Und dann Rom! Tummelplatz für Bettler und Taschendiebe. So etwas weiß
man doch, wenn man sich dort von einer Sehenswürdigkeit zur anderen bewegt!
Wir passen gegenseitig auf uns auf. An einer Unterführung wollen Frauen
uns die Zukunft voraussagen. Zu zweit oder zu dritt umdrängen sie uns, eine
Schar Kinder springt um uns herum.
„Nein, wir wollen nichts! No, no, no!!!“
„Pass auf deine Tasche auf“, sage ich. Meine Kameratasche habe ich fest
unter den Arm geklemmt, die frei Hand tastet nach dem Portemonnaie in der
vorderen Hosentasche.
Ulla wird von einer Frau am Arm gepackt und schreit sie wütend in
bestem Deutsch an, dass es jetzt aber reiche. Erschrocken wenden sich die
Frauen von uns ab.
Andernorts beobachten wir, dass sie erfolgreicher waren. Immer wieder
ziehen arglose Gäste der Stadt mit einem Lächeln im Gesicht wegen der guten
Weissagungen weiter. Später erst bemerken sie, dass ihnen etwas fehlt.
Ja, das weiß man aber doch!
Es ist mein dritter Besuch der Heiligen Stadt, und, toi, toi, toi!
Nicht einmal bin ich bestohlen worden. Das macht selbstsicher, das nimmt die
Angst und macht vielleicht auch ein wenig überheblich oder gar unvorsichtig?!
Letzter Tag in Rom. Der Flug geht erst am Abend von Fiumucciono, dem
internationalen Flughafen vor den Toren Roms. Die Koffer sind in einem
Schließfach deponiert und wir begeben uns mit unseren letzten Lira auf den Weg
zu den Caracalla Thermen. Ein schöner Frühlingstag und wir genießen in den
Vormittagsstunden die imposanten Ruinen des römischen Badepalastes bei
Sonnenschein, frischem Grün und Vogelgezwitscher.
Was für ein schöner Reiseabschluss, wenn da nicht noch etwas
zwischengekommen wäre.
Noch erfüllt von der Stimmung in den viele hundert Jahre alten Trümmern
begeben wir uns auf einer breiten Straße mit einem mittigen, doppelten
Parkstreifen unter mächtigen Pinien auf die Suche nach einer Bushaltestelle.
Ein Auto rollt neben uns auf den Parkstreifen und kommt neben uns zum Stehen.
Die Scheibe wird heruntergelassen und ein Mann mittleren Alters spricht uns an:
„Scusi, signorina, signore ….“
Ich mache ihm auf Englisch und auf Deutsch klar, dass ich kein
Italienisch kann.
„Oh pardon, iste keine Probleme. Spreke auch Deutsch. Meine Mama lebt
in Frankefurte. Kommt aus Alemania? Welke Staad?“
„Nähe von Hamburg.“
„Hamburgo, ich liebe Hamburgo, schööne Staad, bella, bella Hamburgo!“
Er greift zum Beifahrersitz und hält uns einen Stadtplan von Rom unter
die Augen.
„Habe Problemo, muss zu Vaticano, weiß nicht wo.“
Das ist ja nun wirklich nicht zu schwer nach einer Woche Rom. Schnell
zeige ich ihm den Weg ohne Plan.
„Hier die Straße runter bis an den Tiber, dann rechts am Ufer entlang
und die Brücke vor der Engelsburg nehmen. Dann kommen Sie direkt auf den
Petersdom zu.“
„Ah, gracie, iste doch gar nicht so sweer. Komme gerade von Modemesse,
Paris, Milano. Bin Agent von Pierre Cardin. Hier musste du schaueen, Jacken von
Pierre Cardin. Musste du mitneehme nach Germania, machen Reklame in Hamburgo
für Pierre Cardin!“
Er will mir die Plastiktasche mit den zwei Jacken geben.
„Das gibt es doch nicht“, sage ich zu mir und Ulla.
„Doch, doch! Reklame!“
Italiener! So sind sie, denke ich.
Da zeigt er uns blitzschnell seine Kreditkarte.
„Grande Problem, keine Benzine in Auto. Auto verrückt! Tankstelle
nimmte keine carta di credito, könnt ihr mir geben Lira für Jacken von Pierre
Cardin, serr günstig, ottimo, original Cardin für Sonderpreis, 120000 Lira!“
Und nun mein Fehler! Nicht im Entferntesten hatte ich vor irgendein
Jackengeschäft zu tätigen, was Ulla mir wahrscheinlich bis heute nicht glaubt. Ich ziehe mein
Portemonnaie, um dem quasselnden
Handelsvertreter zu zeigen, dass da nichts drin ist. Das heißt, fast nichts.
