all das, was es von hier zu sehen gab, waren 5,50 €
für einen einfachen Kaffee dann vielleicht doch gerechtfertigt. Sabena
Fokken-Pätzel und ihre „Knütterschwester“ Lotte Hansen schlendern am Möwenpick
vorbei. Man kennt sich inzwischen vom Sehen und nickt sich freundlich zu. Und
noch einmal flaniert eine Gruppe, unter ihnen die Zaunkönigin und einige
Nachwuchszüchter aus Aantenwörden und Friedeberg, an ihnen vorbei. Niemand
nimmt die beiden Frauen aus Dröbermmoor in ihrem Sonntagsstaat wahr.
Halt!
So ganz stimmt das nicht.
Schon etwas weiter entfernt fiel eine
Gruppe von Mädchen und Jungen auf, die überwiegend schwarz gekleidet waren. Die
Köpfe zierten die unterschiedlichsten Frisuren bis hin zu Totalrasuren. Einige
Köpfe waren halb geschoren, ein Mädchen
trug einen Irokesen Kamm in schrillen Farben. Pink, hellgrün, hellblau
und violett waren bei diesen jungen Leuten anscheinend die Renner, um ihren
Kopfputz zur Geltung zu bringen. Als zwei mit Schnürstiefeln bekleidete
Mädchen, Silberringe durch die Lippen und den Nasenflügel, zielstrebig auf die
beiden Kolbinger Frauen zustrebten, war es um Paulas Gelassenheit endgültig
geschehen. Vorsichtshalber blickte sie schon einmal hinter sich, was sich dort
vielleicht für Rückzugswege anbieten.
Wie so oft kam es dann ganz
anders, als erwartet. Später soll Paula sogar gegenüber Mitreisenden geäußert
haben, dass diese Panks (den Begriff hatte sie seit diesem Tag gut drauf!) ja
„zu und zu nett sünd“.
„Ey Schwesta, duftes Outfit! Dit is voll retro, wo is`n
ditte her? In welch`n
Laden jibt`s `n ditte? Kieck ma hier, der Mantel, cool. Echtes Fell dranne?“
„Ey Vivi, haste
den Hut jesehn mit `m Netz dranne und och den Handbeutel, darf ick ma?!“
Fine riss ihre
Handtasche zu sich. Man hat ja schon so viel gehört.
„Nu habt da ma
nich so! Keene Angst, wa, müsst da nur sachen, in welcha Klitsche ihr dit
jekooft habt!“
„Mien Mantel is
von Hertie in Stood und Herti givt gor nich mehr und de Tasch is mien
Bohnenbüdel oober dor hev ick noch mien Handtasch bin.“
Paula wühlt die
Handtasche aus dem Beutel. Das Mädchen mit der pinkfarbenen Irokesenbürste
gerät nahezu in Ekstase.
„Kieck ma Vivi, dit gloob ick nich! Haste dit
jesehn?! Da jibt`s 10 Zeener für uff`m Flohmarjkt. Krass, lass ma mit de Hand
dranne fassen, Mutti!“
Zu Fine gewandt
fragt sie dann:
„Und – och von Stood? Wo iss`n nu die
Klitsche? Ick hab keene Ahnung, wo dit sein soll, wa?!. Ey, Mantel dufte,
Strickjacke dufte, Botten dufte. Woher habt´an dit Zeug?“
„Ich habe
eigentlich alles von Mohr in Dollern.“
„Welche Station iss`n ditte? Is dit U- oda S- Bahn?“
„Gibt es da
nicht. Dollern liegt aber an der Bahn von Hamburg nach Cuxhaven.“
„Dit habt´a
nich in Berlin jekooft? Dit is knorke! Latscht da imma so retro rum?“
„Nee, nich
jümmer. Nur Sünndach oder wenn wi mool in´ne Stadt föhrt no Friedebarg oder
Stood.“
„Ey Ferdi Komm´ ma ran hier bei mir und
machste ma `n schicket Foto mit uns und den beeden Retros. Ick gloob, die sin
aus`n Siebzigan hier jelandet, wa?!“
Die bunte Gruppe mit den beiden
begeisterten Mädchen und einem Mischlingshund zog weiter.
„Fine, wat weern dat vör welke? Hebt
de viellicht Kostümfest hier oder gehört de viellicht ook tau dat Filmfestival
mit denn verrückten Waalkes?“
„Paula ick glöv de nennt sick Panks.
Nette Deerns. Good, dat Annelies dat nich mitkreegen harr. Annerwies kummt se
noch op dulle Gedanken. Wi hebt nur noch´n halbe Stünn. För dat Brannenburger
Tor reckt de tiet nich und ook den Bunnesdach künnt wie uus afsminken. Möt wie
viellicht noch een anner Mool no Berlin föhrn. Ick meen, wi blivt noch`n beeten
sitten und denn bemöht wi noch mool denn lütten Sozialisten an`ne Ampel bi de
Krüzung.“
„As du meenst, Fine.“
Mit nur wenig Verspätung konnten die
Busse von der Ebertstraße zurück zum Gästehaus fahren. Im Speisesaal gab es die
Instruktionen für den nächsten Tag. Die Western Inn Gruppe machte sich auf den
Weg zu ihrem Hotel und auch die zurückgebliebenen Kolbinger suchten ihre Zimmer auf. Es war ein langer Tag und für
jeden auf seine Art ein anstrengender Tag. Nicht ohne Spannung erwarteten die
Nordkolbinger ihren Auftritt auf der Grünen Messe. So manch ein Musiker putzte
vor dem Schlafengehen noch einmal sein Instrument.
Das Haus wurde ungewohnt schnell
ruhig. Die Bayernjungen mussten Reue zeigen und durften ihren Patres mit nichts
zeigen, dass es ihnen mit der Reue vielleicht nicht ernst sei. Und die
Kolbinger waren zum größten Teil aus dem Alter raus, dass sie sich die halbe
oder ganze Nacht um die Ohren hauen mussten. Oder sie machten es auf eine Art,
die nicht zu hören war.
Wo war Samantha Meyer eigentlich
abgeblieben?
Paula, für Anneliese Tante Paula, ist
über die Jahre des Alleinseins die Vertrautheit mit der Nacktheit abhandengekommen.
Sogar in ihren eigenen vier Wänden wechselt sie inzwischen schon sehr schnell
die Wäsche, damit sie nur nicht in die Verlegenheit gerät, sich selbst nackt
sehen zu müssen. Und nun hier in Berlin mit Fine und Anneliese Riecken in einem
Zimmer. Den ganzen Tag hatte sie der Gedanke an den Abend schon bedrückt. So
schlimm, wie befürchtet, war das dann aber gar nicht. Fine war im Bad und hatte
etwas mit ihren Zähnen gemacht und Anneliese lag schon mit dem Gesicht zur
Wand. Das war die Gelegenheit. Runter mit den Klamotten bis auf Unterhose und
Korsett und dann schnell das schwere Nachthemd überziehen. Nachthemd und
Korsett kannten sich schon gut aus ganz anderen Zeiten. Beide Kleidungsstücke
gehörten zu dem Erbe, das ihre Schwiegermutter, also Hinrich Heinsohns Mutter, ihr
hinterlassen hatte. Beide Teile waren vermutlich Vorkriegsware von einzigartiger
Qualität. Beim Korsett musste Paula Heinsohn lediglich zweimal die Schnüre
auswechseln, weil sie zu brüchig geworden waren und ständig beim Strammziehen
zerrissen. Das hatte aber nach dem letzten Bändertausch ein Ende. Da hatte Paula
nämlich schwarzes Strohband aus Kunststoff durch die vielen, vielen Oesen des
Korsetts gefädelt.
Dass Korsett und Nachthemd auch schon
viele gemeinsame Nächte miteinander verbracht haben, verdanken sie dem Umstand,
dass Paula manchmal das Getüdel mit den ganzen Schnüren leid war und sie dann
einfach, wie jetzt hier in Berlin, das Nachthemd über das rosafarbene
Wäschefossil streifte. Das hatte dann wiederum den Vorteil, dass das Ankleiden am nächsten Morgen erheblich schneller ging. Aus
Gründen der Zeitökonomie war das gut. Nicht so gut war, dass an solchen Tagen der
Verbrauch an 4711 rapide stieg– allemal dann, wenn Paula in die „Stadt“ nach
Friedeberg oder Kolbingerhafen musste.
Das alles hätte ich natürlich auch
für mich behalten können. Dann allerdings wäre für die Leserinnen und Leser viel
schwerer nachvollziehbar, wie Enno und Heino, ein jeder auf seine Art, traumatisiert aus ihrer ersten Berliner Nacht
herausgingen.
Es kam, wie es kommen musste.
Irgendwann in der Berliner Nacht machte sich bei Paula Heinsohn ein dringendes
Bedürfnis bemerkbar. Es dauerte ein wenig bis sie die Orientierung wieder
hatte. Dann lief eigentlich alles glatt. Sie hatte sogar noch den Badschlüssel
hinter sich umgedreht. Erst im Hinsetzen
nahm das Verhängnis seinen Lauf. Das Strohband verhakte sich mit dem
Druckspülknopf und permanenter Wasserfluss setzte ein. Paula, die mit dieser
Technik überhaupt noch nicht vertraut war, weil man bei ihr zuhause noch an
einer Kette ziehen muss und sie andernorts nur Drucktasten im oder am
Spülkasten kennen gelernt hat, war ob des anhaltenden Wasserflusses zutiefst
verunsichert. Nach kürzester Zeit war
sie sich nicht mehr sicher, ob die Wassergeräusche von ihr kamen. Panik machte
sich breit die in laute Hilferufe mündete.
„Fine, Fine, hölp mi, ick glöv ick
piss mie doot!“
Fine und Anneliese schreckten aus
ihrem leichten Schlaf hoch. Die Hilferufe kamen aus dem Bad. Da kamen sie aber
nicht weiter, weil Paula sich eingeschlossen hatte.
„Kann mi denn keen een hölpen? Hört
mie denn keen een?“
Nur gut, dass Enno im Nebenzimmer erwachte.
Er tapste zum Bad, öffnete die Tür. Auf einen Schlag war er hellwach wie nach
einer eiskalten Morgendusche. Da hockte Paula Heinsohn auf der Kloschüssel und
schrie aus vollem Hals. Vom Knie abwärts hing ein dicker, rosafarbener
Schlüpfer.
„Enno, Jung, di schickt de Himmel.
Hölp mi Jung, hölp mi, ick sitt hier fast und ick glöv ick piss mi doot.“
Enno erfasste die Lage mit einem
Blick und befreite Paula vom Spülventil. Sofort hörte die Spülung auf und in
die Stille hinein sprach Heino Buhrfeindt, der plötzlich im Türrahmen stand:
„Enno, was machst du hier? Komm
wieder zu Bett!“
Enno schob ihn aus der Tür, die er
dann schnell hinter sich zuzog.
Manchmal ist es doch ganz gut, wenn
eine Toilette zwei Türen hat.
Paula kam später zum Frühstück, weil sie
das Zimmer noch etwas für sich haben wollte. Mit Herzklopfen ging sie in den
Frühstücksraum. Bestimmt wüssten schon längst alle, welch Missgeschick ihr in
der Nacht widerfahren war.
Oh Wunder!
Niemand nahm Notiz von ihr. Anneliese
und Fine machten Platz für sie und Enno winkte kurz rüber.
Noch eben bevor Paula im Speiseraum
erschienen war, hatte Heino Buhrfeindt an seinem Tisch von einem Traum erzählt.
„So etwas Verrücktes erlebt man nur
im Traum! Paula Heinsohn lautschreiend auf dem Lokus und Enno von Allwörden
daneben!“
Enno lachte mit, dachte aber für
sich:
„Nicht nur im Traum, Heino, nicht
nur.“
Für Enno war es Ehrensache, das in
der vergangenen Nacht Gesehene für sich zu behalten. Paula Heinsohns
Dankbarkeit zeigte sich darin, dass sie während des Frühstücks noch einmal kurz
rüber an Ennos Tisch ging und ihm wortlos eines ihrer hartgekochten Eier auf
den Tisch legte.
„Hat alles seine Gründe“, war Ennos
Antwort auf die fragenden Blicke der Tischrunde.
Paula Heinsohns Eiervorrat müsste
sich auf elf reduziert haben. Langsam verlor der Bohnenbüdel an Umfang und
Gewicht.
10 Uhr, Samstagmorgen.
Die „B-Mannschaft“ der Kolbinger
stand pünktlich zur vereinbarten Zeit draußen an den Bussen. Die Königinnen
hatten ihre Prunkgewänder angelegt und sich ihr Schild geholt. Samantha Meyer,
die Zaunkönigin, sagte jedem und jeder, ganz gleich ob sie es hören wollten,
dass sie überhaupt keine Ahnung hätte, was hier heute abgehen sollte.
Damit erzählten niemandem etwas
wirklich Neues.
Mehrmals wurde ihr das Schild, das
sie wie die anderen Mädchen auch aus der Zimmerecke geholt hatte, von einer
anderen Königin aus der Hand genommen.
„Gib her, das ist meins!“
Zuletzt griff sie zu
„Kolbingen-Maritime Perle“ und umklammerte die Latte mit tiefster
Entschlossenheit dieses Schild nicht wieder herauszurücken. Zu ihrer großen
Verwunderung trat der Verteidigungsfall nicht ein. Sie hatte einfach nicht
bemerkt, dass das letzte Schild, das dort noch in der Ecke gestanden hatte,
niemanden interessierte – es war ja das ihr zugedachte!
Die Musiker trugen ihre Uniform mit
den weißen Jacken und Schirmmützen. Ein bisschen sahen sie aus wie die
Bediensteten der Friedeberger Molkerei, damals noch, als sie noch nicht
abgerissen war. Viele der Spielleute standen im Pulk und gaben Rauchzeichen.
Nur echte Indianer konnten die blau-weißen Wölkchen richtig deuten:
„Es-geht-erst-los-wenn-wir-fertig-haben“
Lukas pfiff einige Male aber die
Kolbinger waren viel zu aufgeregt, um das Signal als Aufforderung zum Zuhören
zu begreifen. Erst als Henry Krohn die ersten Takte von „Ein feste Burg..“ auf
der Posaune blies, erhielt Lukas die gewünschte Aufmerksamkeit. Gemeinsam mit
dem Pastor, der in Arbeitskleidung (Talar) erschienen war, wurde der Zug so
aufgestellt, wie er in Kürze auf dem Messegelände in Erscheinung treten sollte. Die Proberunde
einmal um die Busse klappte schon ganz gut und ganz besonders die rausgeputzten
Königinnen im Musikerspalier machten gute Figur. Das Gefolge der Majestäten
schwenkte die bunten Kolbingentücher mit dem zarten Schriftzug Kohl Hiesel
Bilge.
Anneliese marschierte in der ersten
Reihe der Majestäten. Bildschön sah sie aus. Wahnsinn, was dieses Mädchen in den
letzten Monaten aus sich gemacht hatte! Schade, dass Papa Jan sie so nicht
sehen konnte. Gut, dass Enno immer mal wieder ein Foto mit seinem Smartphone
machte. Leider war der Fuß immer noch zu dick für den guten Schuh. Schweren
Herzens musste die Moorkönigin noch einmal in Jan Rieckens Gummistiefel
steigen.
Anneliese war in dieser
Reisegesellschaft nicht die einzige Person mit Kummer. Heino Buhrfeindt setzte
seine Trompete an die Lippen und wartete auf das Einsatzzeichen von Schorsch.
Als das dann endlich kam, brachte Heino keinen Piep aus seinem Instrument.
„Sehr witzig, haben wir doch alles
schon gehabt“, dachte er während er das Mundstück abzog um die Krakauer aus dem
Rohr zu ziehen. Als er dann aber seine
inzwischen völlig aus dem Gedächtnis verlorene Würstchenbremse entdeckte, ging
ein glückliches Lächeln über sein Gesicht.
„Siehste, hat doch geklappt! Kein
Würstchen drin!“
Leider hatte der pfiffige Erfinder
aus Dröbermmoor seine Wurstbremse eingesetzt, nachdem er gerade zuvor längere
Zeit auf seinem Instrument geübt hatte. Ein anderer großer Erfinder, Leonardo
da Vinci, hätte vorhergesehen, dass die Spucke im Rohr das Holz der Wurstbremse
aufquellen lassen würde. Die Proberunde der Kolbinger näherte sich dem Ende,
als Heino Buhrfeindt immer noch versuchte, das kleine Stückchen Holz aus der
Trompete zu fummeln. Das sollte ihm erst während der Busfahrt zum Messegelände
gelingen und auch nur, weil sein Cousin 2. Grades, Edwin, ihm mit einem
„Multifunktionstool“ der Kreissparkasse
weitergeholfen hatte. Dieses Werbegeschenk, fast identisch mit den Schweizer
Armeemessern, hatte Edwin für das gute Abschneiden seines Teams beim
Börsenspiel der Sparkassen überreicht bekommen.
Heinos Freude an der geglückten
Operation zeigte sich sehr zur Freude aller Mitreisenden in einem fetzigen
Trompetensolo.
Das gute alte Taschenmesser – schon
oft tot gesagt;
schmerzlich vermisst, wenn es
gebraucht wird
und hochgeschätzt in Momenten allergrößter
Not.
Etwas zäh bewegte sich die Gruppe der
Nordkolbinger vom Messe ZOB auf den Eingang Nord zu. Die meisten hielten ihr
Freiticket schon in der Hand, wenn die nicht schon belegt war durch Handtasche,
Musikinstrument oder Zigarette. Bei den Rauchern hatte das Gerücht, dass auf
dem Messegelände nur in dafür vorgesehenen Raucherzonen geraucht werden dürfe,
blitzschnell die Runde gemacht. Also
vorsichtshalber schnell noch eine durchziehen im freien Luftraum Berlins.
Über den Eingängen blinkten rote
Hinweise abwechselnd in Englischer und Deutscher Sprache: Sicherheitskontrolle
– Safety Controll- Sicherheitskontrolle- Safety Controll….
Einige Kolbinger mussten nach dem
Durchlaufen des Ganzkörperscanners ihre Taschen auspacken. Edwin Buhrfeind
durfte sein Taschenmesser nicht mit aufs Messegelände nehmen und auch Fine
Riecken musste auf ihren geliebten Kartoffelschäler, den sie immer zum
Apfelschälen brauchte, verzichten.
„Sagen Sie bitte, was wollen Sie mit
diesem Messer auf der Messe?“
„Wissen Sie, die Jonagold, die ich
immer von Suhr hole, haben so eine harte Schale. Und die verhakt sich dann
immer unter meinem Gebiss. Gucken Sie mal hier…“
Als Fine Anstalten machte, ihre Zähne
auf den Tisch zu packen, winkte der Sicherheitsangestellte ab.
„Lassen se mal stecken, ick gloob
Ihnen dat ooch, wenn se die Beißerchen drinnen lassen. Dat Messer bleibt aber
hier.“
Fine bekam eine Nummer, unter der
ihre „Waffe“ abgelegt war, und durfte gehen.
Ein junges Mädchen vom Sicherheitspersonal ließ sich Heinos
Trompete geben und zog zielstrebig das Mundstück vom Instrument. Sie staunte
nicht schlecht, dass der Schatten auf dem Bildschirm sich als kleines
Holzstückchen entpuppte. Heino konnte ihr natürlich sofort die Hintergründe
erklären.
„Ich hatte vorhin auch schon geguckt.
Diesmal war keine Wurst drinnen. Nur, weil ich hier diese Wurstsperre eingebaut
habe. Meine Erfindung. Gut nicht? Die stopfen mir sonst immer sonstwat in meine
Trompete.“
Die junge Frau nickte, obwohl sie
rein gar nichts verstand. Sie war es gewohnt, dass sich immer ein gewisser
Prozentsatz Spinner unter den Messebesuchern befand. Dieser hier musste eine
ganz besondere Macke haben, aber ungefährlich! Was soll´s, es war ihr Job auf
Auffälligkeiten zu achten und es erfüllte sie schon mit ein wenig Stolz, dass
ihr diese Unregelmäßigkeit in der Trompete aufgefallen war. Hätte ja auch ein
Röhrchen mit Plastiksprengstoff sein können.
„Sie können weiter gehen.“
Nicht ganz so glimpflich verlief die
„Safety Controll“ bei Paula Heinsohn. Gleichmäßige ovale Schatten machten das
Personal am Bildschirm stutzig. Es wurde noch eine zweite Kraft zur Beratung
hinzugezogen und gemeinsam kam man zu dem Entschluss, keine Risiken eingehen zu
wollen. Paula wurde in einen Raum etwas abseits geführt. Der Raum war offen zur
Eingangshalle hin. Frau Heinsohn aus Dröbermmoor war wieder einmal zutiefst verunsichert.
