„Was darf´s sein, der Herr?“ oder „Junger Mann, was darf´s sein?“
Ich höre die Stimme von Wilhelmine Holst
gelegentlich noch heute, wenn ich den kleinen Bäckerladen in der Hauptstraße
betrete. Dabei ist die gute alte Frau Holst nun schon bald zwei Jahre tot. Sie
war die Seele des Geschäftes und hatte einst mindestens ebenso wie der leckere
Rosinenstuten und Vollkornbrot dazu beigetragen, dass ich diesen kleinen Laden
zu meinem Stammgeschäft machte und in den drei anderen Bäckereien des Ortes nur
gelegentlich einkaufte. Als ich den Laden für mich entdeckte, hatte sich Wilhelmines
Mann bereits zur Ruhe gesetzt und Sohn Heinrich führte die Bäckertradition in
der Backstube fort. Wilhelmine interessierte das Rentenalter weder bei sich noch
bei ihrem Mann herzlich wenig. Ihr Platz
war hinter dem Verkaufstresen. Auch, als Konrad, ihr Mann, verstarb, dachte sie
nicht daran, sich in den inzwischen wirklich wohlverdienten Ruhestand zu
begeben.
Sie wurde 75 Jahre, dann 80 und 85
Jahre. Manchmal machten die Füße es nicht mehr so lange mit. Dann setzte sich
Frau Holst in ihre Küche gleich neben den Laden und verfolgte das Geschehen im
Geschäft durch die geöffnete Küchentür.
Immer, wenn ich den Laden betrat und
Frau Holst nicht hinter der Theke stand, ging mein Blick zur Küchentür. Sah ich
sie dort sitzen, war immer ein Wort zum Wetter oder Tagesgeschehen fällig.
Manchmal heiterte ich sie auch mit einem kleinen Scherz auf und erntete dafür
als Lohn zur Antwort:
„Sie sind ja heute wieder so lustig, Herr
Petersen!“
Frau Holst hatte noch einen weiteren Sohn, der mit seiner Familie im fernen Südafrika lebte.
Gelegentlich, alle paar Jahre, begab sie
sich auf die weite Reise nach Südafrika, um ihre Familie auf der anderen
Erdhalbkugel zu besuchen. Eines Morgens, Frau Holst war schon 90 Jahre oder
zumindest knapp davor, vertraute sie mir mit fast verschwörerischer Stimme an:
„In zwei Wochen reise ich zu meinem Sohn nach
Südafrika.“
„Donnerwetter!“ dachte ich bei mir, „ganz
schön fit die Frau.“
Und dann war sie plötzlich verschwunden.
Mein Standardblick zur Küche zeigte mir ein ums andere Mal, dass
der Platz mit der guten Sicht in den Laden immer noch unbesetzt war. Ich war
schon kurz davor, mir diesen Blickreflex abzugewöhnen, da saß sie wieder auf
ihrem Platz, lachte mich an und sagte:
„Bin wieder zurück, Herr Peters!“
Über die zwei fehlenden Buchstaben
meines Namens ging ich ebenso großzügig hinweg, wie sie.
„Das freut mich aber, dass Sie gesund und munter zurückgekehrt
sind. Ich finde es ja ganz großartig, dass Sie diese lange Reise auf sich
nehmen. Ich glaube, dass es selbst mir schon zu anstrengend wäre. Wie mach Sie
das nur?“
Nun hielt es sie nicht länger auf ihrem
Stuhl. Sie kam zu mir ins Geschäft, strahlte mich an und verriet mir ihr
Geheimnis.
„Ach wissen Sie, Herr Petersen, so
schlimm ist das ja gar nicht. Wenn du in der Luft bist, gibt es erst einmal
etwas zu essen. Dann mach ich ein bisschen die Augen zu. Und dann, meistens so zwischen
Elfenbeinküste und Ghana, steh ich auf und geh ´n büschen auf dem Gang auf und ab. So geht
das dann.“
So war sie, die Wilhelmine Holst.
Praktisch und patent, wie sie viele andere Probleme und Krisen in ihrem Leben
gelöst hat, hat sie sich auch auf der langen Reise von Freiburg an der Elbe
nach Johannesburg zu helfen gewusst.
Nun ist sie tot, meine freundliche
Bäckerin. Ich besuche das Geschäft immer noch wegen Stuten und Brot, nur mein
Blick geht nicht mehr zur Küche. Warum auch? Wilhelmine Holst werde ich da ja
doch nie wieder sehen.
Geblieben ist mir die Erinnerung und,
wenn einmal alles verquer läuft, mache ich es wie Wilhelmine Holst: In Gedanken
gehe ich einfach zwischen Elfenbeinküste und Ghana ein wenig auf dem Gang auf
und ab und, ob du es glaubst oder nicht, meistens hilft es.