Sonntag, 30. Dezember 2018

Eine schöne Geschichte



Henning sieht mir über die Schulter, um zu erkennen, womit ich mich beschäftige.

 
                                               




„Ist ja cool. Hast du das Bild gemacht?“
„Ja.“
„Wie geht das denn? Ist der Baum da durchgewachsen? Gibt es ´ne Geschichte zu dem Bild?“
„Ja. Natürlich gibt es eine Geschichte dazu und ich versuche sie gerade aufzuschreiben. Fällt mir nicht so leicht. War ja 2006 als ich das Foto machte. Ich beschäftige mich gerade mit meinem Reisetagebuch und den Fotos von damals.“
„Ja, und der Stuhl? Wie geht denn so´was?“
„Hast du ein paar Minuten? Ich müsste schon ein wenig ausholen, damit ich dir die Geschichte im Groben skizzieren kann.“

Henning liebt Geschichten, auch meine.
Meistens jedenfalls.
Manchmal hasst er sie auch, immer dann nämlich, wenn ihm Zweifel am Wahrheitsgehalt kommen. Das wiederum reizt mich, gerade ihm Geschichten zu erzählen, die von Ereignissen handeln, die so oder so ähnlich geschehen sind, jedoch so phantastisch klingen, dass sie ebenso in das Reich der Märchen passen würden.

„Du lässt mich aber bitte erzählen, auch wenn es dir schwerfällt? Nicht unterbrechen, bitte, ich muss mich nämlich ganz schön konzentrieren. Ist ja schon einige Zeit her.“
„Ja klar, kennst mich doch!“
„Ja, ja, deshalb ja meine Bitte. Also 2006 waren wir mit dem Fahrrad für einige Tage im Lahema Nationalpark ca. 80 km nordöstlich von Tallin. Wir hatte Quartier im Parkhotel auf dem wunderschön restaurierten Gutshof Palmse mitten im Nationalpark. Bis das Gut mit der Unabhängigkeit Estlands 1918 enteignet wurde, gehörte es der baltischen Adelsfamilie von der Pahlen. Glaube ich jedenfalls. Auf unserem ersten Rundgang durch die gepflegte Hofanlage mit Herrenhaus, landwirtschaftlichen Wirtschaftsgebäuden, Orangerie und Park begegneten wir einem netten Herrn. Kann sein, dass er 75 war oder auch schon 10 Jahre älter. Wir kamen ins Gespräch, auf Deutsch. Herman Kaljurand, vielleicht auch Kaljuwand, so stellte er sich uns vor. Sein Deutsch erinnerte mich an Elisabeth Lissautzky, einer Baltendeutschen, die in den 60er Jahren eine Zeit in meinem Elternhaus zur Miete wohnte.
Auf die Frage, woher er so gut Deutsch könne, gab er zur Antwort, dass er zu einem Viertel oder vielleicht auch zur Hälfte deutscher Abstammung sei. Mutter und Großmutter hätten viel auf Deutsch mit ihm gesprochen. Nach 1944 dann nur noch, wenn sie alleine - unter sich sozusagen – waren. Und dann wurden sie Sowjetbürger mit estnischer Nationalität. Deutsch habe er erst wieder in der Öffentlichkeit angefangen zu sprechen, als Estland 1991 zum zweiten Mal unabhängig wurde und die ersten deutschen Touristen sich nach Palmse verirrten.
Heute würde er sich gerne ein bisschen zur bescheidenen Rente hinzuverdienen als Fremdenführer in Palmse.  Es gäbe ja schließlich niemanden sonst noch, der hier geboren wurde und so gut über das Gut und seine Geschichte Bescheid wisse.
Herman Kaljurand machte einen so netten Eindruck und wir taten, was er sich von der ersten Minute unserer Begegnung erhofft hatte: Wir engagierten ihn!  Und bereuten die 10 Euro, die ich ihm zu geben beschlossen hatte, nicht einen Moment. Selten habe ich eine derart unterhaltsame und informative Führung erlebt.“
„Und der Stuhl? Was…“
„Du wolltest mich doch nicht unterbrechen. Zum Stuhl kommen wir noch.
Ja eigentlich kann ich gleich vom Stuhl erzählen.
Am Ende der Führung durch den Gutskomplex schaute Herman, so sollten wir ihn inzwischen nennen, auf die Uhr und meinte, dass noch Zeit für einen kleinen Abendspaziergang durch den Park sei. Das kam uns gelegen, und während Herman noch von der Fischwirtschaft früherer Jahrhunderte in den zahlreichen Teichen rund ums Herrenhaus sprach, entdeckte ich diesen Stuhl etwas abseits des Weges. Während ich noch dachte, dass ein Stuhl hier im Park vom Gebüsch leicht verdeckt etwas ungewöhnlich sei, erfasste ich, dass dort, wo einst einmal eine Sitzfläche eingezogen war, ein Baum gewachsen war. Herman bemerkte, dass ich abgelenkt war, sah den Stuhl und führte uns dorthin. Tatsächlich war ein Baum mit beträchtlichem Umfang durch den Stuhl hindurchgewachsen. Während ich noch grübelte, was hier geschehen sein könnte, begann Herman Kaljuward die Geschichte von dem Stuhl zu erzählen. Ich versuche sie wiederzugeben.“