„Wat wüllt de von mi? Wo blivt de
annern? Fine und Anneliese? Ach, dor steiht se jo bi´n Paster.“
„Stellen Sie Ihre Tasche bitte dort
auf dem Boden ab.“
Bloß nichts falsch machen! Als die
Tasche an der angewiesenen Stelle abgestellt war, führte einer von der
„Security“ einen Hund an die Tasche. Das hatte Paula schon einmal im Tatort
gesehen. Hier war das aber viel aufregender „weil man nichts nicht wusste“. Der
Hund schnupperte und umkreiste schwanzwedelnd die Tasche und versuchte dabei
immer mal wieder, mit einer Pfote in die Tasche zu gelangen.
„Sprengstoff ist da nicht, der hat
etwas anderes gefunden.“
„Ja, das ist mein Proviant, Düvel
ook. De Jiffel ward doch nich mien letztes Bodderbrood dor rut holn?“
Paula wollte an ihre Tasche wird
jedoch recht ruppig von einem Uniformierten zurückgerissen. Ein anderer hebt die Tasche auf den Tisch und
beginnt sie vorsichtig auszupacken.
„Guck mal, was ich hier habe, das
erklärt die merkwürdigen Schatten auf dem Schirm.“
Paula ist das gar nicht lieb, dass
hier wildfremde Personen ihre Tasche durchsuchen. Sie wirft die Arme in die
Luft und blickt ratlos zum Pastor, der den Blick als Hilferuf seines verirrten
Schäfleins missdeutete. Henry Krohn, ebenfalls uniformiert, schiebt sich durch
die Menschen bis hin zu Paula Heinsohn.
„Sehen Sie denn nicht, dass diese
Frau völlig harmlos ist. Sie gehört meiner Gemeinde an und ich schwöre, dass
diese Frau niemandem etwas tut geschweige denn, dass sie ein Sicherheitsrisiko
darstellt.“
„Und die Eier hier? Noch nie etwas
von Eierwerfern gehört?“
„Ich glaub es nicht. Das ist der
Reiseproviant von Frau Heinsohn. Geben Sie mal her, ihre Wurfgeschosse. Alles
hartgekochte Eier.“
Pastor Krohn hatte sich schon richtig in Rage geredet. Um die
Harmlosigkeit der Eier zu beweisen griff er ein ums andere Ei, schlug es gegen
seine Stirn, so, dass die Schale platzte. Jedes Klacken der Eierschale an
Pastors Hirnschale, kommentierte er mit „Sehn Sie?“ Klack „Sehen Sie?“ Mit dem
vierten Ei hatte der Gottesmann einen unerwarteten Volltreffer gelandet.
Inzwischen drängten sich die meisten Kolbinger vor dem Raum und verfolgten das
Geschehen um ihren Pastor und Paula Heinsohn.
„Sehen Sie?“
Platsch!
Ruhe!
Zuerst waren die Zuschauer wieder da.
Aus anfangs zögerlichem entwickelte sich ein befreiendes Lachen, das so laut
war, dass alle Menschen im Eingangsbereich rüber schauten. Paula und der
Pfarrer waren fassungslos. Paula, weil sie sich nicht erklären konnte, wie sich
ein ungekochtes Ei sich unter die hartgekochten „Harzeier“ mogeln konnte. Diese
Sauerei hatte den Gottesmann in eine Art kurze Schock Starre verfallen lassen.
Mit Sekundenverzögerung fiel er in das allgemeine Gelächter ein und begann sich
das Eigelb mit einem Tempotaschentuch aus seinem weißen Haar und vom Talar zu
wischen. Auch die Sicherheitskräfte mussten lachen.
„Von wegen hartgekocht! Packen Sie
ihre Sachen ein und viel Spaß auf der „Grünen Woche“.“
„Danke“, antwortete Paula, „ick bliv
oober nur eenen Dach.“
Nee, die ganze „Grüne Woche“, das
hätte sie niemals ausgehalten. Sie war jetzt schon an die Grenze dessen
angelangt, was eine Witwe aus Dröbermmoor
in den „allerbesten“ Jahren in der Lage ist zu ertragen.
Hinter dem Palais, im gebäudeumsäumten
Sommergarten organisierten Lukas, der
Pastor und Schorsch Beckmann den Zug der Kolbinger Majestäten. Nur gut, dass
sie es schon einmal geprobt hatten. Es klappte alles wie am Schnürchen. Nur die
Zaunkönigin stand hinten im Zug bei ihren neuen Freunden, den Jungzüchtern aus
Friedeberg und Aantenwörden. Wunderschön die Königin aus Eriksheil aber leider
„total durchgeschüsselt“ wie Kalle immer über sie zu sagen pflegte.
Was nun in allernächster Zeit seinen
verhängnisvollen oder auch glücklichen Verlauf nehmen sollte, hatte die
Kolbinger Reisegesellschaft einer Links-, Rechtsschwäche von Jonas zu
verdanken. Laut Plan sollte der Zug Halle 25, die Niedersachsen Halle
aufsuchen. Dort wollten sie dem Stand der vier Königinnen aus dem Alten Land, der
Stader Geest und aus Kolbingen einen Besuch abstatten. Nach einem Ständchen für
die Majestäten wollte man sich nach einem geeigneten Plätzchen für die Andacht
umsehen.
„Wenn ´s geht unter Dach“, wurde von Henry
Krohn gewünscht. Er hatte berufsbedingt guten Kontakt zum Himmel. Der
Wetterbericht für Berlin sah heute den einen oder anderen Schauer vor. Danach
wollten sie durch weitere Hallen ziehen, für ihr Kolbingen werben und
vielleicht diese oder jene nationale oder sogar internationale Königin zum
Mitmarschieren zu bewegen. Lukas hatte sich gegen Kalle ausgetauscht. Kalle
hatte keine Ahnung, wo sie hin mussten. Jonas wusste ja Bescheid, Lukas hatte
es ihm ja erklärt.
„Rechts um dieses Rondell und dann
gehst du direkt auf Halle 25 zu.“
„Ja, ja!“
Jonas war etwas genervt darüber, dass
sein Bruder sich immer mehr als „Mister Superorganisator“ auf dieser Reise aufspielte.
„Bin doch nicht blöd!“
Die Musik begann verabredungsgemäß
mit dem von der Lehrerlegende Robert Schulz komponierten Kolbinghymne. Jonas und Kalle mit dem Transparent „Ferienregion Kolbingen an der Unterelbe“
setzten sich in Bewegung. Rechts um dieses Rondell übersetzte Jonas mit seiner
Richtungsschwäche in links um das Rondell und dann geradeaus. Bei „geradeaus“
spielte Jonas Schwäche Gott sei Dank keine Rolle. Lukas bemerkte den Fehler
sofort; aber, weil er durchaus schon die Gereiztheit seines Zwillingsbruders
verspürt hatte, sagte er sich, dass es nichts schade, wenn sie die
Niedersachsenhalle mit etwas Verspätung erreichen würden. Die „Rattenfänger aus
Bilge“ führten ihre Kolbinger Gefolgschaft direkt durch die große Eingangstür
in Halle 8. Über der Tür stand „Partner Country Estland“. Kaum das die letzten
Tücher schwingenden Kolbinger Halle 8 betreten hatten stürmten zwei junge
Männer im Maßanzug mit Glatze und Kurzhaarschnitt und einem dünnen
Mikrofondraht unter dem Kinn mit ausgebreiteten Armen auf die Kolbinger zu.
Aufmerksame Beobachter und regelmäßige Tagesschaugucker hätten die Anzugtypen,
die mit ihren Mikrofonen überall in Halle 8 verteilt waren, eigentlich sofort
erkennen müssen. Es waren lauter nichtuniformierten
Männer, die dennoch so viel Gemeinsamkeit aufwiesen, dass man sie, hätte man
alle Menschen in dieser Halle nach Gruppen mit gemeinsamen Eigenschaften
sortieren sollen, in einer Gruppe wiedergefunden hätte. Ein gemeinsames Merkmal
bestand darin, dass ihre Köpfe sich, soweit es die Halswirbel zuließen, ständig
in Drehbewegung von links nach rechts und wieder zurück befanden.
Zwei dieser durchtrainierten Mikrofonträger versperrten
nun also Jonas und Kalle den Weg. Der Zug stockte. Die hinteren bemerkten den
Halt zu spät und schoben ihre Vordermänner weiter. Die Musik verklang.
Was bilden sich diese
Großstadtschikkis eigentlich ein? Stoppen hier den Kolbinger Zug der
Majestäten. Harry Röndigs, Paul von Thun, Heini Holthusen und Krischan
Eggerkamp bauen sich bedrohlich vor den Maßanzügen auf. Deren Köpfe fangen nahezu an zu rotieren beim
Versuch, die Lage zu erfassen.
„E-Case! E-Case! Wir brauchen
dringend Verstärkung Richtung Eingangstür.“
Auch der zweite, der mit dem total
kahlen Kopf sprach jetzt immer eindringlicher in sein Mikrofon.
„E-Case! E-Case!“
Die Jungs aus Aantenwördenermoor und
Dröbermmoor hatten ihre Instrumente beiseitegelegt. Es sah so aus, als würden
diese sonst so feinsinnigen Musiker gleich ganz andere Arbeit bekommen. Keiner
konnte nachher mehr sagen, wie es zu der Prügelei gekommen war. Erst ein
Pistolenschuss in die Hallendecke brachte die Kolbinger zur Besinnung. Inzwischen
waren noch mehr Mikrofonträger unter dem Transparent „Ferienregion Kolbingen an
der Unterelbe“ angekommen und redeten aufgeregt auf die Kolbinger ein.
„Bitte verlassen Sie die Halle! Bitte
verlassen Sie sofort die Halle!“
Paul von Thun befand sich im festen
Griff eines Personenschützers. Er konnte die Halle nicht mehr verlassen.
Etwas weiter im Innern der Halle, am
Stand einer Estnischen Kartoffelschnapsbrennerei fanden sich zwei Frauen, die bis eben noch
fröhlich den Estnischen Wodka verkostet hatten, umringt von
mikrofontragenden Anzugtypen, die Köpfe
flogen hin und her wie bei einer Erdmännchenfamilie, die so tat, als würde sie
einem Formel I Rennen zuschauen.
„Frau Kanzlerin, Majestät, Sie müssen
hier sofort raus. Folgen Sie mir bitte!“
Die Kameras mehrerer Fernsehsender
waren auf die beiden Orte des Geschehens gerichtet. Überall blitzten die Lampen
der Kameras. Niemand der vielen in Halle 8 anwesenden Reporter und Redakteure
wollte sich diese Sensation entgehen lassen. Tumult während des Besuches der
Schwedischen Kronprinzessin Viktoria auf der Grünen Messe!
Dabei war bis dahin alles so
harmonisch verlaufen. Erst gemeinsames Frühstück im Kanzleramt in Anwesenheit
der schwedischen Botschafterin und des deutschen Botschafters in Stockholm. Dann
folgte die gemeinsame Fahrt zur Grünen Messe. Die Kronprinzessin vertraute den
deutschen Sicherheitsdiensten und lässt sich nicht zusätzlich von eigenen
Leuten bewachen. Der Rundgang durch die Halle des Partnerlandes und der Halle
26 a mit einigen schwedischen Ausstellern gestaltete sich etwas schwierig, weil
beide Frauen nicht nur die hohe Verantwortung für ihren Staat verband sondern,
bei dieser Begegnung ganz besonders, das gemeinsame Handicap. Beide Frauen
hatten gerade einen Skiunfall und konnten sich nur eingeschränkt mit Krücken
bewegen. Die Kanzlerin ließ sich gelegentlich sogar im Rollstuhl von Termin zu
Termin schieben. Da kam den beiden
Frauen die einladende Atmosphäre der Wodkabrennerei sehr gelegen. Sehr zur
Freude der begleitenden Fernsehteams ließen sich Kanzlerin und Kronprinzessin
zur Verkostung verschiedener Brände aus baltischen Kartoffeln einladen. Der
rührige Brennerei Manager schaffte vom Nachbarstand noch schnell zwei kleine Polster herbei, damit seine Gäste die
Füße hochlegen konnten. Nachdem die beiden Frauen sich köstlich über
übereinstimmende Marotten ihrer Lebensgefährten ausgetauscht hatten, wagte
Kronprinzessin einen kühnen Vorstoß.
„Sssagen Sssie, Frau Bundeskanzler,
ich bin die Kleinigkeit an Jahre von uns beide. Trotzdem will ich probieren du
sagen ssu mich in die Sssukünft. Sssagen
Sssie ruhig Victoria sssu mir.“
„Dat macht doch gar nichts. Unter
uns, scheiß auf die Etikette, Victoria, ich bin die Angela. Kannst aber auch
Änschi zu mir sagen. Oh, dein Glas ist leer. Herr Direktor, können wir
vielleicht noch einen?“
In dem Moment, als der baltische
Kartoffelbrand sich seinen Weg durch die Hälse der frischgebackenen
Duzschwestern bahnte, peitschte der Knall der Pistole durch Halle 8.
Nichts war mehr, wie zuvor. Überall
Personenschützer um sie herum. Ein aufgeregter Beamter möchte gerne die beiden
Damen durch einen Hinterausgang in Sicherheit bringen. Victoria war die Sicht
versperrt, sie möchte gerne wissen, was sich dort am Eingang von Halle 8
abspielte. Der Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sind die Krücken
weggerutscht. Sie musste auf die Knie gehen, um sich ihre Gehhilfen zu
beschaffen. Die schlechten Fotos, die später von dieser Szene durch den
internationalen Blätterwald gingen, dienten zur Illustration der
gegensätzlichsten Berichterstattung. Die Malmö Nyheder schrieb, dass die
Kanzlerin nach dem vierten Wodka das Gleichgewicht verloren hatte und nur noch
auf allen Vieren vorankam. Das war etwas gehässig und entsprach der weniger
deutschfreundlichen Grundhaltung dieses Organs.
Bilder Zeitung wusste zu berichten, dass höchstwahrscheinlich ein
Querschläger der Kanzlerin die Krücke weggerissen hätte. Einzig die Süddeutsche
hat einigermaßen tatsachengerecht berichtet.
Ein Beamter kommt von der Gruppe der
Kolbinger zum Wodkastand und klärt Kanzlerin und Kronprinzessin auf, dass alles
ein riesiges Missverständnis gewesen sei. Der andere Beamte, vermutlich ein Vorgesetzter, will die beiden Frauen immer noch evakuieren. Er
möchte auf gar keinen Fall einen Fehler machen. Statt seiner erwarteten
Beförderung drohte Strafversetzung an das deutsche Konsulat in Timbuktu, wo man
in diesen Zeiten der Kämpfe zwischen rivalisierenden Nomadenstämmen nicht
genügend qualifizierte Personenschützer haben konnte.
„Victoria, komm mit, wir müssen
gehen. Wir befinden uns soeben in einer unübersichtlichen Gemengelage.“
„Lass mal, Angela, in Sssweden sssind
wir nicht ssso furchtssam. Wir sssind näher an die Folke dran. Deine Officern
hat doch sssagen keine Gefär in Vollsssug. Ich will kennenlernen diessse froligte Persone mit die Musike.“
Und schon humpelte die schwedische
Kronprinzessin etwas abgeschirmt von einigen Beamten auf die Kolbinger zu. Sie
konnte sich keinen Reim aus den teilweise zerzausten Musikern, dem Pastor
und den 16 schmucken Königinnen mit
ihren bisweilen sehr skurilen Kronen und Krönchen machen.
„Hej, ich bin die Kroneprinzesssin
von Sssweden. Und wer sssind Sssie? Ich
ssseh auch mange Konniginne? Ssseer
sspannend die Konnigin mit die kleine Pietzmatz.“
„Piepmatz“, rutscht es dem Pädagogen
Langholz heraus. „Entschuldigung Majestät.“
„Maxt nix. Meine Deutsch ist nicht
ssso gut. Mein Oma in Munchen hat mich immer gesungen eine Lied mit kommt eine
Voogel geflogen.“
Die Kanzlerin hat sich gegen die
ausdrückliche Empfehlung ihres Sicherheitschefs mit ihren Krücken bis an
Victoria herangearbeitet. Ganz geheuer
ist ihr die Angelegenheit nicht. Ohne die Wodka Verkostung hätte sie sich wohl
nicht so leichtsinnig verhalten.
Anneliese bekam Probleme mit
ihrem verletzten Fuß. Sie konnte nicht
mehr stehen und humpelte zu Enno rüber. Durch ihr Gehumpel zog sie die
Aufmerksamkeit der Kronprinzessin auf sich.
„Majestät Moorekonnigin, han du auch eine Skkiunfall? Was ist das mit
ihre Fuß? Ich ssseh eine Wellington Boot.“
„Scheiße, Scheiße, Scheiße“, ging es
Anneliese durch den Kopf, „das ist die echte Kronprinzessin von Schweden und
die dahinter ist unsere Bundeskanzlerin. „Wie soll ich mich benehmen? Was sagt
man zu der?“
„Nein, Majestät oder Frau
Kronprinzessin..“
„Meine Name ist Victoria. Wie heißen
Sssie?“
„Anneliese, Anneliese Riecken.“
„Und was Anneliese mit die Fuß
gemacht?“
„Umgeknickt, Majes, äh Victoria, auf
dem Moorpatt in Dröbermmoor.“
„Und, wie sssagen du, in Drömeroor
kann man gut Skiing machen?“
„Nein, ich bin nur so gelaufen und
dann über eine Birkenwurzel gestolpert. Mein Fuß passte nicht mehr in den guten
Schuh. Deshalb habe ich den Gummistiefel von meinem Vater an.“
„Ah, Gummistiefel ist die Wört für
Wellington. Hat Oma auch ssso gesssagt. Ich kann wieder erinnern. Nach Oma Tod
ssprecke wir nix mehr so mange Tysk. Mama speak deutsch manchmal, wenn ssie
Papa ihr ärgert. Affäre, weißt du? Ich habe wundersame Idee. Angela komm zu
hier, wir machen eine Foto mit Königin Anneliese. Könnt ihr nicht maken eine
wenig Musike? Ssswedisch Naschionalhymne?“
Schorsch Beckmann bekam einen roten
Kopf. Wenn ihm das alles jemand früher gesagt hätte, er hätte niemals den
Spielmannszug in Berlin angeführt. Es war alles ein wenig zu viel. Kronprinzessin,
Bundeskanzlerin und all die Kameras.
„Tschuldigung, wir können
Deutschlandlied, Mama mia von Abba und das Lied von unserer Königin, äh
nee,ähh..“
„Was meinst Sssie mit Lied von
Konningin?“
„Es ist das Anneliese Lied, das
können wir wirklich gut, weil, weil wir haben es sehr oft gespielt, und..“
„Okay ich wünsch mir von Sssie ein
Abba, weil von Sssweden, und die Anneliese. Und nun, Angela fertig für die
Foto? Anneliese?“
„Ich wünsch mir dat Deutschlandlied.
Hab wohl nix mehr zu sagen im eigenen Land? Wo sind wir denn hier?“
„Isch versssteh nicht Angela, komm
eine Foto mit Anneliese, Angela und Viktoria!“
Mama mia schallt durch Estlands
Halle. Anfangs hatte das Stück nur etwas Ähnlichkeit mit dem Ohrwurm aus
Schweden. Dann kamen sie richtig in Fahrt und auch der letzte Trottel erkannte
den Schwedenhit. Es wurde mitgewippt und mitgesungen. Viktoria hatte inzwischen
die Gruppe für das Foto arrangiert. 30 – 40 Fotografen und Kameraleute wollten
dieses Bild haben. Enno saß oben auf der Schulter von Paul von Thun, den der
Personenschützer inzwischen aus seinem
Haltegriff entlassen hatte, und konnte über die ganze Horde der
Fotojournalisten hinweg eine schöne
Fotostrecke mit dem Handy machen.
„Frau Bundeskanzlerin, können Sie
bitte auch einmal lächeln und bitte nicht immer den Kopf wegdrehen!“
Das war der Fotograf vom Stern
Magazine.
„Ja Änschie, und nimm deinen Stocken
in die Händen sso wie dein Freundin Viktoria. Und du, Anneliese, ssseig dein
Wellington, äh Gum-mi-stie-fel.“
Inzwischen ertönte das Anneliese Lied
durch die Halle 8.
Am nächsten Tag gab es kaum eine
Tageszeitung in Schweden und der Bundesrepublik, die nicht mit diesem Foto
aufmachte. Eine verletzte Königin, eine verletzte Kronprinzessin und eine
verschnupfte Bundeskanzlerin, die zudem auch noch verletzt war. Anneliese und
Viktoria strahlen in die Kamera, Angela, unsere Bundeskanzlerin, guckte wie ein
Beagle hinter dem Zaun eines Versuchslabors. Mundwinkel hatte sie, als wären
dort kleine Gewichte eingehängt. Ein Bild, bei dessen Betrachtung selbst
eingefleischte Demokraten ernsthaft über die Umwandlung der BRD in eine
Monarchie, also eine konstitutionelle Monarchie, nachzudenken begannen.
Die nächsten Termine riefen, die
persönliche Referentin der Kronprinzessin begann zu drängen. Anneliese war
begeistert von Viktoria und lud sie zum Schützenfest in Aantenwördenermoor ein.