Gerade noch 90000 Lire und die brauchen wir noch für den Tag und den Transfer
zum Aeroporto. Ich nehme die Banknoten, 3 X 10000 und 1 X 50000 in die Hand.
Nein ich will keine Jacke kaufen.
„50000 brauchen wir, um zum Flughafen zu kommen, höchstens 30000 Lire
hätten wir noch.“
Ich will wirklich nichts kaufen! Pierre Cardin!? Die Jacken sehen nach
Strickjacken aus.
Da passiert etwas, was Ulla und ich nachher nicht mehr richtig
nachvollziehen können, weil es viel zu schnell ablief. Der Italiener zieht aus
meiner Hand 30000 Lire, greift eine Jacke aus der Tüte, drückt sie mir durchs
geöffnete Fenster in die Hand, zieht mir die 50000 Lire auch noch aus der Hand
und gibt mir 20000 von meinem Geld zurück. Bevor ich reagieren konnte, höre
ich:
„Iste nur für eine Jacke, grazie!“
Mit Vollgas und leicht durchdrehenden Reifen verschwindet das Auto,
übrigens mit römischem Kennzeichen, im dichten Mittagsverkehr der italienischen
Hauptstadt.
„Spinnst du, warum hast du die Jacke gekauft!?“
Wir hatten eine so gute Zeit in Rom.
„Ich wollte doch gar nicht kaufen. Das musst du doch auch gesehen
haben?“
„Aber wie konntest du ihm das Geld unter die Nase halten?“
„Konnte ich denn wissen, dass er es mir aus der Hand reißen würde?“
„Hättest es ja zurücknehmen können!“
„Ja, hast du denn nicht gesehen, wie schnell das alles ging? Ich bin
reingelegt worden, ich glaube es nicht!“
Während ich noch meiner Verärgerung freien Lauf lasse, handelt Ulla
praktisch und beginnt unsere Neuerwerbung von Pierre Cardin auszupacken.
„Die ziehst du nicht an! Oder du musst alleine gehen! Guck dir mal das
Ding an, kann man ja nicht drauf gucken! Und, hast du mal dran gerochen?“
Ich sehe mir das gute, soeben für ungefähr 60 DM erworbene Stück an.
Eine Schönheit ist es nicht. Bunte Strickärmel, braune Kunstlederelemente an den
Ellenbogen und Schultern, zwei der stoffbezogenen Knöpfe sind von Rost
verfärbt. Sicherlich ein Feuchtigkeitsschaden, Versicherungsfall und deswegen
sehr günstig aufgekauft. Oben am Kragen finde ich ein kleines Schildchen mit
dem Schriftzug „Made in Italy“. Mit Pierre Cardin war´s wohl auch nichts. Hätte
mich auch gewundert, wenn der versucht hätte, diese Hässlichkeit zu verkaufen.
Die Jacke „muffelt“, feuchter Keller?!
„Wir schmeißen sie weg, ich will sie nicht mitnehmen.“
So geht es ja auch nicht! Die Jacke hatte schließlich gut 60 DM
gekostet. Ich nehme die Tragetüte und wir bewegen uns diskutierend zur
Bushaltestelle. Wir müssen eine Bank aufsuchen, um unsere Lira Vorräte wieder
aufzufrischen. An der Bushaltestelle nimmt Ulla mir die Jacke aus der Hand und
stopft sie in den Papierkorb.
Nein, so geht das nicht. Als der Bus heranrollt, ziehe ich die Jacke wieder aus dem Papierkorb. Im
Bus droht der Anfang einer stundenlangen,
stummen Eiszeit. Da bin ich dann schon
ganz froh, dass Ulla wieder mit mir zu reden beginnt.
„Du willst die Jacke doch nicht anziehen?“
Nein, das wollte ich natürlich nicht. Aber ich habe ihr dann erklärt,
dass wir in den letzten Tagen so viel Armut in der Stadt gesehen hätten und ich
würde schon jemanden finden, dem ich eine Freude mit der Jacke machen kann. Zum
Beispiel der junge Mann im Gang. Ja, der soll es sein! Ich drängle mich in
seine Richtung und überlege mir dabei, wie ich es ihm sagen will. Ich will ihn
gerade ansprechen, da hält der Bus und der Kerl springt raus. Ich arbeite mich
zurück zu Ulla, die die Augen verdreht und genervt durch mich hindurchsieht.
Wir kommen an der Piazza Venezia an und steigen aus. Das hätte ich
heute Morgen nicht gedacht, dass wir vor unserer Abfahrt noch einmal das
monströse Denkmal für König Emanuele Vittorio II sehen würden. Hier gab es eine
Bank in einer Nebenstraße.
Es gibt einfach Tage, die man hätte im Kalender überspringen sollen.