„Ich, ich ganz persönlich habe diesen Stuhl im Sommer 1944 hier abgestellt. Die Rote Armee hat Palmse kampflos besetzt, nachdem die Deutschen sich fluchtartig in Richtung Reval oder Tallin  zurückgezogen hatten. Bevor es zu sinnloser Zerstörung und Plünderung durch die Rotarmisten kommen konnte machte Oberst Jewgenni Kimowitsch Gasparow das Herrenhaus zu seinem vorübergehenden Hauptquartier. Was für ein Segen für mich und die Menschen, die hier lebten. Dieser Oberst war ein guter Mann. Er ließ den Leuten das wenige Vieh, das sie besaßen und sorgte dafür, dass die Kinder nicht hungern mussten. Der Krieg schien ihn und seine Einheit hier in Mitten des Waldes vergessen zu haben. Ich war 13 Jahre und freute mich, dass ich keine Schule hatte und der Oberst mich zu seinem persönlichen Adjutanten erklärte. Er sprach Deutsch und las oft in den Büchern, die die deutschen Offiziere bei ihrem plötzlichen Rückzug hinterlassen hatten. An einem schönen Spätsommertag bat er mich, einen der schweren Eichenstühle mit der geflochtenen Sitzfläche in den Park zu schaffen. Dort hat er dann sehr oft gesessen, gelesen, geraucht oder einfach nur in die Gegend geschaut.
Irgendwann hat man sich dann wohl in der Armeeführung daran erinnert, dass da irgendwo im Lahema noch der Oberst mit seiner Einheit liege. Die Spitze der Roten Armee stand an der Deutschen Reichsgrenze und Deutschland sollte nicht ohne den bewährten Jewgenni Kimowitsch Gasparow bezwungen werden.
Es war ein traurig herzlicher Abschied. Alle hier hatte den Oberst ins Herz geschlossen. Als er sah, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen, meinte er, ich solle auf alles gut aufpassen. Der Stuhl könne im Park stehenbleiben und wenn Berlin gefallen sei, würde er zurückkommen und weiterlesen.

Ich habe aufgepasst.
Auch auf den Stuhl. Monat für Monat.
Berlin fiel und ich erwartete im Sommer 1945 täglich die Ankunft des Obersten.
Er kam nicht.
Das Sitzgeflecht rottete durch und fiel auf den Waldboden. Niemand interessierte sich für den Stuhl. Der Park verwilderte mehr und mehr. Irgendwann bemerkte ich den jungen Kiefertrieb, dessen Spitze schon über die Rückenlehne ragte. Die Kiefer wuchs durch den Sitzrahmen des Stuhles.
An die Rückkehr des Obersten glaubte selbst ich dann irgendwann nicht mehr.
Er ist wohl tatsächlich nie wieder hier gewesen.
2002 beaufsichtigte ich die Arbeiter, die den Auftrag hatten, die überwucherten Wege im Park freizumachen. Als einer der Arbeiter den Stuhl entdeckte, kamen wir alle hier zusammen. Als Raivo  sich anschickte den Stuhl kaputt zu treten, hielt ich ihn zurück und erzählte, dass das der Stuhl des `guten Obersten von Palmse´ sei. Von dem Obersten, dem ich im Herbst 44 versprochen hatte, auf alles acht zu geben, bis er wieder zurück sei. Niemand traute sich nach meinen Worten dieses zarte Stuhlgerippe zu zerstören. Irgendwie genießt der Stuhl hier Denkmalstatus. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihn immer schön freizuschneiden und, wenn es gewünscht wird,
von ihm zu erzählen. Die Geschichte, wie der Baum in den Stuhl oder der Stuhl um den Baum gekommen ist.
Wie jetzt eben.
Wenn euch die Geschichte gefallen hat, erzählt sie gerne weiter.
Es gibt ja nicht viele gute Geschichten vom Krieg.“

„Ja, schön, dass wir mit Herman zusammengetroffen sind. Wobei es wohl nicht so ganz zufällig war. Herman war nicht unerfahren. Er konnte erkennen, wer aus Deutschland kommt und hatte wohl auch schnell gelernt, was wir Deutschen gerne hören.“
Henning sieht mich nachdenklich an.
„Hm, die Geschichte hättet ihr sonst nie erfahren.“
„Stimmt. Und du dann auch nicht.“
„Hast recht. Eine schöne Geschichte. Wenn du sie mir erzählt hättest und nicht Hermann,  ..“
„Was dann?“
„Ich hätte sie vielleicht nicht geglaubt.“
„Kannst mal sehen.
Henning…?“
„Ja.“
 „Seit wann gibt es wohl IKEA in Estland?“
„Weiß nicht. Wieso?“
„Siehst du die Schraube da oben an der Rückenlehne des Stuhles?“

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