„Mal sssehen, was sssu machen geht
mein Konningin von diese Muur near Hamborch.“
Sie tauschten noch die Mobil- und die
Handynummern aus und verabschiedeten sich mit einem flüchtigen Wangenkuss. Auch
diese Szene wurde mindestens 20- fach abgelichtet.
Und dann das Wunder von Berlin. Weiß
der Kuckuck, wer Schorsch Beckmann den Tipp ins Ohr geflüstert hatte. Der
Spielmannszug spielt das Deutschlandlied. Es existieren heute in einigen
wenigen Zeitungsarchiven einige wenige Bilder von dieser ungeplanten Begegnung
auf der Grünen Woche. Bilder, auf denen
eine lächelnde Kanzlerin zu sehen ist.
Kanzlerin und Kronprinzessin humpeln
zurück zum Stand der estnischen Wodkabrennerei. Beide betonen vor den laufenden
Kameras, dass sie heute den Grundstein für eine sehr, sehr enge Freundschaft
gelegt hätten. Eine Freundschaft, die schon immer gut gewesen sei, nun
aber kaum noch zu toppen sei.
„Prost Viktoria!“
„Skål, Änschie!“
Im Fernsehen schloss der Beitrag
damit, dass die vier Krücken aus dem Bild gingen. Mit ihnen die Kanzlerin und
die Kronprinzessin von Schweden.
Die letzten Takte des
Deutschlandliedes klangen gerade aus als
die Kolbinger in großen Jubel ausbrachen und sich gegenseitig um den Hals
fielen. Enno küsste Anneliese und gemeinsam schauten sie sich die Bilder an,
die er in den letzten 15 Minuten von Anneliese und den beiden anderen, ihm
nicht ganz so wichtigen Frauen gemacht hatte. Es gab niemanden unter ihnen, der
noch irgendwelche Zweifel hatte an der Richtigkeit der Entscheidung nach Berlin
zu reisen. Menschen, die sich kaum kannten, fielen sich um den Hals. Fine
rannen die Tränen über die Wangen und Paula genoss es sichtlich, dass sie von
den jungen Männern umarmt und gedrückt
wurde, bis ihr die Luft knapp wurde und der Drang im Unterleib kaum noch zu
bändigen war. In einer kurzen Freudenpause suchte sie die Wände der Halle nach
einem WC Schild ab.
Pastor Henry Krohn aus Bilge beendete
den Freudentaumel mit der ersten Strophe von „Lobe den Herren, …“ gespielt auf
seiner Posaune. Mehrere Kamerateams waren geblieben und filmten, wie der
Pfarrer mitten in der Halle des Partner Country Estland seine Kolbinger zu
einer Andacht einlud. Einige Esten, die plötzlich das Gefühl hatten, dass auch
der Auftritt mit der Kanzlerin schon zur Andacht gezählt hatte, schlossen sich
andächtig der Gemeinde aus Kolbingen an.
Henry Krohn konnte sehr zufrieden
sein mit seiner “Messe auf der Messe“ (Schlagzeile in Evangelischen Woche) sein.
Er hatte hier locker zehnmal so viele
„Schäfchen“ in der Andacht wie sonst in einem ganz normalen Gottesdienst in
Bilge, Hohendeich oder Friedeberg.
Lobe den Herren!
Ein Kamerateam aus Riga kam übrigens
vier Wochen nach dem Ende der Grünen Woche nach Kolbingen, um einen
Dokumentarfilm über jene Menschen und
deren Heimat zu drehen, die im estnischen Fernsehen zu sehen waren, wie sie
mitten in ihrer, der estnischen, Halle eine Andacht abhielten. Aber das ist
schon wieder eine andere Geschichte.
Die Andacht trauten sich die
Presseleute nicht zu stören. Aber kaum,
dass das letzte Amen verklungen war, begann der Run auf potentielle
InterviewpartnerInnen. Fast alle Kolbinger Königinnen gaben ein oder mehrere
Interviews.
Selbst die Wachtelkönigin wurde
interviewt. Ein dänischer Fernsehsender interessierte sich für sie, weil alle
anderen Königinnen sich gerade im Gespräch befanden. Sie nutzte die einmalige Gelegenheit,
sich vor internationalem Publikum für den Wachtelkönig ins Zeug zu legen. Diese
Passage wurde später in einem Kopenhagener Fernsehstudio komplett
herausgeschnitten. Dem dänischen Publikum, das bekanntlich sehr Monarchie
freundlich ist, wollte man nicht mit einer „Majestät“ belasten, über die sich
nicht einmal eine einzige Zeile im „Who is Who?“ des Nieder- bis Hochadels der
Deutschen Lande finden ließ. Der
Schwerpunkt des Beitrages lag nachher eindeutig bei einer fröhlich
dreinblickenden Königin, deren einer Fuß wegen einer Verletzung in einem
Gummistiefel steckte, und die sich gemeinsam mit den beiden gehbehinderten
Promis Viktoria und Angela von der Fotografenmeute ablichten ließ. Zumindest
zwei der drei Frauen waren dem dänischen Volk weitestgehend bekannt. Im Fokus
des öffentlichen Interesses stand in Dänemark nach Ausstrahlung des Messebeitrages
aber nur die Königin mit dem Gummistiefel aus der Ortschaft mit dem für die
meisten Dänen schwer auszusprechenden Namen „Dröbermmoor“.
Anneliese erhielt einige Tage später
sogar eine Einladung für eine Autogrammstunde im Tivoli Park Kopenhagen. Davon
aber später mehr!
Das alles wusste Beate von Lindern,
die Wachtelkönigin, nicht. Sie sah nämlich grundsätzlich kein dänisches
Fernsehen, weil „die“ grundsätzlich auf Dänisch sendeten und Beate
grundsätzlich nur deutschsprachige Sender guckte und von denen am liebsten die
Dritten Programme mit den schönen Naturfilmen. Und eine Einladung zur
Autogrammstunde im Tivoli bekam sie natürlich auch nicht, weil der Parkmanager
grundsätzlich nur Persönlichkeiten zur Autogrammstunden einlud, an deren
Autogramme seine Landsleute höchstgradig interessiert sind.
Die Königin der Nacht, Natalie,
wechselte noch einmal vorübergehend die Staatsbürgerschaft und französelte vor
dem Mikrofon von NDR II.
„Iisch liebe Deutschlaand. Vieleischt
iisch eirate meine liebe Freund Arry Röndigs aus Aantenwördenermoor und mach
grande famile mit Arry. Ast du geöört, mein Liebär? Ast du geöört, Cherie? Und du mein Ündschen
wirst Ochzeitszeuge.“
Und ob er es gehört hatte. Vor Freude
hatte er beinahe eingenässt. In der Woche drauf hatte Harry sich für teures
Geld einen Mitschnitt des Interviews vom NDR schicken lassen. Immer, wenn er
glaubte zu träumen, spielte er sich das Band vor: „Vieleischt iisch eirate
meine liebe Freund Arry Röndigs aus Aantenwördenermoor und mach grande famile
mit Arry.“
Wenn jemand im Hause Röndigs diese
Stimme aus Harrys Zimmer hörte, war er oder sie gut beraten, nicht zu stören.
Den größten „Klopper“ aber landete
das Team vom RBB. Sie luden die gesamte
Kolbinger Reisegruppe in die vom RBB gemietete Halle 27 ein, um dort die „Nacht
der Nationen“ mitzufeiern.
Anneliese war total erledigt. Sie
konnte nicht mehr aufzählen, welchen Zeitungen und Sendern sie Interviews
gegeben hatte. Ein Kamerateam kam sogar
aus Kiew - konnte man leider rein gar nicht verstehen. Die versuchten es dann
auf Englisch.
Konnte man auch nicht verstehen.
Hella Rossmann bot ihre Hilfe an.
Aber auch sie verstand immer nur „Do you speak English?“ und nach der Bejahung
fielen sie sofort wieder in ihre Muttersprache Ukrainisch zurück.
Einige Sprachbrocken der Ukrainer
trafen auf die Ohren von Natascha Mircowa, der Stutenkönigin.
„Wer spricht hier meine Sprache?“
Das hat sie natürlich in ihrer
Sprache gerufen und die einzigen, die sie verstehen konnten, waren die, die
sonst niemand verstehen konnte. Die
Stutenkönigin gab ihren Landsleuten ein 15 minütiges Interview, in dessen
Verlauf viel gelacht wurde. Natascha war überglücklich ihre Sprache zu hören
und sie sprechen zu dürfen. Ihrer Gestik
zufolge erzählte sie von den Kolbingern und den verschiedenen Königinnen, die
hierher nach Berlin gereist waren, um
ihre Mitmenschen auf die Schönheit Kolbingens hinzuweisen. So schlimm kann es nicht gewesen
sein, was Natascha dem ukrainischen Fernsehen erzählt hatte. Später, im Sommer
2014, wurden mehrmals Autos mit ukrainischen Kennzeichen in Nordkolbingen gesehen.
Gaby Melzer berichtete später auf der Mitgliederversammlung des
Tourismusvereines Nordkolbingen, dass nach ihrem Kenntnisstand mindestens 14
Übernachtungen von Menschen aus der Ukraine gebucht worden seien.
Paul von Thun hatte es sogar
geschafft einem Ukrainer einen Jährling[13]
zu verkaufen. Der Kauf wurde mit viel zu vielen Wodkas, die in Kolbingen Strohtmanns
oder nur Klare heißen, gefeiert. Als die deutschen und ukrainischen Köpfe am
nächsten Tag wieder etwas klarer wurden, drohte vorübergehend eine Trübung der
gerade entstandenen Deutsch-Ukrainischen Freundschaft. Der Ukrainer hatte ein
Pferd gekauft, obwohl er nicht reiten konnte und auch nicht wusste, wie er das
Tier von Kolbingen in die Ukraine kriegen sollte. Im Verkaufsstall wurde eine Krisensitzung einberufen. Willi
Kellermann hatte die rettende Idee. Nach zwei Stunden zäher Verhandlungen besaß
der Ukrainer nicht nur ein Pferd, das er eigentlich nicht gebrauchen konnte,
sondern auch noch einen alten Pferdehänger, den er nicht und Heini Holthusen
nicht mehr gebrauchen konnte. Das erneute Aufflammen der Deutsch-Ukrainischen
Freundschaft wurde mit einem weiteren Strohtmann-Tsunami gefeiert.
Am folgenden Tag gegen Nachmittag erlaubten die Blutwerte des Ukrainers
die Abreise gen Osten. Der Jährling, Botschafter Kolbingens in der fernen
Ukraine, musste jetzt mindestens drei Tage auf dem Hänger ausharren, bis er die
neue Heimat unter den Hufen spüren durfte.
Paul von Thun und einige seine
Züchterfreunde trafen sich am Abend im Friedeberger Hof, um einen Teil des
Geldes, das der Jährling eingebracht hatte, zu vertrinken. Das war schon immer
so in der alten Züchterriege: Wer ein gutes Geschäft unter den Augen seiner
Züchterkollegen abgeschlossen hatte, teilte seine Freude und leider auch einen
Teil seines Gewinnes mit den Freunden.
Aber hier erzähle ich bereits wieder
etwas, das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht stattgefunden hatte.
Nachdem die Pressekarawane sich
langsam aufgelöst hatte, kam der Manager der estnischen Schnapsbrennerei mit
mehreren Tabletts Wodka aus seiner
Produktion zu den Kolbingern und ermunterte sie, mit ihm auf die
Estnisch-Deutsche Freundschaft anzustoßen. Bevor die Estnisch-Deutsche
Freundschaft in eine Liebesbeziehung ausarten konnte, organisierte die Bilger
Reiseleitung den weiteren Umzug der Kolbinger Majestäten durch die Messehallen.
Auf Vorschlag Violas wollten sie zuerst die Halle 25 und die
Niedersachsenhalle aufsuchen. Lukas freute sich schon auf die Gesichter der
Kolbinger Offiziellen. Ob bei denen schon bekannt war, dass die Nordkolbinger
Reisegesellschaft ihr Reiseziel kurzfristig vom Harz in die Bundeshauptstadt
verlegt hatte? Im Zeitalter der Handys musste man schon davon ausgehen. Aber,
dass wir hier so auflaufen müsste immer noch einen riesen Überraschungseffekt
haben. Lukas löste Kalle an der Spitze ab und erlöste Jonas aus der schwierigen
Verantwortung, die richtige Entscheidung darüber zu treffen, wo denn „links“
und wo „rechts“ sei.
Die Hallen 8-10 ließ der
rücksichtsvolle und tierliebende Lukas aus. In diesen Hallen waren die Heim-
und Nutztiere untergebracht und niemand hätte mit Gewissheit vorhersagen mögen,
ob und wenn ja, welche negativen Reaktionen die Musik des Moorer
Spielmannszuges bei den Tieren hervorrufen würde. Der Zug legte einige
Zwischenstopps in Halle 7, nationale und
internationale Ernährungswirtschaft/Food Industry , ein. Viele Aussteller boten
den Kolbingern für ihre musikalische Darbietung von ihren leckeren Kostproben
an.
Eine Peinlichkeit leistete sich
Natalie, die vor einem mit vielen blau- weiß-roten Flaggen geschmückten Käse
Stand einen erneuten Rückfall in ihre zweite Identität bekam und laut ihrer
Freude freien Lauf ließ.
„Fantastic! Die Tricolor! Frommage aus meine Eimat, Frankreisch meine
Eimatland. Jeteem!“
Die junge Frau in dem blau-
weiß-roten Kleid und einer weißen Flügelhaube auf dem Kopf lächelte unsere
Königin der Nacht freundlich an und fiel mit einem Redeschwall über sie her –
auf Französisch!
Anscheinend endete ihr Beitrag mit einer
Frage. Als keine Antwort kam, wiederholte die Frau ihre Frage. Gut, dass Hella
Rossmann gleich zur Stelle war.
„Natalie, oder ich sollte vielleicht
besser Sabine sagen, die Frau fragt, warum du nicht antwortest. Warum du hier
Werbung für französischen Käse machst? Das hier ist ein holländischer
Käsestand. Die französischen Stände
fangen da drüben an.“
„Aber die Trikolore, Frankreichs
Flagge?!“
„Das hier ist die niederländische
Flagge. Sieh mal dort hinten kannst du Frankreichs Flagge sehen. Sie hat die
gleichen Farben aber die Anordnung ist eine ganz andere.“
Sabine Klöfkorns Gesicht rötete sich
leicht.
„Scheiße!“
„Sie meinen aber nicht den Kees von Nederland, oder?“
Gut, dass die Musik erneut einsetzte
und der Kolbinger Zug sich wieder in Bewegung setzte.
Gaby Melzer hatte soeben einer
Messebesucherin das Kolbinger Infopäckchen in die Hand gedrückt. Friederike
Winter verabschiedete sich von der Dame mit einem angedeuteten Knicks.
„Ich hoffe Sie bald in unserem
schönen Kolbingen an der Unterelbe begrüßen zu dürfen.“ Fast hätte sie
vergessen dabei zu lächeln. Irgendwie hatte sie sich die Messe etwas anders
vorgestellt. Die Altländer Königinnen waren erheblich ausgebuffter als sie. Mit
der Ankündigung, dass sie mal „müssten“, verschwanden sie einfach mal eben für
zwei Stunden auf einen Messebummel. Die Spargelkönigin war nun schon den
dritten Tag im Hotel geblieben, weil sie inzwischen mit heftigen
Übelkeitsattacken auf den Geruch der Spargel Cremesuppe reagierte, die sie in
kleinen Portiönchen an die Messebesucher verteilen musste. Das lag bestimmt
nicht an der Suppe, die von allen Seiten gelobt wurde. Alois Brunner, der in
der Nachbarhalle den Stand einer Allgäuer Meierei betreute, machte sich sogar
mehrmals am Tage auf den Weg zur Spargelkönigin. Er kam auch noch, nachdem die
smarte und wirklich sehr gut aussehende Majestät aus Deinste oder Kutenholz
bereits krank im Hotel weilte. Diese Tatsache war auch für Frau Dammann aus
Klein Fredenbeck der tröstliche Beweis, dass mit ihrer Spargelsuppe alles in
bester Ordnung sei. Was für ein Spagat
für die arme Milchkönigin. Stellvertretend für die abwesenden Majestäten musste
sie überall repräsentieren. Altes Land –
Geestperle-Kolbingen-Geestperle-Kolbingen-Altes Land- Altes Land! Und dann muss
sie sich auch noch von dem „Natur Erbe Papst“ Hergen Hilk anpampen lassen, weil
sie einmal am „Ollaner Appelstand“ einen Messebesucher mit einem freundlichen
Lächeln und dem Satz: „Ich hoffe Sie bald in unserem schönen Kolbingen an der
Unterelbe begrüßen zu dürfen“, verabschiedete.
Von Nikki Schütt war keine Entlastung
zu erwarten. Die Kolbinger Landkönigin hatte Überraschungsbesuch von ihrem
Johannes bekommen und sich kurzerhand von der Melzer und Helge Ehlers beurlauben lassen.
Wo steckte der Ehlers eigentlich? Ach
da drüben steht er. Wieder bei den Eichsfelder Metzgerspezialitäten. Der
angebliche Erfahrungsaustausch mit der Eichsfelder Tourismusexpertin entwickelte
sich mehr und mehr zu einem handfestem Flirt, der schon zum Austausch der
Handynummern geführt hatte, und der so,
wie er hier von Friederike wahrgenommen wurde, auf gar keinem Fall die Runde in
Kolbingerhafen machen durfte. Die kleinen luftgetrockneten Wursthäppchen
spielten bei Helge Ehlers längst schon eine unerhebliche, untergeordnete Nebenrolle.
Die Melzer guckt auch immer heimlich
rüber. Eifersüchtig ist sie bestimmt nicht. Dass sie beide sich eher etwas
hakeln ist ja allseits bekannt. Vielleicht wurmte es sie, dass dieser
gutaussehende Allgäuer mit den unmöglichen Lederhosen nur immer wegen der
„Leckren Suppen“ kommt. Mehrmals wollte
sie ihn ins Gespräch ziehen. Er biss einfach nicht an.
„Ich war auch schon einmal in Bayern,
im Urlaub.“
„I mach koa Ualaub i Bayern. Bin ja
eh scho imma doa! Hahaha! Hascht noch etwas von der Suppen?“
Zu mehr hat´s einfach nicht gereicht.
Da sie ja wirklich nicht unattraktiv ist, hatte Gaby Melzer auch schon einmal
ganz kurz gedacht, ob der schmucke Bayer vielleicht schwul sei?
„Ja, warum eigentlich nicht? Warum
soll es nicht auch schwule Bayern geben?“, ging es ihr durch den Kopf.
In einem schwachen Moment vertraute
sich die Melzer Friederike Winter an, die sich sofort anbot, den Allgäuer
Milchburschen zu befragen.
„Bist du verrückt, das machst du
nicht!“
Den letzten Messetag kam er nicht
mehr. Die Spargelsuppe war ausgegangen und Frau Dammann durfte nach Rückfrage auf
ihrem Spargelhof in Deetse die Suppe auf gar keinen Fall mit Beelitzer Spargel
aus Brandenburg kochen. Schade!
Es sollte eigentlich Gaby Melzers
Geheimnis bleiben, was sie bei ihrer abendlichen Internetrecherche über das
Essverhalten von Schwulen herausgefunden hatte. Amors Pfeil hatte sie wohl
heftiger getroffen, als sie es selbst wahrhaben wollte. Dann vertraute sie sich
doch in einem schwachen Moment der Kolbinger Milchkönigin an.
„Weißt du, Friederike, ich habe bei
Google „Schwule, Bayern, Spargel“ eingegeben. Was habe ich gefunden? Nix!
Zumindest nix Brauchbares. Google ist auch nicht mehr, was es einmal war.
Wahrscheinlich ist der nicht schwul, der steht einfach nur auf Spargel. Was
meinst du?“
Welche Meinung Friederike zu diesem
Thema hatte, blieb unerhört. Die Aufmerksamkeit der beiden Frauen und all der
anderen Menschen in Halle 25 wurde schlagartig von Blasmusik in Anspruch
genommen. Anne-Anne-Anneliese… Die Milchkönigin musste sofort an die
denkwürdige Majestäten Wahl in der Oberschule Nordkolbingen denken. Das war
schon ganz schön krass. Wenn doch etwas an dem Gerücht wäre, dass die Kolbinger
gar nicht in den Harz gereist sind.
Anne-Anne-Anneliese… Die Musik kam
näher. Wie vertraut? Woher kannte sie diese Jacken? Und dann konnte Friederike
das Transparent lesen und alles war klar:
„Ferienregion Kolbingen an der
Unterelbe“
Das sind sie, das sind ja Lukas und
Jonas Geerdts und der Moorer Spielmannszug, Helga Sumfleth, die Bienenkönigin,
Viola Hiesel, Hildegard Radlusz, die Zaunkönigin, Sarah Bauknecht mit ihrer
Kartoffelkrone und viele, viele andere bekannte Gesichter aus Nordkolbingen. Helge
Ehlers hat die Eichsfelder Wurst verlassen und eilt mit seinem Messeschatten im
Schlepptau zum Stader Stand. Die beiden pensionierten Kolbinghafener Kapitäne Kurt Oellerich und Walter Wolter, die
mitten in der Abnahme des Matrosenpatentes steckten, ließen ihre Gäste stehen,
um die Kolbinger Abordnung zu begrüßen.