Dieser machte jetzt schon den Eindruck, dass er zu dieser Sorte Tage zählt.
Schon in der Drehtür zum Schalterraum packt mich eine Hand. Ich drehe
mich um und schaue in das Gesicht eines Carabinieri oder eines Mitgliedes eines
Sicherheitsdienstes. Sein perfektes Italienisch änderte nichts daran, dass ich
ihn einfach nicht verstehen konnte. Ich versuchte mit meinem Touristen
Sprachmix zu reden, Ulla sieht mir mit einer Mischung aus Erstaunen und
Entsetzen in die Augen. Die Öffnung der Drehtür zum Schalterraum zieht an uns
vorüber und wir finden uns samt Sicherheitsmann im Vorraum der Bank wieder.
Durch immer lautere Wiederholung seiner
unverständlichen Worte glaubte er,
unserem Sprachunvermögen ein Ende setzen zu können. Das hat natürlich nicht
geklappt. Er drängt uns zu einer Wand mit Schließfächern, greift mach meiner
Kameratasche und berührt damit einen empfindlichen Nerv bei mir.
Während ich noch die Kamera wegziehe, verstehe ich, was hier abgeht. Wir schließen Kamera,
Handtasche, Rucksack und die Plastiktüte mit der Jacke von „Pierre Cardin“ in
ein Schließfach ein.
Der Sicherheitsmann lächelt und klopft mir freundlich auf die Schulter,
als will er sagen: „Na bitte, es geht doch!“
Wir haben noch Zeit, bis wir uns auf den Weg zum Flughafen machen
müssen.
„Lass uns noch etwas zum Tiber runter gehen“, schlage ich vor der Bank
vor.
Es gibt keinen Widerspruch.
Noch in der kleinen Nebenstraße sehe ich auf der gegenüberliegenden
Straßenseite eine ältere, ärmlich gekleidete Frau. Die soll die Jacke bekommen,
damit das Kapitel ein Ende hat. Ich wechsle die Straßenseite und beschleunige
meinen Schritt, um die Frau mit ihren vielen Plastiktüten einzuholen. Kurz
bevor ich sie erreiche verschwindet sie in einem Hauseingang.
Weg ist sie!
An der Einmündung der kleinen Gasse in den Corso Emanuele Vittorio II
hole ich Ulla ein. Sie empfängt mich mit einem Blick, der keinerlei
Missinterpretationen bezüglich ihrer Gedanken hinsichtlich meiner Mission
zulässt.
Wir kommen unten an der Uferpromenade des Tibers an. Mehrere
Verkehrsströme laufen hier zusammen. Wir sehen uns das Treiben an. Einige Jungen stürmen bei roter Ampelschaltung
zwischen die stehenden Autos und beginnen scheinbar ohne ein System
Windschutzscheiben zu putzen. Katzenartig ziehen sie sich wieder auf den
sicheren Bordstein zurück, wenn die
Ampel die Farbe wechselt. Manchmal bekommen sie ein paar Lira von den Fahrern,
meistens gibt es nichts oder sie werden sogar noch beschimpft.
Arme Teufel. Bestimmt kann jemand von ihnen meine Jacke gebrauchen.
Ulla hat genug gesehen, sie will weiter. Ich bitte sie noch zu warten, bis zur
Jackenübergabe. Die Ampel springt auf Grün. Der da, der mit der orangefarbenen
Nylonjacke, der soll meine Jacke bekommen. Ich habe mir zu viel Zeit bei der
Auswahl meines Almosenempfängers
gelassen. Ich erreiche ihn gerade, da springt die Ampel wieder um. Ulla zieht
mich mit energischem Druck über den Zebrastreifen auf die Tiber Brücke. Böse
ist sie nicht. Vielleicht ist es ihr ein wenig peinlich?
Ich bin inzwischen bereit, mich einfach so von Pierre Cardins Jacke zu
trennen, ohne weiterhin meine Samariterdienste anbieten zu wollen. Vielleicht
findet ja jemand die Jacke, der oder die es bitternötig hat. Noch trage ich sie
in der Plastiktüte mit mir.
Ein invalider Maroniröster sitzt am Anfang der Engelsbrücke. Der Duft
von frischgerösteten Maronen zieht mir in die Nase. Ich will der Versuchung
nicht länger widerstehen und begebe mich zu ihm hin. Ich weiß nicht, was mich
geritten hat; aber in dem Moment, als er mir die Tüte mit den gerösteten
Kastanien rüberreicht, habe ich einen Geschäftsplan: Ich bekomme die Maronen
umsonst und diese arme Socke bekommt von mir eine warme Jacke (Pierre Cardin) im
Wert von 60 DM.
Ich weiß bis heute nicht, womit ich den Mann derartig aufgeregt habe.