„Entschuldigen Sie bitte, Herr
Kapitän, wir haben noch nicht alle Aufgaben erledigt für unser Matrosenpatent.“
Kein Problem für Wolter, der sich
sonst immer gerne als strenger Prüfer ausgab.
„Keen Tiet, Sie haben bestanden und
Ihr Mann auch. Nehmen Sie sich bitte ihre Patente und fülle Sie alles zu Hause
aus. Unterschriften stehen ja drunter. Tschüß.“
„Und Stempel liegt da auch noch. Ohne
Stempel ist das Patent ungültig“, rief Kurt Oellerich der verwirrten Dame noch
hinterher.
Während das Berliner Ehepaar sich die
Papiere ausfüllte und darüber unterhielt, ob die Patente denn wirklich gültig
seien unter diesen Bedingungen, hatte Oellerich seinen Neffen Dieter Schmarje
entdeckt.
„Mensch Onkel Kurt, dass wir uns vor
deinem 74. Geburtstag noch treffen würden hast du wohl nicht gedacht, oder?“
„Jung, Jung, wat mookt ji denn hier?
Ick kann dat gor nich glöben. Kiek mool dor achtern, is dat Paula Heinsohn ut
Dröbermmoor. Is de ook mit, de olle Schachtel.“
Von wegen olle Schachtel. Paula war
doch noch gerade unter 70 und damit deutlich jünger als Kurt Oellerich. Seit
dem letzten Schützenfest in Aantenwördenermoor hatte der Witwer mit dem
Kapitänspatent heimlich ein Auge auf Paula geworfen. Die war zwar nicht die
Frischeste, aber gut gegen Einsamkeit allemal.
„Vielleicht sollte ich sie das
Matrosenpatent ablegen lassen.“
Walter Wolter wusste nicht, ob er
richtig verstanden hatte.
„Wer
soll das Matrosenpatent ablegen?“
„Schon gut, schon gut!“
Helge Ehlers meinte immer verkünden
zu müssen, dass ja wohl klar sei, dass es hier nur eine ständige und
legitimierte Vertretung Nordkolbingens geben könne. Weiß der Kuckuck, wovor er
wieder Angst hatte. Ganz anders Gaby Melzer, die sofort erkannte, dass die
Musik und der Kolbinger Pulk immer mehr Menschen anzog. In ihrem Kopf ratterte
es. Eine Idee musste her, wie man dieses
Potential nutzen kann. Für die Region nutzen, für den gesamten Landkreis. Hier
hatte Kirchturmdenken keinen Platz mehr. Von Globalität zu reden wäre zu hoch;
aber irgendwie kommt es der Sache schon recht nah. Schorsch Beckmann gibt
Kommando: Zwei, drei … Die Musik spielte einen flotten Marsch. Wer nicht
musizierte von den Nordkolbingern, inspizierte die Tische der aus 9 Gemeinden
bestehenden Interessengemeinschaft Grüne Woche.
Rieke, die Milchkönigin, sah
plötzlich den Gummistiefel unter dem Festkleid der Moorkönigin herausgucken und
eilte auf Anneliese zu.
„Wenn es dir weh tut, dann komm doch
mit zu unserem Tisch. Da kannst du dich auf einen Stuhl setzen.“
So ein nettes Angebot konnte sie
nicht ausschlagen. Anneliese hatte sich, ihrem Fuß und dem Gummistiefel in der
letzten Stunde etwas viel abgefordert.
Nachdem Kurt Oellerich einen Kleinen
Feigling aus der Jackentasche seines Neffen in sich hinein geschüttet hatte,
traute er sich zu Paula und schleppte sie ab in die Ecke, in der nun schon den
3. Tag das Kolbinger Matrosenpatent (Melzer: Der Renner der Messe!) abnahm.
„Weet nich, Kuddel, in mien Öller
noch´n neegen Beruf? Und denn ook noch Matrose. Fine, wat meenst du? Willst du ook?
„Nee, loot man Paula, ick kiek´n lütt
beeten tau.“
Kuddel, in Kolbingerhafen und
Dröbermmoor sagte niemand Kurt zu Kuddel, also Kuddel machte sich sehr wichtig hinter seinem Tisch.
Walter Wolter merkte auf, weil er mit diesem Ernst und in dieser Tonlage seinen
Kollegen all die Tage nicht hatte reden hören.
„Sie heißen also Paula Heinsohn. Das
schreibe ich hier rein und Sie kommen aus Dröbermmoor. Dann will ich einmal die
erste Frage stellen. Wie heißt das Fenster auf einem Schiff?“
???
„Wie heißt das Fenster auf einem
Schiff, Paula? Ich sage nur Muuuhh!“
Seine Worte unterstreichend zeigte
Kuddel auf sein Auge.
„Wat secht denn Muuuhh, Paula?“
Die plattdeutschen Laute haben ihr
die Zunge gelockert.
„Kooh!“
„Und op wat wies ick hier?“
„Dien OoG.“
„Nu bring dat mool tauhoop, dann hest
du dat all.“
„Kooh Oog!“
„Walter, dat is woll noch richtich,
wat meenst du? Kooh Oog oder Bulloog.
Beede Dierten sind Rindviecher. Paula de erste Frooch hest du all mit Bravour
löst.“
„Anker“ wusste Paula und mit etwas
Hilfe und einer Eselsbrücke von Kuddel über ein Bord zum Backen kam Paula auch
noch auf „Backbord“. Flagge kam gut vom Prüfling und Seekarte. Seekarte war ja
auch nicht so schwer. Es war eine sogenannte „Multiple Choice Frage“. Paula
konnte zwischen drei Angeboten auswählen.
a) Speisekarte des Kapitäns
b) Nautisches Hilfsmittel
c) Dauerkarte die zum Baden in einem See
berechtigt
Nachdem Wolter noch das Wort
„nautisch“ erklärt hatte, entschied Paula sich für Antwort b. Walter Wolter
verlief der Matrosentest etwas zu nachlässig. Nachdem Kuddel auch noch ein Auge zudrücken wollte,
als die „Noch-nicht-Matrosin“ Heinsohn die Positionslampen eines Schiffes zu Blinkern erklärte, intervenierte der alte
Seebär Wolter und Paula wurde der schon gegebene Punkt aberkannt. Das machte
jedoch nichts, weil man sich einen Fehler leisten durfte. Nun wurde es
feierlich.
„Hiermit erkläre ich Sie, Frau Paula
Heinsohn aus Dröbermmoor, Ortsteil der Gemeinde Eriksheil, zur Matrosin.“
„Dank di ook Kuddel. Dorvun harr ick
hüt Nacht noch nich drümt, dat ick hüt noch taun Matrosen kürt ward.“
Zu Fine gewandt meinte sie dann noch.
„Ick glöv jo nich, dat ick noch dat
Schippern anfang, oober is man good tau
weten, dat man noch wat in Petto hett, wenn´t mool ganz dick kummt.“
Die Kolbinger wollten weiter und
Friederike wollte gerne mit dem Zug über die Messe. Da passte es gerade sehr
gut, dass die beiden Altländer Königinnen wieder auftauchten. Ein bisschen
erinnerten ihre Blicke an Schaulustige bei einem Unfall. Sie erfassten die
Situation nicht ganz. Hergen Hilk versuchte es ihnen zu erklären. Gaby Melzer
kam angeflogen.
„Ihr schafft das hier alleine, ja,
Hergen? Ich möchte mit meinen Kolbingern gehen. Helge Ehlers unterstützt euch.
Geht doch klar Herr Ehlers?“
Bevor er antworten konnte hatte Gaby
Melzer schon Riekes Hand ergriffen und schloss sich dem Kolbinger Zug an.
Noch einmal an diesem Tag sollte ein
Zufall für einen völlig anderen Ablauf sorgen, als von den Kolbingern
vorgesehen. Niemand im Zug außer Gaby
Melzer und Rieke Winter kannte den Fototermin für alle Messemajestäten vor dem
Pressezentrum in Halle 6, und die hatten den Termin wegen der ganzen Aufregung
erst einmal vergessen.
Nicht vergessen hatte die Heidschnucken
Königin aus Wilsede den Termin. Als der Kolbinger Umzug mit den nunmehr 17
Königinnen an ihrem Stand vorbeimarschierte, meinte sie, dass der Umzug zur
Begleitung der Königinnen zum Pressezentrum organisiert worden sei. Sie reihte
sich in die Schar der Majestäten ein. Viola Hiesel fand das cool und als sie
nur wenige Meter weiter die Heideblütenkönigin erblickte, rief sie rüber, sie
solle doch mitkommen. Die nächstem, die sich den Kolbingern anschloss, war die
Krabbenkönigin aus Harlingersiel. Es folgten die Dümmerprinzessin, die
Inselkönigin (Norderney), eine Felsenkönigin aus dem Deister, eine Brockenhexe,
die gar keine Königin war aber trotzdem mitging, eine Bördekönigin. Noch in
Halle 25 und der angrenzenden Halle 3a
gesellten sich die Salzkönigin aus Lüneburg, eine Ferkel- und eine Putenkönigin
aus dem Güllegürtel im Südoldenburgischen,
die Domkönigin aus Verden und die Brauereikönigin aus Einbeck dazu. Ohne
die Ollaner Appelkeunigin und die Altländer Blütenkönigin mit ihrer albernen
Blütenhaube befanden sich nun schon 28 Königinnen und eine Hexe hinter der
Musik aus Aantenermoor! Abgesehen von der Moorer Schützenmusik sorgte die bunte
Gruppe der Niedersächsischen Majestäten überall für höchste Aufmerksamkeit. Es
würde zu weit führen, alle Majestäten aufzuzählen, die sich im Laufe der
nächsten 30 Minuten dem Zug anschlossen. Am Ende waren es 296 Königinnen, 2
Prinzessinnen und eine Hexe aus dem Harz, die, streng genommen, nicht mit auf
das Bild gedurft hätte. Alleine 13 Weinköniginnen aus allen deutschen Weinbaugebieten,
sogar eine vom stadteigenen Hamburger Weinberg
am Stintfang, 7 Hopfenköniginnen, 2 Nürburgringköniginnen, 29 verschiedene
Blumen und Blütenköniginnen, 82 Königinnen, die ihren Namen wie die Kolbinger
Landkönigin von ihrer Heimatregion hatten, Kirschenköniginnen und
Gurkenköniginnen, 3 Stollenköniginnen aus Dresden, 24 Königinnen, die ihren
Namen einem Volksfest verdankten (Wiesenkönigin, etc. ) trafen zum Erstaunen
der Pressereferentin vor der Halle 6 zum Fototermin ein. Sie wusste nichts von
dem Umzug und die Masse an Majestäten übertraf die Zahl, die sie erwartet hatte
deutlich. Übrigens gab es auch
zahlreiche ausländische Majestäten wie die Kernölkönigin aus der Steiermark,
die Siltkönigin aus Jütland, Bernsteinkönigin aus Litauen und die Chiantikönigin aus Italien.
Sensationell war die Teilnahme einer echten Prinzessin aus Myamar, die sich
lange Zeit in der Umgebung lauter Vertreterinnen des deutschen und europäischen
Adels wähnte.
„Mir sagt mal wieder niemand etwas“,
murmelte die Pressefrau vor sich hin und dachte, dass auch sie auf die Idee mit
dem Umzug hätte kommen können. Die gesamte Reportermeute wartete auf das
traditionelle Majestäten Bild. Unzählige Male wurden der herannahende Festzug
fotografiert und gefilmt. Und immer deutlich auf den Bildern zu sehen „Ferienregion Kolbingen an der Unterelbe“,
getragen von den Geerdtszwillingen, und außerdem noch all die Schilder der
Kolbinger Majestäten.
Kein Mensch nahm Anstoß daran, dass
die Kolbinger Majestäten sich mit für das Gruppenbild aufbauten. Einer der
Fotografen erkannte Anneliese an ihrem Gummistiefel wieder und sorgte dafür,
dass sie in der Mitte der ersten Reihe einen Platz fand. Die beiden Altländer
Königinnen, die erst gemerkt hatten, was abging, als der Zug schon lange
abgefahren war, kamen ganz zum Schluss und mussten sich hinten in die Reihe
stellen, obwohl Hergen Hilk, der sie
begleitete, mehrfach versuchte, ihnen zu einer besseren Position zu verhelfen.
Was beim Tageblatt und den anderen Zeitungen im Kreis Stade immer so wunderbar
klappte, wollte hier einfach nicht funktionieren. Hilk ahnte schon, dass man
ihm nach der Rückkehr ins Alte Land schwere Vorwürfe machen würde, weil die
beiden Altländer Königinnen so schlecht ins Bild gekommen seien. Erschwerend dann auch noch, dass die Appelkeunigin, die
sich mehr oder weniger in das Messeteam hineingedrängt hatte bzw. von ihrem
geschäftstüchtigen Obstbauern Siggi Quast auf die Reiseliste verhandelt worden
war, vor die Blütenkönigin. Hier bahnte sich ein erneutes Aufflammen vergessen
geglaubter Differenzen zwischen den Altländern an. Die Appelkeunigin stellt
sich doch wahrhaftig vor die eigentlich einzig wahre und echte Königin aus dem
Alten Land!
Es wurden wunderschöne Bilder, die
dank einiger guter Handyfotos (Enno) nachher in Kolbingen reichlich Abnehmer
fanden. Eines sollte sogar noch im Tageblatt erscheinen. Und gerade auf dem
Bild hatte Die Königin der Nacht im Zentrum der Gruppe gut leserlich zur Kamera
gehalten.
„Als Fremde kommen- Als Freunde
gehen!“
Sie selbst wusste später nicht, warum
sie das Schild überhaupt bei sich hatte und warum es auf den anderen Bildern
nicht zu sehen war. So wollte es wieder einmal der Zufall, dass Sabine
Klöfkorn, für viele im Kolbinger Land ein Glücksfall, nun zusätzlich zum
touristischen Glücksfall für Kolbingen wurde. Aber davon später mehr.
Während das Majestäten Bild
arrangiert wurde spielten die Moorer Musikanten vorerst zum letzten Mal den
Anneliese Hit. Für die nächsten Stunden war Freizeit angesagt – auch für die
Musikinstrumente.
Die meisten Kolbinger wollten die
Zeit bis zum Beginn der „Nacht der Nationen“ in Halle 27 auf dem Messegelände
überbrücken. Einige, unter ihnen Paula Heinsohn und Fine Riecken, ließen sich
von dem netten plattsprechenden Busfahrer „ut Loomst“ (Lamstedt) zum Quartier
fahren. Der hatte auch angeboten, diejenigen, die an der Party teilnehmen
wollten, wieder zum Messegelände zu fahren.
Paula und Fine wussten noch gar
nicht, was sie wollten. Eigentlich wollten sie erst einmal nur „Von`e Feut“.
Vielleicht würde sich ja später noch etwas ergeben.
Und ob sich etwas ergeben würde!
Beide Frauen hatten nur die Schuhe
von den dicken Füßen gestreift und sich ins Bett fallen lassen. Paula Heinsohn,
der heute ihr Mittagsschläfchen gefehlt hatte und die es nicht gewohnt war
derartige Strecken in ihren „guten“ Schuhen zu laufen, lag kaum auf dem Rücken
als sie auch schon schlief. Fine Riecken dachte noch daran, dass sie eigentlich
ihrem Jan von dem aufregenden Tag in Berlin erzählen müsste. Weiß er überhaupt,
dass sie in Berlin ist, fernab der Luchse, die Jan im Harz Film gesehen hatte.
Das gleichmäßige Schlafgeräusch von Paula hatte hypnotische Wirkung. Auch sie glitt
hinüber in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Jan Riecken musste noch einmal mehr
darauf warten, die neuesten Neuigkeiten aus Berlin zu erfahren.
Die erfuhr er dann 70 Minuten später
nicht von seiner Frau sondern von „Hallo Niedersachsen“ in der guten Stube der
Rieckens.
So einsam hatte Jan sich die Zeit
ohne Fine und Anneliese nicht vorgestellt. Er freute sich schon auf den
Sonntag, wenn sie wieder alle beisammen sein würden. Tiedemann, der ja immer
die Reklame bringt, hatte erzählt, dass das mit dem Harz nicht so geklappt
hätte und die Kolbinger nun wohl nach Berlin gereist seien. Man muss ja nicht
gleich auf jeden Quatsch eingehen. Nicht einmal eine Postkarte aus dem Harz war
zwischen den Prospekten von Marktkauf und Möbel Jähnichen.
Wie sollte es auch sein? Sie waren ja
schließlich gestern erst abgefahren. Ob Paula wohl in ständiger
Abwehrbereitschaft wegen der Luchse war? Jan wäre schon gerne mitgefahren aber
so lange die Tiere auf dem Hof waren musste er in Dröbermmoor bleiben.
„Vielleicht“, dachte er, „vielleicht
komme ich ja auch noch einmal los, wenn Anneliese so weit ist und den Hof
versorgen kann.“
Alles ging seinen gewohnten Gang.
Nur, dass Jan diesen Abend etwas länger brauchte, weil Paulas Tiere auch noch
versorgt werden mussten. Gut, dass er nicht jeden Tag Ziegen melken musste. Die
Ziegenmilch hatte er mit zu sich rüber genommen für seine Kälber. Die Stiefel
und seine Stalljacke blieben im Flur zwischen Stall und Küche. Am Ausguss in
der Küche eben die Hände waschen, zwei Hände voll kalten Wassers durchs Gesicht
und dann an den Abendbrots Tisch. Und der sah recht traurig aus. Morgens hatte
er schon wieder vergessen, den Tisch abzuräumen, ging ja sonst auch immer von alleine.
Zwei Portionen Mittagessen waren auch noch unberührt. Irgendwie passte es nicht
mit der Kocherei. Ein Brot zwischendurch tat`s doch auch. Zwei Scheiben von dem
leckeren, dunklen Reinkorn Brot von Bäcker Lühring aus Kolbingerhafen dick mit
Mettwurst belegt und dazu ein schönes Glas Milch! Zufrieden und gesättigt, ohne
den Tisch abzuräumen, bewegte Jan sich rüber in die Wohnstube. Fernseher an und
nach kurzem Kontrollblick über die Manchesterhose ließ er sich auf die Couch
fallen. Hallo Niedersachsen begrüßte soeben seine Stammgucker und kündigte
unter anderem einen Beitrag von der Grünen Messe aus Berlin an. Das
interessierte ihn wohl, hatte ja auch etwas mit Landwirtschaft zu tun.
Im Emsland trat Schweröl aus dem
Erdreich und verunreinigte die Gräben, die unter anderem auch als Tränke für
das Vieh galten. Nicht so schlimm, weil die meisten Tiere jetzt im Stall
standen. Trotzdem eine Sauerei. Man vermutete schon die große Raffinerie in der
Nachbarschaft als Quelle der Umweltverschmutzung.
Jan Riecken wollte schon gerade in
seinen gewohnten Kurzschlaf bis zur Tagesschau wegklappen, als er das Wort
Kolbingen aus dem Fernseher vernahm.
„Auf der Grünen Messe in Berlin
rückten die Niedersächsische Samtgemeinde Nordkolbingen und ihre
Mitgliedsgemeinde Dröbermmoor mit einem sehr individuellen Marketingtrick in
das Zentrum des öffentlichen Interesses…“
Jan wurde hellwach. Ein schwarzer
Stiefel, ein Gummistiefel wird vom Kameramann in den Vordergrund gezoomt, er
füllte fast den ganzen Bildschirm aus.
„Solche Stiefel hatte ich auch einmal
vom Raiffeisenmarkt in Friedeberg bevor mir der Doktor einen kaputtgeschnitten
hatte“, denkt Jan noch. Dann schwenkt die Kamera und zeigt die zum Stiefel
gehörige Person.
„Anneliese! Nee, Anneliese, Mudder
komm schnell mool her!“
Jan konnte gar nicht verstehen, was
da im Fernsehen gesagt wurde. Seine Anneliese war da im Fernsehen zu sehen mit
ihrer Krone auf dem Kopf, dem schönen Kleid, der Schärpe, auf der man deutlich
„Moorkönigin von Dröbermmoor“ lesen konnte, und eben dem einen, seinem Gummistiefel. Unglaublich! Sein
Gummistiefel war im Fernsehen. Erst jetzt realisierte der aufgeregte Moorer,
dass Mudder nicht kommen konnte, weil sie ja mit Anneliese und Paula im Harz
war. Neben seiner Anneliese lächelte eine hübsche junge Frau mit Krücken in die
Fernsehkamera. Das war keine von hier. Also die gehörte mit ziemlicher
Sicherheit nicht zu den Nordkolbinger Majestäten. Vielleicht ein Mädchen aus
Bilge oder Hohendeich. Da kannte Jan sich nicht mehr so gut aus mit den Leuten.
Auf der anderen Seite von Anneliese eine etwas ältere Frau in schwarzer Hose
und laubfroschgrünem Blazer. Auch sie trägt einen Satz Krücken bei sich und
scheint, so wie sie im Moment der Aufnahmen gerade guckt, etwas mucksch nach
links aus dem Bild zu starren. Während Jan noch dachte, dass die Grüne genauso
mucksch guckt, wie die Kanzlerin Merkel, hörte er die Stimme aus dem
Fernsehapparat:
„..stellten sich Kanzlerin Merkel,
die Kronprinzessin Viktoria von Schweden, beide gehandicapt durch
Schiverletzungen, gemeinsam mit der Moorkönigin Anneliese Riecken, verletzt
durch einen Sturz auf dem „Moorpatt“ in ihrer Heimatgemeinde Dröbermmoor an der
Unterelbe, den Fotografen für ein Erinnerungsbild auf. Mehr über die Grüne
Woche können Sie heute im Anschluss an die Tagesschau in einem NDR III Special
sehen.“ Dann schwenkte die Kamera und bevor der nächste Beitrag begann meinte
Jan Riecken für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht seiner Fine gesehen zu
haben.
„Momentmal, was machen die in Berlin?
Aber das war Anneliese und der hat doch auch etwas von Dröbermmoor in
Nordkolbingen gesagt? Hatte Tiedemann vielleicht doch Recht gehabt? Ich muss
Anneliese anrufen. Wo ist denn die Handynummer von Anneliese? Irgendwo hatte
sie die doch aufgeschrieben, falls `mal etwas sein sollte. Ich kann doch nicht
alles mit dem Harz geträumt haben?“
Den Zettel mit Annelieses Handynummer
fand er irgendwann auf der Ablage des Küchenschrankes in einem Stapel von
Kochrezepten, die Fine immer gerne aus irgendwelchen Zeitschriften riss dann
aber nur selten kochte. Leider!
„Oh, Enno, lass mich mal eben los,
mein Handy. Unbekannter Anrufer. Soll ich wegdrücken?“
„Nee, kannst ja nie wissen. Nimm
lieber ab.“
„Ja!?“
„Anneliese büst du dat? Anneliese
seid ihr in Berlin. Ich habe dich eben im Fernsehen gesehen. Ich verstehe das
alles nicht. Ihr kommt doch wieder, oder?“
„Nun ´mal langsam, Papa. Ja, wir sind
in Berlin. Davon wissen wir alle aber auch erst seit gestern Mittag, als der
schlaue Langholz plötzlich bemerkte, dass die Busse auf der Autobahn in die
verkehrte Richtung fuhren. Berlin war bis dahin geheim, nur die fünf Bilger
wussten alles, weil die heimlich unsere Fahrt nach Berlin geplant hatten. Sie
haben uns dann gefragt und niemand wollte umkehren. Hier ist es megacool. Heute
Abend sind wir beim RBB zu Gast.
Wo Mama ist? Weiß ich nicht! Wir
haben bis heute Abend Freizeit. Die ist mit Paula los.
Ich muss jetzt auflegen, die Keimöl
Königin aus der Steiermark möchte gerade etwas von mir. Mach´s gut, Papa. Ja
ich grüße sie. Ja, Tschüß.“
Keimöl Königin? Was um Himmels Willen
geht da ab in Berlin?
Es klopfte nun schon zum zweiten Mal
sehr heftig an der Tür.
„Frau Heinsohn, ist das ihr Zimmer?“
„Paula wach auf! Da will jemand etwas
von dir.“
Paula Heinsohn schreckte aus dem
Tiefschlaf hoch und schwang die Beine aus dem Bett. Fine hatte inzwischen die
Tür geöffnet. Ein Ziwi aus dem Büro stand in der Tür.
„Sind Sie Frau Heinsohn?“
„Nö!“
„Wissen Sie, wo ich Frau Heinsohn
finden kann?“
„Joo!“
„Ja und wo bitte?“
„Hinter mir auf der Bettkante, junger
Mann.“
„Frau Heinsohn, ich habe einen Herren
am Telefon, der behauptet, dass er Kapitän sei und ich sollte ihm sofort die
Matrosin Heinsohn ans Telefon holen. „Die Zeit eilt“, hat er gesagt, „er müsse
heute noch auslaufen. Wenn nicht gleich alle Mann und Frau Heinsohn an Deck wären müsse er
Anker schmeißen.“ „Und dann“, hat er gesagt, „wenn ich anfange mit dem
Ankerschmeißen, garantiere ich für nichts mehr.“ Frau Heinsohn kennen Sie einen
Kapitän?“
„Ich tu zwei hier in Berlin kennen.
Beide von Kolbingerhafen. De een heet Kuddel und de anner heet Walter. Nu goa
man henn no dien Quasselkasten un froog eerst mool, ob dat een von de beeden
is. Wenn joo, froog em, ob hei Kuddel heet oder Walter. Wenn…“
„Ich versteh Ihre Sprache so
schlecht, Frau Heinsohn…“
„Ja, ja, so ist das, sind ja nicht
alle so klug, dass sie zwei Sprachen können. Also noch een mool. Wenn der
Kapitän Kuddel heißt, sagst mir Bescheid. Wenn er Walter heißt, sagst du: Die
Frau Heinsohn hat sich für Wellness abgemeldet und ist nicht zu sprechen. Und
wenn er weder Kuddel noch Walter heißt, sagst du, dass Matrosin Heinsohn
Freiwache hat und die nächsten Tage keinen Heuervertrag unterschreibt. Verstanden?“
„Ja, nö.“
„Künnt doch genauso dösig kieken, de
Berliner, as soon Dösigen ut Dröbermmoor. Nur bi uus dor versteiht mi de
Dösigen taumindst.“
Kurze Zeit später kam der Ziwi durch
den Gang zurückgeeilt.
„Der Kapitän heißt Kuddel und, weil
es ihm alles zu lange dauert, hat er schon mit dem Ankerschmeißen begonnen.
Hoffentlich kommt niemand zu Schaden. Können wir uns ein wenig beeilen, Frau
Heinsohn?“
„Wenn ick di seh, dann fallt mi
jümmer Hera Klit in. Hev ick von Herrn Pastor hört op´n Wech no Berlin in Bus: „Dem
Blöden fährt bei jedem sinnvollen Wort der Schrecken in die Glieder“.
Na, Jung, hesst du di vondooch all
verjoocht? Würd mie taumindst nich wunnern. Düsse Hera Klit het sick bestimmt
wat bi dacht un so ganz dösig kann de Oolsch ook nich ween. Annerwies har de
Herr Pastor nich von eehr schnackt.“
Ein gutes Gedächtnis hatte Paula nun
mal und wenn ihre Eltern ihr damals ein bisschen mehr Schule gegönnt hätten,
wer weiß, vielleicht hätte sie dann auch gewusst, dass Hera Klit keine Frau
war, eigentlich Heraklit heißt, keine Bücher schreibt und seit 475 vor Chr. tot
ist.
Beachtlich, wie lange der nun schon
tot ist. Kennst du jemanden, der es geschafft hat, noch länger tot zu sein? Vorher
muss er sich noch ganz schnell ein paar schlaue Sätze ausgedacht haben. Und
einer dieser Sätze ist ausgerechnet unter dem silbergrauen Haar von Paula
Heinsohn aus Dröbermmoor hängengeblieben!
„Kuddel, wat is? Wat röpst du mi hier
in Berlin an?“
„Wo soll ich denn sonst anrufen?
Zuhause bist du ja nicht.“
„Dor hesst du ook all Recht. Wat
givt, Kaptein?“
„Willst du mit mir gehen? Also
soon lüttjes End nur. Viellicht
dör dat Brannenburger Tor?”
„Oober werklich nur gehen?“
„Heet dat, dat du mitkummst?“
„Jo, oober nich ohne min Nobersch und
Fründin Fine Riecken.“
„Muss das sein?“
„Jo!“
„Dann hol ich euch in 20 Minuten ab.
Tschüß.“
„Und, Paula? Wat wull hei?“
„Eerst wull hei mit mi „Gehen“ und
dann nur soon lütt beeten dör dat Brannenburger Tor.“
„Und, hesst du tausecht?“
„Hebb ick und för di ook glieks mit.
Hei is in poor Minuten hier und hoolt uus af. Ick bün jo fast ferdich. Man eben
noch´n Hann Kölsch Wooter. Wat is mit di? Ook Kölsch Wooter?“
„Nee, scheunen Dank, mi langt dat
ganz normale Wooter ut Berlin.“
Fünf Minuten später standen die
Frauen aus Dröbermmoor mit Hut und Mantel vor der Tür. Natürlich viel zu früh;
aber das machte rein gar nichts, weil Paula Heinsohn sich ohnehin noch schnell ein
Ei pellen wollte, eines ihrer hartgekochten Eier aus dem Bohnenbüdel. Beim
Frühstück hatte sie noch 10 Eier, nachdem sie und Enno jeder eines verzehrt
hatten. Ein Ei, der „blinde Passagier“ unter den Eiern, war heute Vormittag am
Kopf von Henry Krohn zerplatzt. Und nun ihre kleine Abendmahlzeit. Gut, dass
sie eines der Eier gegriffen hatte, die der Pastor vor den Security Leuten an
seine Stirn geschlagen hatte. Das ließ sich nämlich echt gut pellen - das Ei.
„Fine, du ook een? Schmeckt noch gau,
wenn se ook bi lütten ´n beeten blu-swatt üm dat Geele vun´t Ei sünd.“
„Nee, lass man. Oder, doch! ´n
lütt beeten Hunger hebb ick doch.“
Wenn Paula Heinsohn mitgezählt hätte,
hätte sie gewusst, dass sich inzwischen nur noch 7 Eier den Bohnenbeutel mit
einer schon etwas glibbrigen Luchsfrikadelle, einer Graubrotstulle mit
Leberwurst, der Handtasche, der Familienflasche 4711, einer Rolle Klopapier
(man kann ja nie wissen!) und ihren Handschuhen teilen mussten.
Ein Taxi fuhr vor und Kuddel
Oellerich schwang sich vom Beifahrersitz.
„Fine, du mit deinen langen Beinen
gehst am besten nach vorne und Paula und ich sitzen hinten.“
Der spinnt doch, der Oellerich. Dass
sie lange Beine haben soll, hörte Fine Riecken heute zum ersten Mal.
Man hat doch keine langen Beine, wenn
die Füße abends beim Fernsehgucken nicht einmal den Teppich berühren.
Otto Suhr aus Bilge und Gerhard
Langholz sahen durch die Scheibe der Eingangstür zu, wie die Lichter des Taxis
im Berliner Verkehr verschwanden. Eigentlich wären sie auch gerne mitgefahren;
aber es hat sie ja niemand gefragt.
Die RBB Party war der erwartete
Knaller. Fast der gesamte Messeadel war versammelt. Sogar die Spargelkönigin
genas relativ schnell, nachdem ihr von der Landkönigin zugetragen worden war,
dass es keinen Nachschub für die ausgegangene Spargelsuppe geben würde.
Zusammen mit Nikki Schütt und den beiden Altländer Königinnen hatte sie sich
auf den Weg in Halle 27 gemacht. Ludolf Tausendfreund, von dem bisher noch kaum
etwas auf dieser Reise bemerkt worden war, hatte eine Wette mit Kalle Seefeld
abgeschlossen, wer von den beiden an diesem Abend mit den meisten Königinnen
tanzen würde. So viel sei hier schon mal verraten: Kurz vor Mitternacht, die
Party näherte sich schon dem Ende, waren beide gleichauf. Weit und breit war
keine Majestät zu sehen, die noch nicht bei den beiden Kolbinger Tänzern
unterschrieben hatte. Ludolf, der alte Charmeur, musste sich letztlich einem
Schiedsgericht gegenüber als Verlierer bekennen, weil er die Brockenhexe, die
ja nun wahrlich keine Königin ist, mitgezählt hatte. Und so kam es, dass Kalle
Seefeld der Wettkönig des Abends wurde und, nur für ganz kurze Zeit, der wahrscheinlich
einzige König in Halle 27 war.
Das Handy der Moorkönigin gibt
Signal. Anneliese öffnet die SMS:
„Empfang von die Deutsch – Svensk
kamratskab med Angela, Angie ist ein ægte Spaßbrake(bremsen??). Viktoria“
„Viktoria hat mir eine SMS von einem
Empfang mit Merkel geschickt. Die ist echt cool. Sie schreibt: Angie ist eine ægte
Spaßbremse!“
Die umstehenden Kolbinger lachten und
freuten sich für Anneliese, dass sie eine SMS von einer echten Prinzessin, von
der Kronprinzessin von Schweden bekommen hatte. Lukas, der neben Anneliese
stand, meinte: „Schreib zurück, dass du hier auf einer Fete mit 300 Majestäten
aus ganz Deutschland und auch aus dem Ausland bist und dass es hier sehr
fröhlich zugeht.“
Die Blütenkönigin aus dem Alten Land
hatte ihre Schmuckhaube schon wieder abgesetzt. Durch das lange Tragen der
Haube während der Messetage hatte sich ein juckendes Ekzem auf der Kopfhaut
gebildet. Sie musste sich wegen des ständigen Juckreizes zwingen, nicht immer
mit der Hand über den Kopf zu streichen. Viktorias SMS an die Moorkönigin mit
dem Gummistiefel aus Dröbermmoor interessierte sie nur beiläufig. Gut, dass
Hergen Hilk nicht mit zur Party gekommen war. Bestimmt wäre er sofort auf sie
zugeflogen und hätte darauf bestanden, dass sie umgehend die Haube aufsetzen
müsse.
Dabei sah sie ohne diese Haube
richtig niedlich aus.
Das meinte auch Kalle Seefeld, der
immer auf der Suche nach der Frau fürs Leben war. Wenn es denn die Richtige wäre,
würde es auch nichts ausmachen, wenn sie aus dem Alten Land käme. Es gab
genügend Beispiele von Kolbingern, die Frauen aus dem Alten Land geheiratet
hatten. Die Ehen waren auch nicht glücklicher, als die „reinen“ Kolbinger Ehen.
Fast immer aber waren sie von wirtschaftlichem Erfolg gekrönt. Vielleicht war
doch etwas dran am Gerede von Geiz und Sparsamkeit der Altländer.
Natalie, Königin der Nacht, die sich
inzwischen bei den meisten neuen Bekanntschaften als Sabine oder nur Bine
vorstellte, konnte schon über eine Stunde nicht mehr „Party machen“. Ihrem
Hündchen Hannibal (vormals Ündschen Annibal) hatte ein gesundheitliches
Problem. Fliegender Atem und schneller Puls verbunden mit geringer
Standfestigkeit, Grund für große Sorge bei Sabine Klöfkorn. Ludolf
Tausendfreund, der Natalies schrittweise Rückverwandlung in Sabine Klöfkorn mit
distanzierter Aufmerksamkeit begleitete, hätte seiner Angestellten schnell des
Rätsels Lösung geben können. Er hatte nicht nur gesehen, wie das „Ündschen“
eine Sektpfütze vom Fußboden aufgeschleckt hatte sondern auch noch für
Nachschub gesorgt, als das Tier den Hallenboden schon fast trocken geleckt
hatte. Er war nie ein Freund von Tieren und es bereitete ihm eine heimliche
Freude zu beobachten, wie sich der kleine „Annibal“ im Sektrausch aufführte.
Der Spielmannszug aus dem Moor hatte
am „Abend der Nationen“ drei Auftritte. Ein kleiner Ausschnitt war auch im
Berliner Rundfunk zu hören. Das wusste aber niemand von den Kolbingern in
Berlin. Und von den Kolbingern in Kolbingen wusste es erst recht niemand, wer
hörte an der Elbe schon Berliner Rundfunk. Eigentlich schade! Nun waren sie
schon einmal im Radio und kein Kolbinger nahm es wahr. Nachdem der DJ kurz nach
Mitternacht das Ende der Party verkündete, zogen die Kolbinger geschlossen
hinter der Musik über das verwaiste Messegelände hin zum Busparkplatz. Immer
leiser war das Anneliese Lied in der Halle 27 zu hören bis es endlich ganz
verstummte.
Der Auftritt der Kolbinger mit dem
Spielmannszug aus Aantenermoor auf der Grünen Messe in Berlin war Geschichte.
Irgendwie merkte man sofort, dass
Kuddel Oellerich aus Kolbingerhafen ein Mann von Welt war. Wie selbstsicher er
sich im Taxi aufführte.
„Fahren nach Deutsche Bundestag! Du
wissen wo Bundestag ist?“
Der südländisch aussehende junge
Fahrer spricht in den Spiegel.
„Was glaubst du denn, wer dich fährt?
Ich kenne Berlin wie meine Westentasche, bin hier geboren und aufgewachsen. Wer
mit mir fährt muss keine Angst haben, kommt immer ans Ziel.“
„Hm.“
„Bist noch nicht so lange in
Deutschland, wie du sprichst. Kommst wohl aus dem Kaukasus oder Moldawien? Hab gestern
gerade auch einen Ausländer von Tegel abgeholt, hatte genauso schlecht Deutsch
gesprochen, wie du.
Beides Deine Frauen? Sprechen wohl
kein Deutsch?“
„Sech mool Kuddel, de hett doch nich
alle Tassen in Schapp. Vertell em mool, dat wi von Dröbermmoor sünd.“
„Oh, Ihre Frau hat etwas gesagt. Ich
verstehe nur „alle Tassen“. Wahrscheinlich ein Irrtum. Manchmal klingen
ausländische Wörter wie Worte aus meiner Heimatsprache. Was hat sie gesagt?“
„Sie sagen, Farrer sollen nix reden,
lieber auf Strassen gucken.“
Der Taxifahrer fixiert Paula Heinsohn
im Rückspiegel und sprach mehr zu sich:
„Na gut, wenn sie das so will.“
„Sech mool Kuddel, hest du viellicht
ook nich alle Tassen in Schapp?“
„Hat sie wieder gesagt, dass ich auf
die Strasse gucken soll? Klang so ähnlich. Ich hatte doch gar nichts mehr
gesagt.“
Der freundliche Taxifahrer tat Fine
Riecken leid und außerdem schämte sie sich für den Auftritt ihrer Landsleute.
Wieso spricht Kuddel, als hätte er erst eine Saison bei Suhr Äpfel gepflückt?
Der Lebt doch schon sein ganzes Leben in Kolbingerhafen abgesehen von seinen
großen Fahrten als Kapitän auf dem Binnenschiff „Martha Oellerich“, das er in
seiner aktiven Zeit nach Hamburg und sogar bis in die Krückau nach Elmshorn
gesteuert hatte.
„Wissen Sie, meine Freunde sind Kolbinger
und sehr fremd in Berlin - müssen Sie wissen.“
„Und Sie? Sie sprechen fast ohne
Akzent Deutsch. Woher können Sie so gut Deutsch?“
„Mir geht es wie Ihnen. Ich bin auch
in Deutschland geboren und hier aufgewachsen, in Dröbermmoor bei Stade an der
Elbe.“
Auf der Rückbank wurde es ganz still.
Paula Heinsohn merkte gar nicht, dass sie Kuddels Hand drückte und Kuddel
dachte überhaupt nicht daran, seine Hand aus der von Paula zu befreien.
„Muss ganz schön schwer sein für ihre
Freunde im Ausland und so fast ohne Deutschkenntnisse. Da ist es schon gut,
wenn Sie dabei sind.“
„Ja, ich bin auch immer ganz
glücklich, wenn ich sie begleiten kann. Dann weiß ich wenigstens, dass ich sie
auch heil wieder bekomme.“
Paula räusperte sich.
„Fine nu hör oober mool op. Wat
schnackst…”
“Hol dien Muul Paula, du büst nur
scharneerlich[14].“
„Und was hat sie nun gesagt?“
„Sie hat gefragt, ob Sie wohl gerne
ein hartgekochtes Ei aus ihrer Heimat hätten. Das ist ihre Art der
Gastfreundschaft. Nehmen Sie es ruhig an, das wird ihr Freude bereiten. Hesst
du nich hört, nu mool dalli dalli, her mit dat Ei. Hesst doch mitkregen, wat
ick dem Keerl vonne gastfründlichen Utlänners vertellt heb.“
Paula befreit ihre Hand und versenkt
sie in den Tiefen ihres Bohnenbüdels. Die 4711 Flasche ist im Weg.
„Kuddel, hol mool de Buddel fast bis
ick funn ha, wat ick söök.“
Kuddel kam die Flasche gerade recht.
Er litt in den letzten Minuten mehr und mehr darunter, dass er sich aus dem
Spiel gebracht hatte. Vertrautem Muster folgend, dass nämlich in aussichtsloser
Situation immer schon ein guter Tropfen geholfen hatte, schraubte er Paulas
Kölnisch Wasser auf und nahm einen tiefen Schluck.
Es schmeckte schon ein bisschen merkwürdig
– tat aber gut!