Ich habe lediglich versucht, in einem mir durchaus passabel und verständlich
klingendem Sprachmix mein Tauschgeschäft einzufädeln. Der Mann reißt mir die
Maronentüte aus der Hand, bedroht mich mit seiner Krücke und schreit hinter mir
her. Nicht nur Ulla muss geglaubt haben,
dass ich den armen Mann ausrauben wollte. Erstmals bin ich voller Verständnis
für meine Frau. Mir ist es inzwischen auch ausgesprochen unangenehm, wie ich
mich benehme.
Ich muss dringend einen „Reset“ machen, die Jacke muss weg und zwar
ohne irgendwelche Bedingungen. Davon hängt zwar nicht der Weltfriede, aber, was
fast ebenso bedeutend ist, unser Ehefrieden ab. In der Mitte der Engelsbrücke,
starke Touristenströme bewegen sich auf der autofreien Brücke in beide
Richtungen, lehne ich mich auf das Brückengeländer und mache ein paar Fotos von
der mächtigen Engelsburg. Pierre Cardins Jacke ruht auf dem Boden am Fuße des
Brückengeländers. Und da, so mein Plan, soll sie auch bleiben, wenn ich mich
gleich zu Ulla begebe, um ihr von der erfolgreichen Trennungsgeschichte zu
berichten. Kurz vor dem Ende der Brücke erreiche ich Ulla. Gerade will ich ihr
die frohe Botschaft übermitteln, da holt mich das Schicksal ein.
Ein aufmerksamer Kameramann aus dem Fernsehteam vom Sender RAI II, das
gerade auf der Engelsbrücke mit Filmaufnahmen beschäftigt war, hat
gesehen, dass ich ohne meine
Plastiktüte weiter gegangen bin.
„Scusi, ….“
Mit einem Redeschwall, dem ich nicht annähernd gewachsen bin, drückt er
mir freudestrahlend mal auf die Tüte,
mal auf die Engelsbrücke zeigend, meine „vergessene“ Jacke in die Hand.
„Grazie, signore,mille
grazie, danke, thank you, very nice,
thank you.“
Der Mann verschwindet wieder auf die Brücke. Ulla und ich sehen uns
an und brechen in schallendes Gelächter aus.
Dieser Moment war mindestens 40 DM, wenn nicht sogar 60 DM wert.
Wir queren die vierspurige Uferstraße. Am Ampelmast befindet sich ein
Papierkorb, der schon randvoll ist. Ich presse die Tüte mit der ungeliebten
Jacke in den Metallbehälter und wende mich erleichtert Ulla zu.
Hinter mir hupt ein Auto, eigentlich nicht ungewöhnlich in Rom. Ich
drehe mich um. Der Autofahrer meint mich. Er lacht und zeigt zum Papierkorb.
Die Tüte hat sich hinter meinem Rücken wieder entfaltet und die Jacke ist über
den Behälterrand auf den Boden gefallen. Der Fahrer, der mich schon bei meinen
Entsorgungsbemühungen beobachtet hat,
findet es seinem Lachen nach zu urteilen, wohl sehr witzig, dass all meine Mühe
vergebens war.
Die Ampel springt um. Ich zucke mit der Schulter, gehe weiter. Das Auto
fährt an mir vorüber, der Fahrer verabschiedet sich noch einmal mit der Hupe.
20 Minuten später, nach einer schönen Portion echten italienischen
Speiseeises, bummeln wir wieder am Papierkorb vorüber.
„Sieh mal, Ulla, die Jacke ist weg!“
„Das hättest du schon heute Mittag haben können“, sagt sie in
verschmitztem Ton.
Vier Wochen später sitzen wir auf Strohballen in einer Freiburger
Scheune. Ein Landwirt hat uns eingeladen zu seinem Scheunenfest. Draußen geht
ein kurzer aber heftiger Regenschauer runter. Alle Gäste, die bis eben noch
draußen waren, suchen nun Schutz in der Scheune. Gegenüber, auf der anderen
Seite der Scheune, stehen etwas erhöht Christa und Gerhard Beckmann.
Ich glaube meinen Augen nicht zu trauen und stoße Ulla an.
„Sieh mal, was Gerhard Beckmann an hat.“
„Wieso, was meinst du?“
„Na, die Jacke!“
Wir müssen lachen. Es ist genau die Jacke, die ich in Rom in den
Papierkorb gestopft habe.
Gerhard kommt rüber zu uns. Wir stellen das Lachen ein.
„Na, habt ihr ordentlich Spaß? Habt tscha tüchtich gelacht.“
„Ach ja“, sag ich, „warst du in letzter Zeit zufällig in Rom?“
„Nee, wieso?“
„Nur so!“
„Ach so!“
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