Paula tippt Fine auf die Schulter und
reichte zwei Eier nach vorne.
„Een vun mie un een vun Kuddel. So,
un nu kannst mien Buddel trüch geben, Kuddel.“
„Sagen Sie ihr bitte herzlichen Dank.
Das ist wirklich sehr nett. Wir sind gleich da.“
„Hesst hört, wat hee secht hett. Swie
eenfach nur still Paula. Sech bloot nix mehr bis wie buten sünd.“
Und so kam es. Am Deutschen Bundestag
reichte Kuddel Fine dreißig Euro rüber, damit sie das Taxi bezahlen konnte.
Schließlich konnte sie ja eindeutig am besten Deutsch von den Dreien. Fine
beschloss, dass ihr „Freund“ Kuddel Oellerich aus dem fernen Kolbingen sich
heute großzügig zeigen wollte und verzichtete auf die 5,20 € Wechselgeld.
Kuddel schluckte das unüblich hohe Trinkgeld ähnlich wie Paulas
Erfrischungswasser kurz zuvor und atmete heftig aus. Eine Duftwolke von 4711
verbreitete sich im Taxi. Paula griff instinktiv in ihren Bohnenbüdel, weil sie
irrtümlich davon ausging, dass sich der Verschluss ihrer Wunderwaffe gegen
Körpergeruch geöffnet hätte.
„Danke schön. Hier ist meine Karte,
falls Sie noch einmal ein Taxi in Berlin brauchen. Ich wünsche Ihnen noch eine
schöne Zeit in Deutschland!“
Kurze Zeit später am Taxistand hatte
er sein Samsung aus dem ledernen Etui mit dem Aufdruck „Commander“
herausgezogen und „Kolbingen“ gegoogelt. Das Land meinte er schon einmal in den
Nachrichten gehört zu haben. Als Geografie Student ließ es ihm keine Ruhe,
nicht zu wissen, aus welchem Land seine Fahrgäste stammten. Wikipeda gab ihm
nur neue Rätsel auf. Hatte er wirklich richtig gehört? Kolbingen:
Strukturschwache, ländliche Region im nördlichen Kreis Stade, Niedersachsen.
Während er sein Smartphone wieder im „Commander Etui“ verschwinden ließ, nahm
er sich vor, zuhause noch einmal am PC nach Kolbingen oder ähnlich klingenden
Orten zu suchen.
Die drei Kolbinger standen vor dem
Deutschen Bundestag, der genauso aussah, wie im Fernsehen. Nur etwas größer.
Kuddel und Fine waren ganz ergriffen von der durchleuchteten Kuppel während
Paula immer noch rätselte, was das mit den Eiern sollte und warum sie nichts
mehr sagen durfte.
„Fine, wat weer dat eben in´t Taxi?
Worüm weerst du so, so koomisch mit uus?“
„Nu
hör oober mool op, Paula. Dat weer doch nur pienlich as wie Kuddel den Taxi Föhrer mit sien
Utlänner Dütsch anquasselt hett. Wat hesst du di dorbi bloot dacht, Kuddel?“
„Ick dacht, dat wer´n Utlänner. Hei
seh doch ook soon lütt beeten ut as so een von´e Türkei oder Libanon.“
„Und deswegen musst du so dusselig
reden, wie sonst nie? Ist euch aufgefallen, dass er uns für Ausländer gehalten
hat? Ist euch aufgefallen, dass er trotzdem mit uns in bestem Hochdeutsch
geredet hat? Mensch, Mensch, peinlich, peinlich Paula Heinsohn und Kuddel
Oellerich.“
„Oober hei hett doch utsehen as´n
Utlänner!“
„Hör op, Paula. Nimm di´n Bispeel an
em. För em weerst du´ne Utlännerin un har hei di behannelt as soon Dösbaddel
ut´n Moor?“
„Ne, hett hei nich. Wo du recht hest,
hesst du recht. Denn weer dat doch wohl ganz gaud mit de twee Eiers. Wat rügt
dat hier? Is mien Kölsch Wooter doch nich ganz dicht?“
Kuddel hatte für den Abend vier
Karten für den letzten Einlass in das Reichstagsgebäude organisiert.
Ursprünglich wollte er mit Walter Wolter, Gaby Melzer und Frau Dammann, die mit
der Spargelsuppe, los. Da wusste er aber noch nichts vom überraschenden
Auftauchen der Kolbinger Delegation vor dem Stader Messestand. Als er Paula
Heinsohn zwischen den Kolbingern erkannte, disponierte er blitzschnell um. Dass
Fine Riecken nun auch noch dabei war, entsprach nicht gerade seiner
Traumbesetzung für diesen Abend. Irgendwie sollte es alles noch nicht so sein,
wie Kapitän i.R. Kurt Oellerich sich das gedacht hatte.
Nix geht ohne Sicherheitskontrolle im
Deutschen Bundestag.
„Ihre Tasche müssen Sie hier lassen,
gnädige Frau.“
Paula war zutiefst beeindruckt.
„Gnädige Frau“ hatte der nette Herr im grauen Anzug zu ihr gesagt. Das hatte
weder ihr dahingeschiedener Ehemann Hinrich noch Kuddel Oellerich jemals zu ihr
gesagt.
„Ja gerne, oober worüm?“
„Wegen des unklaren Inhaltes,
verstehen Sie?“
„Ach so.“
Fines Tasche ging so durch. Kein
unklarer Inhalt. Paula wollte, dass sie nach ihrer Rückkehr die Taschen auf dem
großen Tisch im Speisesaal auskippen, um herauszubekommen, warum ihr
Tascheninhalt „unklar“ sei und der von Fine nicht.
Dabei hatte Fine schon große Angst,
dass man ihr wieder den Kartoffelschäler für ihre Äpfel abnehmen würde. Als das
dann aber nicht geschah, durchzuckte es sie schmerzlich. Sie hatte vergessen,
sich das geliebte Messer beim Verlassen des Messegländes wieder an der
Sicherheitskontrolle abzuholen.
Es ging mit einem Fahrstuhl hoch bis
zur gläsernen Kuppel. Jeder der drei Kolbinger war auf seine Art tief
beeindruckt von der Architektur der Glaskuppel.
„Hier müsst ihr einmal runtersehen.
Da kann man direkt in den Bundestag sehen, wie die Abgeordneten und die
Regierung sich streiten. Guck mal hier Paula!“
Paula und Fine beugen sich über das
Geländer. Fine macht gleich wieder drei Schritte zurück, ihr wurde sofort übel
beim Blick in die Tiefe. Paula blickte sehr aufmerksam, hatte die Nasenspitze
fast schon auf dem Glas.
„Du, Kuddel, ick kann keen von de
Regierungsbagaluten sehn und ook keen von de Afgeoordneten. Denk mool, dat de
Merkel de all no Bett hinschickt hett. Weer bestimmt weller ´n anstrengenden
Dach. Oh, door kümmt een mit´n Huulbessen[15].
Süht uut as de Merkel. Dat glöv ick nu oober nich. De waart doch nich an End,
wenn se de ganze Bagaasch rutsmeeten hett, sülbigst mit denn Huulbessen dör´n
Bunnestach saugen? Wat meenst du Fine?“
„Hat sie Krücken und so komische
Klamotten an as soone Putze?“
„Ne, Krücken kann ick nich sehn oober
ehre Kledaasch süht so ut as von Angela.“
„Ne, Paula, hesst doch sehn vondooch,
dat se ohne ehre Krücken goor nich loopen kann.“
„Joo, hesst recht. Denn is dat wohl
doch eher een von de Staatsputzen.“
Hätte Fine ein Handy gehabt, sie
hätte schon längst von Anneliese erfahren, dass Änschie Merkel gar nicht den
Bundestag saugen konnte, weil sie sich ja mit Viktoria auf dem Empfang der Tysk
– Svensk kamratskab aufhielt und dort als Spaßbremse unabkömmlich war.
Kuddel führte seine beiden
Begleiterinnen die spiralförmige Rampe hoch bis in die Spitze der Kuppel. Fine
Riecken konnte das nur ertragen, wenn sie ihren Blick weit über das Lichtermeer
der Berliner Innenstadt schweifen ließ. Paulas größte Sorge galt der Außenseite
der Glaskuppel.
„Nich mool tein Peer würn mie dor
buten taun Fensterputzen hinkreegen. Nich mool twinnich Peer un mehr!“
Obwohl beileibe nicht alles schön war
für Fine, nahm sie sich fest vor, ihrem Jan am nächsten Abend genau vom Besuch
des Deutschen Bundestages zu erzählen.
Eine Glocke mahnte die Besucher den
Bundestag zu verlassen. Das Ende der Besuchszeit deutete sich schon durch die
Blicke des Aufsichtspersonals auf Ihre Armbanduhren an. Bis zum Erklingen der
Glocke wurden die Intervalle zwischen den Blicken immer kürzer.
Die Zeit lief den drei Kehdingern
davon. Das Kanzleramt hat Kuddel kurzfristig aus seinem Programm gestrichen.
Nicht aber das Brandenburger Tor. Er wollte unbedingt eine Fotografie von sich
mit Paula am Arm unter dem Wahrzeichen Berlins.
Am Tor angekommen sollte wieder
einmal alles anders kommen. Paula fand Kuddels Idee super und ergänzte seinen
Vorschlag noch ein wenig.
„Hier löpt jo´n poor Fotografen rüm,
de Fotos för Touristen mookt. Fine un ick nehmt di in´ne Mitt un dann loot wi
uus opnehmen vun denn Keerl dor dröben mit denn Knippskassen.“
Kaum ausgesprochen begab sie sich zu
einem der Fotografen. Leider konnte sie sich weder auf Platt noch auf
Hochdeutsch verständlich machen. Erst etwas später musste sie feststellen, dass
sie keinen der Berufsfotografen sondern einen sprachunkundigen Touristen aus
einem ihr nicht bekannten Land angesprochen hatte. Im zweiten Versuch hatte es
dann aber doch noch geklappt. Fine und Paula strahlen in die Kamera, Kuddel,
zwischen den beiden Frauen, strahlte nur auf einem der drei Ausdrucke. Auf den
beiden anderen hatte er eher Merkelsche Züge.
An der Nähe der Kanzlerin konnte es
eigentlich nicht liegen.
Kuddel gab noch eine Runde Berliner
aus. Auf dem Weg zum Taxistand genehmigte er sich dann noch einen Hamburger.
Paula verzehrte zwei Frankfurter und Fine, die auch schon lange nichts Warmes
in den Bauch bekommen hatte, bevorzugte Krakauer.
Die Rückfahrt zum Jugendgästehaus im
Taxi verlief unerwartet ruhig und für Kuddel viel zu schnell. Dort angekommen
sprang der Kapitän aus dem Auto, rannte für sein Alter viel zu schnell um das
Taxi, um Paula die Tür aufzureißen. Er nahm sie in den Arm, wie er es immer bei
den jungen Leuten beobachtet hatte und hätte sie fast nicht losgelassen, hätte
Paula nicht bemerkt, dass sie nicht loskam.
„Kuddel,
nu loot mi mool, ick will no Bett. Wi föhrt morn freu und ick möt noch´n beeten schloopen. Und
du mötst jo ook noch, n poor Matrosenpatente vergeben. Kannst jo mool op, n
Tass Kaff bi mi rinkieken, wenn du von Berlin trüch büst. Schloop goot und
scheunen Dank ook för den scheunen Oobend.“
„Kannst sagen was du willst“, dachte
Paula, „auch, wenn er nicht mehr der Jüngste ist, er riecht fast so gut, wie
ich.“
Fine war schon vorgegangen und Paula
schon wieder verunsichert, ob sie in 43 oder in Zimmer 34 wohnte. Sie hatte
Glück, es war schon beim ersten Versuch das richtige Zimmer. Fine hatte Glück,
dass Paula nicht mehr an den Handtaschenvergleich dachte. So blieb es vorerst
noch unklar, was bei Paula unter unklarem Inhalt zu verstehen war. Nicht ganz
abwegig war die Theorie, dass ein weiteres Mal die letzten Eier aus dem
Hühnerstall im fernen Dröbermmoor für Verwirrung beim Sicherheitspersonal
gesorgt hatten.
Die beiden Nachbarinnen aus Kolbingen
lagen schon in ihren Betten. Paulas Atem kündigte bereits im Ansatz eine
lautere Schlafphase an während Fine sich ein wenig Sorgen machte, wo wohl
Anneliese abgeblieben sei. Da ging die Tür vorsichtig auf. Anneliese huschte
zum Bett ihrer Mutter.
„Mama, schläfst du schon?“
„Nein.“
„Mama, ich gehe noch einmal kurz zu
den anderen in den Speisesaal. Enno ist auch da. Geht das klar?“
„Geh mal, Lieschen. Komm aber nicht
zu spät.“
Nun konnte sie beruhigt einschlafen. Sie
ahnte ja nicht, dass die „anderen“ nur aus Enno bestanden.
Am nächsten Morgen wurde in allen Zimmern
gepackt. Fein raus waren jene Kolbinger, die fast nichts für den Harztrip
gepackt hatten (Harry Röndigs) oder ihren Koffer gar nicht erst ausgepackt
hatten (Edwin Buhrfeindt). An Paulas Koffer wollte erst das eine Klappschloss
nicht einrasten. Was hätte sie nun für ein Tröpfchen Salatöl gegeben. Dann
aber, ganz unverhofft, schnappte auch das zweite Schloss ein. Eine
Bestandsaufnahme ihrer Reiseverpflegung ergab ein ernüchterndes Ergebnis. Von
dem Stück Butterkuchen in Küchenrollenpapier trennte sie sich schweren Herzens.
Es war so hart geworden, dass auch mit neuem Gebiss nichts zu machen gewesen
wäre. Aber es fanden sich noch vier ihrer ursprünglich 16 hartgekochten Eier im
Bohnenbüdel. Alle vier trugen deutliche Spuren von Pastor Henry Krohns eindrucksvoller
Demo beim Sicherheitscheck am Messeeingang.
Die Frikadellen waren alle weg. Das
war auch gut so. Ihre Zeit wäre nun ohnehin abgelaufen und, dass hier in Berlin
keine Luchsgefahr bestand, hatten die Kolbinger ja in den vergangenen zwei
Tagen mit eigenen Erfahrungen bestätigt
bekommen.
In der Großstadt lauerten andere
Gefahren! Für Berlin durfte der Bär nicht unerwähnt bleiben!
Heino Buhrfeindt und Dieter Schmarje
hatten ja unbedingt noch etwas in der letzten Nacht erleben wollen. Sie fragten
Lukas nach der Rückkehr von der RBB Party, was man denn noch tun könne. Sie
hätten lieber das Internet statt Lukas fragen sollen.
Lukas berichtete den beiden beiden
von einer Mutprobe am Eingang zum Zoo, wo immer am dritten Samstag im Monat
sich mutige Berliner und Touristen einen zahmen Bären auf den Rücken binden
lassen können. Dieser Brauch, im vergangenen Jahr vom Berliner Tourismusverband
ins Leben gerufen, erfreue sich inzwischen sehr großer Beliebtheit. Besonders
nett seien die Erinnerungsfotos, die die jungen Kerle mit dem aufgebundenen
Wappentier der Berliner zeigen.
Das hörte sich gut an. Die zwei jungen
Männer aus Aantenermoor machten sich gegen Mitternacht auf den Weg zum Zoo, um
sich einen Bären aufbinden zu lassen. Vorsichtshalber steckte sich noch jeder
von ihnen ein Zwölferpack „Kleiner Feigling“ in die Tasche. Mit zunehmender
Nähe zum Zoo wuchs auch ein bisschen Unbehagen vor der eigenen Courage. Unbehagen, das sich erfolgreich mit dem einen
oder anderen „Kleinen Feigling“ bekämpfen ließ.
Vor dem Haupteingang zum Zoo war
nicht eine Menschenseele. Nur gut, dass die beiden das Taxi noch nicht
weggeschickt hatten. Sie fragten den Fahrer, der etwas verunsichert mit starkem
Akzent aus seiner marokkanischen Heimat meinte:
„Gehört habe ich schon, vielleicht
Nebbeneingang?“
Sie fuhren durch einige Nebenstraßen
zum hinteren Eingang des Zoos. Als auch dort niemand war, baten sie den Fahrer,
sie wieder zurückzufahren. Zu gerne hätten sie noch Lukas angerufen; dafür war
es jetzt aber definitiv zu spät.
Ein paar Feiglinge später verließen
sie das Taxi an ihrer Herberge. Wie es der Zufall wollte, begegnete Lukas ihnen
auf dem Flur, der noch bis eben mit seinem Bilger Team die erfolgreiche Reise
zur „Grünen Woche“ mit einigen Flaschen Berliner Kindl nachbesprochen hatte. Er
strahlte die beiden Feiglingfreunde in höchster Fluchtbereitschaft an und
fragte für die späte Stunde auf dem Gang zu den Schlafräumen etwas zu laut:
„Na, haben sie euch einen Bären
aufgebunden?“
„Nö, da war keiner mehr.“
„Schade, ich war mir ziemlich sicher,
dass ihr zurückkommen und mir erzählen würdet, euch hätte jemand einen Bären
aufgebunden. Gute Nacht!“
Dass man ihnen doch einen Bären
aufgebunden hatte sollten die beiden Einfaltspinsel erst auf der Rückfahrt
zwischen Horneburg und Stade begreifen, als sie ihren Mitreisenden vom
nächtlichen Misserfolg am Zoo berichteten und die sofort bemerkt hatten, dass
ihre beiden Kameraden gelinde gesagt tierisch verar… worden waren. Letztendlich
stimmten die beiden in das Gelächter der Umgebung ein. Lukas versprachen sie
bei der Ankunft mit Grinsen im Gesicht, dass er eines Tages mit einer Revanche
rechnen müsste.
Dann machten sie sich auf den
Heimweg. Nicht immer gradlinig aber fröhlich.
Das Autofarbenroulette hatte für die
Rückfahrt die Traumfarbe „Schwarz“ ergeben. Das hatte zum Ergebnis, dass bereits weit vor dem
Autobahndreieck Wittstock sämtliche „Küstennebel“ und „Kleine Feiglinge“
geleert waren. Und das wiederum hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sie auf
der RBB Party mit fast allen Majestäten, derer sie habhaft werden konnten,
Brüderschaft getrunken hatten. Nur dem Umstand, dass sie die Rast an der
Raststätte Stolpe Nord verschlafen hatten, war es zu verdanken, dass kein
Nachschub an Bord gekommen war und sie so einigermaßen ausgenüchtert den
heimatlichen Boden von Aantenwördenermoor betreten konnten.
Die Abfahrt verlief planmäßig. Nur an
der Sitzordnung in den Bussen hatte sich durch die zwei gemeinsamen Tage
einiges geändert. Natürlich saß Harry Röndigs von Anfang an neben der Königin
der Nacht, neben seiner Sabine. Hannibal, das tierische Erbstück von Oma
Klöfkorn hatte inzwischen seinen RBB Party Rausch ausgeschlafen und freute
sich, die ganze Reise über auf Sabines Schoß sitzen zu dürfen. Die ersten Male
als Hannibal mit Hannibal und nicht Annibal angesprochen wurde, sah er das
verschwommene Bild von Oma Klöfkorn, seinem ersten Frauchen vor seinen Augen
vorüberschweben.
Gerd Langholz saß neben Beate von
Lindern, die ihm pausenlos von dem dänischen Interview erzählte und, dass demnächst
auch das dänische Volk von ihren Kampf um den Wachtelkönig wisse. Sie ahnte
nicht, dass sie komplett aus dem Beitrag herausgeschnitten worden war und sie
ahnte auch nicht, dass Gerd Langholz sich weder für den Wachtelkönig noch das
Fernsehinterview interessierte. Ihn interessierte mehr Beate als Mensch und da
besonders wieder als Frau. Diese Frau ist durch ihre erfolgreiche Mission für
den Wachtelkönig förmlich aufgeblüht.
„Man müsse ihr nur noch das
andauernde Gerede vom Wachtelkönig abgewöhnen“, meinte Langholz in Gedanken.
„Und was haben Sie gestern noch
erlebt, Herr Langholz? Auf der RBB Party hatte ich sie nicht gesehen.“
„Ich habe Stätten meiner Jugend
besucht, bin ´mal zur FU gefahren. Hat sich aber viel verändert. Da hatte ich
einmal eine Begegnung mit Rudi Dutschke, Sie wissen doch, diesem
Studentenführer der 68er. Wir hatten damals einen sehr interessanten
Gedankenaustausch. Hat mich geprägt fürs Leben.“
Dass der Gedankenaustausch auf der
Toilette der FU stattgefunden und nur wenige zwei Minuten gedauert hatte,
verschwieg der ehemalige Revolutionär. Das war aber auch egal, es interessierte
Beate von Lindern ohnehin nicht. Wäre er seinerzeit statt Rudi Dutschke dort
auf dem Klo einem Wachtelkönig begegnet, wäre die Lage schon erheblich interessanter
gewesen. Klugerweise versuchte Langholz nicht mit dem Wachtelkönig auf dem Klo
zu punkten. Selbst Beate von Lindern, nett aber etwas einfach strukturiert, hätte
wahrscheinlich sofort erhebliche Zweifel an Langholz Beobachtung angemeldet.
Anneliese lehnte an Enno und war nach
der kurzen Nacht schon gleich nach Abfahrt des Busses eingeschlafen.
Kalle hatte regen SMS Verkehr mit der
Altländer Blütenkönigin, die sich durchaus vorstellen konnte, den netten Jungen
aus Bilge mit der Rechts- Linksschwäche einmal zu heiraten. Allerdings könne
sie sich auch wegen ihrer Eltern nur eine lebenslange Verbindung vorstellen,
wenn Kalle bereit wäre, seinen Lebensmittelpunkt in das Alte Land zu verlegen. Kalle
simste zurück, dass dieser Gedanke für ihn bislang unvorstellbar war. Nun aber,
nachdem er sie ohne Haube gesehen hatte, könne er sich das Alte Land als neue
Heimat durchaus vorstellen. Nur HSV Fan müsse er bleiben dürfen. Dagegen hatte
Blütenkönigin Silke Quast nichts einzuwenden. Allerdings erwarte sie eine
gütliche Einigung mit ihrem Vater über die Nutzung des Flaggenmastes.
„Du musst nämlich wissen, dass Papa
Bayern Fan ist!“
„Ach du Scheiße!“
Das war Kalle so rausgerutscht und
mehrere Köpfe um ihn herum gingen hoch, einige wollten wissen, was denn
passiert sei.
Stolpe Nord (Raststätte) ereigneten
sich zwei bemerkenswerte Dinge. Pastor Henry Krohn hatte sieben Mitglieder des
Moorer Spielmannszuges gewinnen können, mit ihm einen instrumentalen Choral einzustudieren.
Kaum, dass der Bus stand, versammelte der Pastor die interessierten Musiker auf
einem freien LKW Parkplatz neben dem Bus. Nach 15 Minuten hatten sie es drauf
und es klang gar nicht ´mal schlecht: Posaune, Trompeten, mehrere Flöten, zwei
Trommeln und der Schellenbaum. Ein Ü-Wagen des NDR, der zufällig auf dem
Rückweg von der Grünen Messe nach Hamburg war, stoppte neben den Musikern.
Einer der Redakteure hatte den Pastor wieder erkannt, der gestern auf der Messe
die Andacht durchgeführt hatte. Natürlich waren die Kolbinger Musikanten sofort
bereit, ihr Werk noch einmal vor laufender Kamera vorzutragen. So kam es, dass
der Landessuperintendent aus Hannover später am Sonntagabend seinen Pastor
Krohn aus Bilge zum zweiten Male in zwei Tagen in „Hallo Niedersachsen“, auf seinem
Lieblingssender zu sehen bekam.
Das zweite große Raststätten Ereignis
hatte mit Paula Heinsohn zu tun. Sie musste ´mal wieder, wollte aber nicht mit
Fine zusammen gehen. Irgendwie wollte sie es sich und Fine beweisen, dass sie
ganz selbständig mit dem Automaten zurechtkommt. Es fühlte sich auch gut an als
die 70 Cent im Schlitz der Maschine verschwunden waren, das Sanifair Ticket
heraus surrte und das Drehkreuz zum Passieren frei gegeben wurde. Paula blickte
noch einmal zurück, ob die Person, die hinter ihr in der Schlange stand, die
Aufgabe ähnlich souverän löste, wie sie selber. Dann suchte sie sich eine freie
Klozelle und ward längere Zeit nicht mehr gesehen. Sie verpasste nicht nur die
Uraufführung der Kolbinger Musiker. Um Haaresbreite hätte sie auch noch die
Abfahrt des Busses verpasst, wäre Fine Riecken nicht aufgefallen, dass der
Platz ihrer Nachbarin nicht besetzt war. Eine Blitzumfrage im Bus ergab, dass
Paula Heinsohn zuletzt im Toilettenkeller der Raststätte gesehen wurde. Fine
machte sich erneut auf zur Toilette. Sie war schon bis zum Drehkreuz und Paula
war immer noch nicht zu sehen. Fine setzte noch einmal 70 Cent ein und hastete
in den Vorraum der Damentoilette. Einige Männer und Frauen blickten neugierig
und mitleidig hinter ihr her. Wer kannte das Gefühl nicht, wenn nichts mehr
geht?
„Paula, Paula, büst du hier?“
Wasser rauscht. Aus gleicher Richtung
Paulas Stimme.
„Jo, Fine, du glövst gor nich, wat
ick hier beleeven do.“
Fine befürchtete schon das
Schlimmste, als sich die Kabinentür öffnete und Paula sich voll angezogen auf
die Klobrille niedersetzte, wieder aufstand, die Spülung betätigte und ganz
aufgeregt auf die Klobrille zeigte.
„Nu
kiek di dat mool an, Fine. Ick heb dat nu bald all fofftein Mool utprobeert. De brukt hier gor keen
Klofru op eern Padermang. Sowie dat Woter löpt, fangt de Klosettbrill an un
dreiht sick eenmool üm sick sülbst. Und kiek mool hier, hier is soon Böß binnen
und de kricht jümmer ´n lütt beeten Woter, weet nich woher. Nu kiek di dat
bloot an. Se is all weller eenmool rüm. Willst du ook mool probeern. Geiht mit
dien Oors bestimmt as goot as mit min.“
„Paula, ick kenn de Technik, heb dat
all mool´n anner Mool sehn. De Bus föhrt ohne uus, wenn wi nu nich düchtich op
Gas pedt.“
Widerstrebend trennte sich Paula von
diesem Wunderwerk der Technik.
„Wat mookt se denn bloot mit all de
Klofraun und Klomänner, wenn sick dat dörsetten deit?“
„Is doch schietegool, wi möt no den
Bus hen, de loot uus annerwies hier op de Raststätte stohn.“
Es fragte niemand, warum Paula erst
so spät zum Bus kam. Alle waren froh, dass die Heimreise fortgesetzt werden
konnte.
Je näher Hamburg oder Kolbingen heran
rückte desto lebhafter wurde von den Handys Gebrauch gemacht. Aufgrund
mangelnder Geografiekenntnisse der meisten Kolbinger variierten die
angekündigten Ankunftszeiten von 14 Uhr bis 18 Uhr. Die größte Überraschung
dürften wohl Samantha Meyers Eltern und ihr Freund Steffen erleben. Die
Zaunkönigin fragte alle 10 Minuten, wo sie gerade seien und wann sie wohl
ankommen würden. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für ihre genervte
Umgebung im Bus. Als Samantha vielleicht zum zwanzigsten Mal fragte, wo sie
gerade seien, rutschte Paul von Thun raus:
„Sind gerade an Leipzig vorbei!“
Heini Holtkamp setzte noch einen oben
drauf.
„Wenn wir ohne Stau durchkommen, sind
wir vielleicht heute Abend kurz nach sechs in Aantenwörden.“
Die drei Busse mit den Kolbingern
rauschten gerade im Abstand von nur zwei bis drei Minuten an der
Autobahnabfahrt Witzhave keine 15 Kilometer vom Autobahnkreuz Hamburg Ost an
der A1 vorbei.
Samantha war zwar grottenschlecht in
Geografie, dafür aber umso besser „in Handy“. Kaum jemand konnte so gut und
blind einhändig simsen, wie sie. Das hat sie noch auf der Oberschule
Nordkolbingen gelernt, nachdem dort das strikte Handyverbot während der
Schulzeit eingeführt worden war und sie ihr Handy während des Unterrichts unter
dem Tisch bedienen musste.
Während sie den Standort und die
voraussichtliche Ankunftszeit mit der rechten Hand in ihr Handy eingab, konnte
sich ihre linke Hand um die Hand von Michel Minners kümmern, die sich immer
wieder auf ihr Knie verirrte. Es ist nicht ganz klar erwiesen, ob er das Knie
der Zaunkönigin suchte, um sie zu fühlen, oder ob er das angenehme Gefühl
provozieren wollte, das ihn durchfuhr, wenn Samantha seine Hand anfasste und
sie zurück auf seine Knie legte. Denkbar auch, dass es ihm völlig egal war.
Hauptsache Samantha fühlen!
Gerhard Langholz hat sich selbst aus
der Unterhaltung mit der Wachtelkönigin herauskatapultiert als er kurz hinter
der Raststätte Stolpe eine große Menge Kraniche entdeckte und Beate von Lindern
mit den Worten darauf hinwies:
„Sehen Sie nur dort, da sind sie, die
Kraniche des Ibykus.“
„Ich werd´ verrückt. Das sind ja
mehrere hundert Tiere. Das wird Ubbo interessieren.“
Beate von Lindern legte sich über den
Schulmeister, um mit der Kamera möglichst nahe an die Scheibe zu kommen.
Während Langholz noch überlegte, wie er das Gefühl, das die Wachtelkönigin bei
ihm auslöste, bewerten sollte, entstand eine Serie von acht Fotos. Sieben von
ihnen zeigten verschwommene Bäume, die den Autobahnrand säumten. Das achte Foto
wies nur leichte Unschärfen auf. In den weiten eines abgeernteten Maisfeldes
konnte man einige graue Punkte erkennen: Kraniche! Langholz musste sie sich
ganz lange auf dem kleinen Display der Canon anschauen und mehrfach bestätigen,
dass es sich bei den grauen Punkten wirklich um Kraniche handelte. Die
Wachtelkönigin nahm das aufregende Naturerlebnis aus dem fahrenden Bus zum
Anlass, von ihrer Exkursion ins Eriksheiler Moor zu berichten. Ihr war es im
vergangenen Sommer gelungen, das erste Kranichbrutpaar in Nordkolbingen
nachzuweisen. Fast hätte sie die Entdeckung mit dem Leben bezahlt. Vor lauter
Aufregung hatte sie eines der mit dünner Torfmoosschicht überwachsenen
Wasserlöcher, die noch vom Torfabbau in der schlechten Zeit stammten, übersehen,
und war in der braunen Brühe versunken. Eine junge Birke am Grubenrand, die sie
reflexartig mit einer Hand umfasste, hatte ihr wahrscheinlich das Leben
gerettet. Vielleicht war es aber doch eher der Ökobauer und Naturfreund Gero
Remmers, der einen Hof in direkter Nachbarschaft des Moores bewirtschaftete und
von seiner Wiese aus zufällig beobachtet hatte, dass sich ein Kranich hinter
den Birken im Moor niederließ. Die Freude, dass Kraniche sich möglicherweise in
dem durch seine Initiative wiedervernässten Moor ansiedeln, hatte ihn neugierig
gemacht. Einige hundert Meter vor der Stelle, an der er den Kranich vermutete,
hörte er nicht die ihm bekannten Trompetenrufe der Kraniche sondern das
verzweifelte Geschimpfe von Beate von Lindern.
„An dem Tag lief natürlich gar nichts
mehr in Sachen Kraniche. Musste mich erstmal bei Remmers auf dem Hof sauber
machen und bekam von ihm einen alten Arbeits Blaumann. Damit bin ich dann bis
zu meinem Auto und dann nach Hause unter die Dusche…“
In Hamburg Billstedt hatte es dann
für Gerhard Langholz ein natürliches Ende mit den Kranichen: Sein Kopf war
gegen die Scheibe gerutscht und er war eingeschlafen. Das bemerkte die
Hobbyornithologin aber erst in Hamburg Harburg. Sie verstummte schlagartig und
grübelte fortan, an welchem Punkt ihrer Geschichte er sich wohl in den Schlaf
verabschiedet hatte. Das war aus dem Grunde von großer Bedeutung, weil sie ihm
ja nach dem Erwachen die verpassten Passagen ihrer Kranichstory noch einmal
erzählen wollte. Sie hatte in Langholz so einen geduldigen und
verständnisvollen Zuhörer gefunden, der es einfach verdient hatte, die ganze
Geschichte zu hören. Auch die Teile, die ihm durch den Schlaf entgangen waren.
Es war schon auf dem Obstmarschenweg,
irgendwo zwischen Bützfleth und Drochtersen, als die Mehrzahl der Moorer
Busgesellschaft die Gegend wiedererkannt hatte und abwechselnd die Kolbinger
Hymne und den Anneliese Hit sangen. Anneliese machte zu ihrer großen Freude
noch eine ganz andere Entdeckung: Der Gummistiefel an ihrem Fuß begann zu
wackeln. Das konnte doch nur bedeuten, dass die Schwellung ihres Fußes
zurückgegangen war. Und richtig! Der königliche Fuß ließ sich fast schmerzfrei
und ohne Probleme aus Jan Rieckens Gummistiefel ziehen. Auf einer Socke mit dem
Stiefel in der Hand arbeitete sich die Moorkönigin über den Mittelgang durch
die fröhlichen Sänger zu ihrer Mutter und ihrer Tante Paula (die ja in
Wirklichkeit nicht ihre Tante war).
„Seht ´mal, ich kann wieder ganz gut
auftreten und die Schwellung ist auch fast ganz weg.“
„Das ist ja schön, meine Kleine, hast
du denn den anderen Schuh mit?“
„Ja, aber der ist unten im Koffer.
Entweder ich lauf auf Strümpfen oder pack den Koffer nachher aus. Das Beste ist
aber wohl, wenn ich die paar hundert Meter bis nach Hause noch einmal mit Papas
Stiefel laufe.“
„Jo“, schaltet Paula sich ein, „und
denn kannst denn ollen Steebel endlich wechsmieten!“
Nun zeigte sich aber, dass Anneliese
außer dem Stiefel noch mehr von Vater Jan abbekommen hatte.
„Nee, nee, der Stiefel kommt wieder in
den Schuppen. Wer weiß, vielleicht wird er ja doch noch einmal gebraucht.“
„Ach so.“
Hätte Jan Riecken seine Tochter eben
gehört, er hätte seine helle Freude an dem Kind gehabt.
Da sich die Busbesetzung auf der
Rückreise doch zum Teil sehr von der der Hinfahrt unterschied, hatte das Bilger
Organisationsteam mit den Busfahrern abgesprochen, dass erst von allen drei
Bussen der Penny Parkplatz in Kolbingerhafen angesteurt werden sollte. Von dort
sollten die Busse dann in der Besetzung der Hinfahrt die einzelnen Gemeinden
Nordkolbingens abfahren, um die Berlinfahrer wohnortnah auszuladen. Viele
ReiseteilnehmerInnen hatten ihre Ankunft per Handy angekündigt und ließen sich
bereits aus Kolbingerhafen abholen. Das war auch gut so, hielt sich so doch das
Durcheinander von Menschen und Gepäck beim Umpacken in Grenzen.
Es spielten sich zum Teil sehr
anrührende und ergreifende Trennungs Szenen ab. Heino Buhrfeind und Dieter
Schmarje verabschiedeten aufwendig, bedankten sich bei den Bilger Jugendlichen
für die schöne Harzreise und zogen mit ihren Rollenkoffern und dem vom Leergut
klirrenden Einkaufstrolly los. Zum großen Erstaunen ihrer Freunde nicht zu
irgendeinem Auto oder nach Kolbingerhafen, sondern einmal quer über den Penny
Parkplatz zum Altglascontainer. Nur, wer zufällig hinter dem Container
gestanden hätte, hätte Dieter Schmarjes Dialog mit den vielen kleinen, von ihm
und Heino persönlich geleerten Fläschchen hören können. Jede Hand voll kleiner
Fläschchen bekam ein nettes Wort mit auf den Weg in die Wiederverwertung.
„Adieu meine kleinen Feiglinge, kommt
bald wieder.“ Oder: „Hinein mit euch, Küstennebel und Feiglinge, werdet eins da
drinnen, wie euer Inhalt einst in unseren Bäuchen.“
Ein zu Boden gefallenes Fläschchen
hob er auf und sprach vor dem Einwurf in den Glasbehälter liebevoll zu ihm:
„Auch du, mein Kleiner, musst nun auf
die große Reise gehen. Mögest du bald den Weg zu Heino und Dieter nach
Aantenwördenermoor zurückfinden. Gute Reise!“
Klirr!
Dabei ging es den beiden nach ihrer
Schlafpause im Bus doch eigentlich schon wieder ganz gut. Als sie sich auf den
Rückweg begaben, standen die Busse immer noch dort, wo die beiden sie verlassen
hatten. Die letzten Rauchwölkchen verteilten sich in der frischen Kolbinger
Luft.
„Fährt vielleicht ein Bus nach
Aantenwördenermoor?“
Heino Buhrfeindt fragte einen der vor
dem Bus verbliebenen Raucher gerade so, als seien sie in einer wildfremden
Stadt und würden sich mit dem lokalen ÖPNV nicht auskennen. Schorsch Beckmann
schob die beiden in genau den Bus, den sie erst wenige Minuten zuvor verlassen
hatten.
Gerhard Langholz, inzwischen schon
wieder seit einiger Zeit wach, machte sich tiefe Gedanken über seine beiden
ehemaligen Schüler.
Sind sie Trunkenbolde, Dummköpfe oder
begnadete Schauspieler?
Eine Antwort gab es nicht. Eben so
wenig, wie für die Wachtelkönigin, die Langholz nach seinem Erwachen in Hamburg
Harburg fragte, ob er nun wohl den Rest ihrer Kranichgeschichte aus dem
Eriksheiler Moor hören wolle und er einfach nichts sagte. Er starrte nur stumm
in die Landschaft als würde er mit offenen Augen weiter schlafen.
Keine gute Basis auf der sich ein
glückliches, außereheliches Verhältnis aufbauen lässt!
Sabine Klöfkorn und Hannibal trennten sich
schweren Herzens in Kolbingerhafen von Harry nicht ohne sich vorher noch für
den gleichen Abend zum Telefonieren zu verabreden. Ludolf Tausendfreund, der
das Gespräch ebenso wie den Austausch der Abschiedszärtlichkeiten mitbekam,
machte einen Fehler, den er später noch tausend Mal bereuen sollte.
„Heute Abend wird nicht telefoniert,
heute Abend muss Natalie arbeiten!“
„Natalie arbeitet heute nicht!“
„Warum nicht?“
„Weil Natalie jetzt Sabine ist!“
„Dann arbeitet Sabine heute Abend!“
„Sabine arbeitet auch nicht!“
„Warum nicht?“
„Weil Sabine und Natalie jetzt gerade
kündigen, mein Freund mit der Tausend davor. Harry, mein Schatz, gibst Hannibal
und mir Asyl?“
Noch während er seiner Freundin
ungeachtet ihrer Herkunft, Hautfarbe, Vermögensverhältnisse,
Staatszugehörigkeit (sie war schließlich eine Scheinfranzösin mit Wurzeln im
benachbarten Schleswig-Holstein!) unbefristetes Asyl im elterlichen Haus in
Aantenwördenermoor gewährte, spürte er, dass sich seine Beziehung zu Ludolf
Tausendfreund von vorheriger Bedeutungslosigkeit gerade in offene Feindschaft
zu verwandeln begann. Diese Asylpraxis unterschied sich wohltuend von der
Niedersachsens und der Bundesrepublik Deutschland, war aber auch nicht ganz
ohne Probleme. Schließlich hatte Harry nichts mit Mutter Röndigs und Bruder
Dennis abgesprochen.
Auch Paula Heinsohn nahm Abschied von
„ihrer schönsten Reise“, die sie je gemacht hatte. Es war ihre bislang einzige
Reise mit Übernachtung und, würden Fine und Anneliese noch einmal mitkommen,
sie würde ja zu gerne noch einmal in den Harz, ins Gebirge fahren. Nun, nur
wenige Minuten vor Dröbermmoor, hieß es Abschied nehmen. Abschied vom letzten
der 16 vermeintlich hartgekochten Eier.
Es war ihr bei der Suche nach ihrem Schlüsselbund im Bohnenbüdel in die Hand
gekommen. Das Ei wies deutliche Spuren von Henry Krohns Stirn auf und das
schloss eine Panne wie mit dem ungekochten Ei am Sicherheitscheck zur Messe mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit aus. Kurz vor Aantenwördenermoor war das Ei
gepellt und während die Moorer ihr Gepäck und ihre Instrumente aus dem
Gepäckraum räumten, arbeiteten sich Paulas Kunstzähne begleitet von wohligen
Grunzlauten durchs Eigelb, das eigentlich schon seit Ankunft in Berlin Wedding
diese Bezeichnung wegen seiner Schwarz- und Blaufärbung nicht mehr rechtmäßig
hätte führen dürfen.
„Willst du ook mool afbieten, Fine?
Süht nich mehr so gau uut; oober schmecken doot dat jümmer noch ganz goot.“
Fine wollte nicht. Sie war von einer
unerklärlichen Unruhe ergriffen. Wie ist Jan wohl die Tage zurechtgekommen?
Groß war die Freude, als Fine ihren Jan mit
der Gummikarre an Dürkes Tankstelle stehen sah. Die Unruhe verschwand aus
heiterem Himmel, wie sie gekommen war. Gerda Schloboom hatte die Ankunftzeit
per Handy von ihrem Sohn Peer mitgeteilt bekommen und sie an Jan weitergegeben,
als der gerade mit einem Kanister Benzin für die Kettensäge mit dem Rad von
Dürkes Tanke kommend zurückfuhr.
Anneliese fand gerade noch Zeit, sich mit einem flüchtigen Kuss von Enno zu
verabschieden.
„Wenn die Mofa anspringt komm ich
eben noch rüber.“
„Und wenn sie nicht anspringt?“
„Komm ich auch!“
„Ich liebe dich und wenn Viktoria
mich nach Schweden einlädt, nehme ich dich mit“, flüsterte die Moorkönigin
ihrem Prinzen ins Ohr.
Und dann war die Reise „in den Harz“ für
die Mitreisenden aus Dröbermmoor zuende.
In Nordkolbingen gab es diesen und
die folgenden Tage viel zu erzählen. Viele Geschichten von der Berlinreise
ähnelten sich. Andere, vom gleichen Ereignis erzählend, wichen derart
voneinander ab, dass unbefangene Zuhörer von völlig unterschiedlichen Begebenheiten
ausgehen mussten. Einige Geschichten, die es durchaus wert gewesen wären,
erzählt zu werden, blieben unerzählt.
„Und“, meinte Paula Heinsohn an ihr
nächtliches Kloerlebnis denkend, „das ist auch völlig in Ordnung so.“
In der Küche der Rieckens wechselten
Fine und Anneliese sich mit den Berichten ihrer Reise ab. Jan, der nach seinem
Fernseherlebnis mit den Bildern von Anneliese zwischen der Kanzlerin und Kronprinzessin immer noch
gewisse Zweifel hatte, ob er wirklich alles richtig verstanden hatte, konnte
seinen beiden Frauen kaum folgen. Noch nie zuvor wurde in diesem Raum so häufig
in Folge „Mann o Mann“ oder „Mannomann!“ ausgesprochen.
Paula hatte niemanden zum Erzählen.
Sie ging, wie sie von der Reise zurückgekommen war, durch den Stall und stellte
zu ihrer Zufriedenheit fest, dass Jan anscheinend alles am Laufen gehalten
hatte. Die beiden Ziegen kamen zum Boxenrand, als sie Paula bemerkten und
ließen sich kraulen.
„Schlecht weer dat nich, in Berlin. Nu bin ick oober ook froh weller hier
tau Huus in Dröbermmoor tau ween.“ Die Jitten ruckten zufällig mit ihren Köpfen
und Paula fasste das als zustimmendes Kopfnicken auf.
Im Friedeberger Hof saßen Paul von
Thun, Krischan Eggerkamp und Heini Holthusen. Sie kamen direkt vom Bus und
hatten Ihre Reistaschen zu ihren Füßen vor dem Tresen abgestellt. Ihre
Topgeschichte für die Stammkunden der Wirtschaft war die Schilderung ihrer
Begegnung mit der Kanzlerin und Kronprinzessin Viktoria. Je länger sie am
Tresen weilten, desto variantenreicher wurde die Begegnung. In den Folgetagen
kursierten die wunderlichsten Geschichten durch Kolbingen. Dass Paul von Thun
mit Angela Merkel Brüderschaft getrunken hat, und Krischan Eggerkamp die
Kronprinzessin gefragt haben soll, ob sie noch zu haben sei, waren nur einige der
Geschichten. Nach zwei Tagen haben die Ohrenzeugenberichte aus dem Friedeberger
Hof noch einmal eine Eigendynamik entwickelt und gipfelten in einem Anruf des
Friedeberger Schützenpräsidenten bei Paul von Thun mit der Anfrage, ob er
wisse, welches Kolbinger Schützenfest die Kanzlerin denn im Sommer besuchen
wolle. Dazu konnte Paul auch nichts sagen.
„Tut mir leid, Willem. Hab ich gar
nix von mitbekommen. Muss ich wohl gerade mit Viktoria gesprochen haben.“
„Zu ärgerlich“, dachte Präsident
Willem von der Geest, „wäre ich doch bloß mit in den Harz gefahren.“
Berlin war bei ihm noch nicht so
richtig angekommen.
Mutter Geerdts begrüßte ihre Jungen
gegen alle sonstigen Gepflogenheiten mit den Worten:
„Na endlich, das wurde aber auch mal
Zeit. Drei Mal hat die Zeitung nun schon bei mir angerufen. Sie (völlig offen,
ob Suse Hellerich oder „die Zeitung“) will noch morgen über die Berlinreise der
Kolbinger „Maschesteeten“ berichten. Ihr müsst da sofort anrufen!“
Lukas und Jonas winkten etwas müde
ab.
„Nu lass uns erst einmal ankommen,
Tach sagen und ´n Happen Essen. Und dann können wir telefonieren.“
„Mein ja nur, weil das doch die
Zeitung war.“
Ein wenig Enttäuschung darüber, dass
die Jungen „der Zeitung“ nicht die gleiche Bedeutung beimaßen, wie sie, klang
da schon durch. Es war doch immerhin die Stader Zeitung.
In Bilge wurde noch einer der
Reisegesellschaft ähnlich empfangen, wie die Geerdts Zwillinge. Nach den ersten
Fragen nach Wohlbefinden und wie es denn gewesen sei kam Pastor Krohns Frau
Rebecca zur Sache.
„Ich weiß nicht, ist da bei euch
unterwegs irgendetwas passiert? Der Superintendent hat angerufen und klang
etwas aufgeregt. Er bat darum, dass du gleich nach deiner Rückkehr bei ihm
anrufen solltest.“
„Bei ihm privat? Es ist Sonntag, da
erreiche ich ihn gar nicht im Büro.“
„Ja, privat. Hat er ausdrücklich drum
gebeten. Henry, hast du irgendwelchen Ärger?“
„Nicht, dass ich wüsste. Unangenehme
Dinge erledige ich am liebsten gleich. Magst du vielleicht schon einmal eine
Kanne Tee aufgießen? Ich gehe kurz telefonieren.“
Der Superintendent war gleich am
Apparat.
„Schön, dass Sie mich gleich anrufen.
Ich hörte davon, dass Sie verreist waren. Der Landessuperintendent hat mit mir
telefoniert, gestern Abend. Ich wusste gar nicht, was er wollte. Wissen Sie
Kollege Krohn, bei uns ist Samstag immer fernsehfreier Abend und deshalb konnte
ich ja auch gar nichts wissen. Er beglückwünschte mich, einen Kollegen, wie Sie
zu haben und berichtete mir von einem kofessionsübergreifenden Gottesdienst,
den Sie spontan auf dem Messegelände der Grünen Woche abgehalten haben sollen.
Was ist da denn eigentlich dran? Sie waren gestern in Berlin?“
„Ja, ich reiste mit einer Delegation
Kolbinger Bürgerinnen und Bürger zur Grünen Woche. Es wurde der Wunsch an mich
herangetragen, dort eine Andacht abzuhalten. Ich wollte erst nicht. Sie wissen
ja, wie empfindlich Kollegen sein können, wenn jemand im Bereich ihrer
Kirchengemeinde tätig wird. Letztlich habe ich mich aber dem Druck einiger
meiner Bilger Gemeindmitglieder gebeugt und habe die Andacht gehalten.“
„Der LS erzählte mir, Sie seien im
vollen Ornat zu sehen gewesen. Den Talar haben Sie dabei gehabt?“
„Ja, es ist einer von den neuen, die
man ganz klein falten und im Rucksack mitnehmen kann. Und das Gute an dem Stoff
ist, dass er keine Falten hinterlässt, wenn man ihn aus der Verpackung nimmt.
Ich habe es mir angewöhnt, immer das Notwendigste dabei zu haben, wenn ich auf
Reisen bin. Hat sich ja gerade wieder gezeigt, wie sinnvoll es war, dass ich
auch bei einer ganz spontanen Amtshandlung das passende Outfit dabei hatte.“
„Outfit? Ach, Sie meinen den Talar.
Versteh, versteh. Worum ich Sie bitten wollte, der LS bat mich, Sie für die
CEBIT in Hannover zu engagieren. Er ist dort am dritten Messetag zu einem
Rundgang geladen und würde sich freuen, wenn Sie dort ebenfalls einen
Spontangottesdienst arrangieren würden. Na ja, dachte ich, wenn jemand aus
meinem Kirchenkreis vom LS nach Hannover eingeladen wird, könnte ich ja
vielleicht auch mitkommen. Ob Sie wohl den LS darum bitten könnten, dass ich
Sie begleiten darf? Außerdem kann ich mich dann gleich über das neue
Kindelangebot mit der digitalisierten Lutherbibel und digitalem Gesangbuch
informieren.“
Dass ihn eigentlich die neueste Tabletgeneration
viel mehr interessierte und er sich ein Model aussuchen wollte, das er sich von
seiner Frau zum Geburtstag wünschte, hat er nicht gesagt. Er hat auch nicht
gesagt, dass es sich immer ganz gut für die Karriere macht, wenn man vor dem
Chef mit fähigen Mitarbeitern glänzen kann.
Henry Krohn war sehr zufrieden mit
sich. Sein Instinkt hatte ihm geraten, sich an der Reise zu beteiligen ohne,
dass er die geringste Ahnung haben konnte, dass er bei der Arbeit gefilmt und
dann auch noch über das Regionalfernsehen in ganz Norddeutschland gesendet würde.
Der Landessuperintendent wollte ihn, den kleinen Dorfpfarrer von Bilge, für
eine Andacht auf der CEBIT in Hannover. Da war es ein Leichtes für ihn, seinem
Chef aus Stade eine Einladung zum Mitkommen auszusprechen.
Hier soll die Geschichte über den
Messebesuch der Nordkolbinger in Berlin nun beendet werden.
Sollte sie jemals weiter geschrieben
werden, würde sie mit einem ausführlichen Zeitungsbericht über die
Nordkolbinger Reise nach Berlin fortgesetzt werden, aufgemacht mit einem Foto
(von Enno mit dem Handy gemacht), das Anneliese, die Moorkönigin von
Dröbermmoor, zwischen Angela Merkel und Kronprinzessin Viktoria aus Schweden
zeigt. Alle drei mit Handicaps: Merkel und die Prinzessin mit Schiverletzungen
und Krücken, Anneliese mit dem Gummistiefel ihres Vaters Jan Riecken am Fuß,
weil kein anderes Schuhwerk über die Schwellung ihres rechten Fußes passen
wollte. Der Gummistiefel von Jan Riecken wird zum Symbol für das Erwachen der
Region aus dem Dornröschenschlaf und findet mit einem ausführlichen
Erläuterungstext Platz in einer beleuchteten Vitrine im Foyer des Nordkolbinger
Rathauses. Dank an dieser Stelle für das Engagement des Samtgemeindebeamten
Holger Breitinger in dieser Angelegenheit.
Es würde über Natalie, die Königin
der Nacht erzählt werden, die als Sabine Klöfkorn im „Happy Midnight“ kündigte
und sich langsam an ein Leben mit Harrys Familie unter einem Dach gewöhnen
musste. Zeitgleich mit ihrer Schwangerschaft sah Hannibal Vaterfreuden entgegen.
Schon bald nach dem Umzug nach Aantenermoor hatten Sabine und Harry ihm eine
kleine Hündin aus erlesenem Zwinger als Gefährtin gekauft.
Oma Klöfkorn macht 2 Wochen Urlaub vom
Altenheim in Aantenwördenermoor. Ihr gefällt der junge Mann, mit dem ihre Enkelin
zusammengezogen war, und ihr gefällt das Essen, das Mutter Röndigs täglich
kochte.
Man würde von einer Reise lesen
können, die mit 5 Bussen in den Harz ging. Viele der von der Berlinreise
bekannten Personen waren wieder dabei. Paula Heinsohn sollte endlich das
„Gebirge“ kennenlernen und feststellen, dass für Angst vor Luchsen absolut
keine Veranlassung bestand. Henry Krohn organisierte auf der Raststätte
Allertal eine deutsch – skandinavische Andacht, weil der Reisetag mitten in den
skandinavischen Schiferien lag und zu der Zeit auf den Raststätten mehr
nordeuropäische als deutsche Stimmen zu hören waren. Damit kam er nicht ins
Fernsehen aber in die Printmedien. Die evangelisch lutherische Kirche Dänemarks
lud ihn als Ehrengast zum alle zwei Jahre stattfindenden Kirchentag in Roskilde
ein. Außerdem konnte Henry Krohn endlich seinen Amtsbruder und Freund Dirk
Olschewski in Bad Harzburg besuchen.
Paula Heinsohn wird sich schweren
Herzens von ihren „Jitten“ trennen, die ein liebevolles Zuhause gar nicht weit
entfernt auf dem Ökohof von Gero Remmers finden sollten. Über regelmäßige
Treffen zum Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag bahnt sich ganz allmählich eine
etwas festere Beziehung zu Kuddel Oellerich, dem Kapitän i.R. aus
Kolbingerhafen an.
Alle Quartiere Kolbingens, des
benachbarten Hadelns und sogar in Stade sind bereits im März nach dem
eindrucksvollen Messeauftritt der Kolbinger in Berlin ausgebucht. Das Alte Land
profitiert von den Unterkunftsengpässen. Es wird zu lesen sein, dass Investoren
den Bau von drei Hotels in Friedeberg, Kolbingerhafen und auf Krautsand planen und die Planung dann auch umsetzen.
Man wird davon lesen können, dass alternativ ökologisch ausgerichtete Umweltverbände
das Nacktbaden in den Kolbinger „Kuhlen“ (Gewässer, die durch frühere
Deichbrüche entstanden sind) als Geheimtip verbreiten. Die schlagartige Zunahme
der Nacktbader in der folgenden Saison drohte zeitweilig zu einer Spaltung der
Kolbinger Bevölkerung in Gegner und Befürworter des Nacktbadens zu führen. Erst
die Verleihung des Innovationspreises Tourismus des Niedersächsischen Landtages
an Gaby Melzer und Helge Ehlers im 2.Sommer nach dem denkwürdigen
Berlinauftritt der Kolbinger rettet die Einheit im Kolbinger Land. Die Fahrradtour zu den 18 Nordkolbinger
„Königshäusern“ entwickelt sich zum Hit. Nordkolbingen erklärt sich zu der
deutschen Region mit der höchsten Hochadelsdichte. Die Wahl von 18 ständigen
Königinnen wird als Ziel in den Statuten des Tourismusvereines festgeschrieben.
Die jährliche Proklamation der Majestäten soll sich zu einem touristischen
Event auswachsen, das Menschen aus der ganzen Republik an die Elbe zieht.
Man wird von einem Pilotprojekt des
Landkreises Stade lesen können, das direkt auf ein Konzept von Ubbo Hartwich
und Beate Lindern zurückzuführen ist. Im Kolbinger Außendeichsgebiet steht eine
Gigantische Windmühle in deren direkter Nachbarschaft ein Lehrpfad über das
Leben des Wachtelkönigs informiert. Weit über die Grenzen des Landkreises
hinaus sorgt die Tatsache, dass der Wachtelkönig sich gerade die Fläche unter
der Mühle als Lebensraum gesucht hat, die andere Tiere meiden, für großes
Interesse bei Ornithologen und Umweltschutzverbänden. Internationale
Exkursionsgruppen reisen inzwischen in Kolbingen an, um sich vor Ort über
dieses Phänomen zu informieren. Ubbo Hartwich hält seinen Standardvortrag über
den Wachtelkönig inzwischen bis zu siebenmal im Monat.
Es wird von steigenden Gewerbe- und
Einkommensteuereinnahmen berichtet. Die Fahrrinnen vom Elbfahrwasser nach
Friedeberg und Kolbingerhafen sollen mit Mitteln aus dem Tourismus ausgebaggert
werden. Die Marschmilchbetriebe (MMB) und die Moormilchbetriebe (MMB) werden
unter Federführung von Carl Christian Wüst und dessen Schwager Nobbi Suhrbier
eine sehr elitäre Produktionsgenossenschaft in Zusammenarbeit mit der kleinen
Hasenhuter Molkerei bilden. Delikatessläden und Gourmetabteilungen großer
Kaufhäuser können kaum die Nachfrage nach Kolbinger Milchprodukten befriedigen.
Nichts wird der interessierte Leser
(und die interessierte Leserin, Anmerkung von Veronika Eggermann) über einen
Besuch der Kanzlerin in Kolbingen erfahren, weil sie diesen entlegenen Teil der
Republik - dessen zukünftige wirtschaftliche Bedeutung maßlos unterschätzend -
nie besucht hat. Mehr wird man jedoch über die unkonventionelle Kronprinzessin
Viktoria erfahren, die eines Tages auf dem Rückweg von einem Tulpenfest in den
Niederlanden einen spontanen Stop in Dröbermmoor einlegte und mit ihrem
Übernachtungswunsch bei den Rieckens für größte Aufregung sorgt. Sie wird am folgenden
Tag mit dem Vorvertrag über den Kauf zweier Hannoveraner aus Kolbinger Zucht
ihre Reise nach Schweden fortsetzen.
Zuvor hat sie sich noch durch das soziokulturelle Zentrum im
Friedeberger Spieker führen lassen und eine Vereinbarung mit der Geschäftsführung
über die jährliche Entsendung hochkarätiger, schwedischer Kulturschaffender in
den Spieker getroffen.
Es wird von Lukas zu lesen sein, der
beim Autohaus Kurt Möller in Kolbingerhafen Autos verkaufen wird, von seinem Freund
Kalle, der tatsächlich seine Ausbildung zum Landmaschinenmechaniker im Alten
Land macht und ganz nah bei der Blütenkönigin Silke Quast ein Zimmer nimmt.
Viola, Kohl Hiesels Tochter und
amtierende Kohlkönigin, macht ein ganz passables Abitur tritt in Hamburg ein
Studium an, das sich „Eventmanagement und Tourismus“ nennt.
Ja, das alles und noch Vieles mehr
würde man lesen können, wenn diese Geschichte wirklich einmal fortgesetzt
würde.
Und was sagt Paula Heinsohn aus
Dröbermmoor dazu?
„Ach so!“
[1] „Stuten“
kommt aus dem Plattdeutschen und meint „Rosinenbrot“. Bei Hinnerk Holtkamp gibt
es zwei Sorten. Wenn man „den guten“
verlangt, hat er außer Rosinen auch noch einige andere leckere Zutaten
zusätzlich.
[2] Aus dem
Niederdeutschen: Toilette
[3] Im Norden
gebräuchlich für Toilette
[4]
Zumindest ein Zusammentreffen auf der Herrentoilette in der FU im Jahre 1968
zwischen Rudi Dutschke und Gerhard Langholz ist durch eine Textpassage in
Dutschkes Brandtschrift „Willy Brandt, vom aufrichtigen Sozialisten zum Sofarevolutionär“.
Dort heißt es auf Seite 27ff „Neben mir stand der Pädagogikstudent Gerhart
Langholz, den ich zwei Mal auffordern musste, nicht immer beim Pinkeln zu mir
herüber zu schauen. Ich sagte ihm: Genosse, wenn du beim Pinkeln nicht nach
vorne schaust, kommst du vom Kurs ab. Schaffst du es hier nicht, den Kurs zu
halten, wird es dir auch nicht mit deinen politischen Überzeugungen gelingen.
Denke darüber nach. Wir reden drüber, wenn wir uns wieder einmal treffen.“ Er schaute zu mir rüber, pinkelte neben das
Urinal und sagte : „Danke Genosse Rudi, für die weise Belehrung.“ Bis dahin
hatte er noch kein bisschen Lernzugewinn. Mit Typen, wie diesen, kann man keine
Revolution machen, sie taugen höchstens
für eine Landlehrerstelle.“
[5] In
Norddeutschland gebräuchlich für Adolf, ein Name, der zwar noch gelegentlich
vorkommt, aber nur ungern gesprochen wird.
[6]
Schlagsahne
[7] Veronika
Eggermann hätte an dieser Stelle sehr wahrscheinlich den Einwurf gehabt: „Und
Seniorinnen, was ist mit denen, dürfen die nicht zur Andacht?“
[8] Erneuter
Verweis auf Frau Klara Hitler, geb. Pölzl, die sich nicht ausreichend genug Zeit mit ihrem Schwächeanfall abgegeben
hatte. Hätte nämlich der kleine Adolf damals an jenem denkwürdigen Maitag 1889
nicht überlebt, hätten Millionen Menschen ihre Heimat behalten und die Moorer
Sprache hätte sich in weit größerem Umfang in ihrer Urform erhalten.
[9] Hat
nichts mit dem gleichnamigen Gebäck aus Hinnerk Holtkamps Backstube zu tun.
Hier geht es um eine jährlich wiederkehrende Veranstaltung der Pferdezüchter,
bei der sie sich für den Erfolg ihrer weiblichen Pferde (Stuten) auszeichnen
lassen.
[10] Jitten
sind Ziegen
[11] taub
[12] stumm
[13] Ein
einjähriges Pferd
[14]
peinlich
[15]
Staubsauger
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